Von Alfons Deissler
Vorbemerkungen
Hebr 1,1: „Viele Male und auf vielerlei Weise hat Gott einst zu den Vätern gesprochen …“, gilt zwar ganz allgemein vom „Ersten Testament“, trifft aber in besonderer Weise auf die Geschichte seiner Gottesoffenbarung zu. Die 45 atl. Bücher stellen ein Wachstumsgebilde innerhalb eines ganzen Jahrtausends dar und enthalten zugleich fast alle Gattungen altorientalischer Literatur und sind darum gerade nicht „Katechismustexte“. Dennoch schwingen sie alle um eine Mittelachse mit dem Grundthema: „Gott“ bzw. „JHWH“ (= Jahwe) als der sich dem Gottesvolk Israel in spezifischer Weise Offenbarende. Darauf beruht die Möglichkeit der Ausbildung eines Kanons Heiliger Schriften in je ihrer Endgestalt. Theologisch ist diese kanonische Endgestalt das letztlich Entscheidende. Die voraufgehenden Phasen der Überlieferung sind exegetisch zwar wichtig wie alle in einer Wissenschaft zu erhebenden Vorgegebenheiten, doch die schlußendlich sinnbestimmenden Koordinaten für die theologische Botschaft der Bibel stellt nur der jeweilige Endtext zur Verfügung. Darum erschöpft sich die Aufgabe biblischer Exegese nicht in Detail-Analysen – sie fallen trotz des Konsenses im Methodenkodex erstaunlich verschieden aus! –, sondern sie muß sachgerecht zugleich zu einer Synthese kommen und darüber hinaus auch die „Wirkungsgeschichte“ der Endgestalt der Texte ins Auge fassen.
Synthese bedeutet nicht einfachhin abendländische Systematik. Diese hat in der Theologiegeschichte leider die Hl. Schrift zumeist nur als Steinbruch für ihr „Lehrgebäude“ benützt, wiewohl sie von einer „Offenbarung in Entfaltung“ (revelatio in fieri) sprach. Andererseits ist jedoch nicht zu verkennen, daß die zum Kanon sich zusammenschließenden Schriften dem nachexilischen „Israel“ während des letzten Halbjahrtausends eine in der Zusammenschau stimmige Gottesbotschaft boten, die der JHWH-Gemeinde je und je zu spezifischer Identitätsfindung inmitten der Völkerwelt verhalf. Sie soll im folgenden in ihren Wesenslinien skizziert werden.
1. Der alleinzige Gott
Der biblische Monotheismus, wie er seit dem 6. Jh. in klaren Konturen zu Israels Glaubensmitte gehört, ist das Endgebilde einer längeren Offenbarungsgeschichte. Diese selbst ist allerdings schwer aufhellbar, wie die sehr verschiedenartigen Hypothesen der „Monotheismusforschung“ der letzten 20 Jahre in ihrer vielfachen Widersprüchlichkeit aufweisen. In der Frühphase geht es weder in der Vätergeschichte noch in der Mosezeit um einen „theoretischen Monotheismus“ im Sinne der Leugnung der Existenz anderer Götter. Die Frage der „Vorhandenheit“ von Göttern tritt im hebräischen Denken sowieso hinter die Frage nach ihrer Effizienz zurück (Jer 45,21 und noch 1 Kor 8,5). Der Dekalog, spätestens im Deuteronomium ins Zentrum der JHWH-Offenbarung eingerückt, beginnt nicht mit der Selbstvorstellung: „Ich bin der alleinzige Gott“, sondern stellt den Rettergott (aus Ägypten) in die Mitte der göttlichen Selbstoffenbarung. Dementsprechend ergeht dann die Grundweisung: „Du wirst neben mir keine anderen Götter (ursprünglich wohl: ‚keinen anderen Gott‘) haben.“ Nicht der theoretische, sondern der praktische Monotheismus als Lebensvollzug der Gläubigen charakterisiert den Jahwismus Israels. Mit der Existenz anderer Götter in fremden Ländern und Völkern wurde durchaus gerechnet (vgl. Ri 11,24; 1 Sam 26,19; 2 Kön 3,27; 5,17; Mi 4,5). Die Ausschließlichkeitsforderung ist, unterstrichen durch das nur in Israel vorfindliche Theologumenon vom „eifersüchtigen“ bzw. „eifernden“ Gott (Ex 20,5; Dtn 5,9), in der prophetischen Bewegung ein Zentralthema ihrer Gerichtsverkündigung geworden (zu Elija vgl. 2 Kön 18,39; zu Hosea vgl. Kap. 1-3; 4,11-19; 12,10; 13,4; zu Jesaja vgl. 1,2—4; 6,1-3; zu Zefanja 1,4—6; zu Jeremia 2,4—13; 3,1-13; 7,16-20 u. ö.). Die Propheten gebrauchen für fremde Götter oft spöttisch den Ausdruck „Nichtse“ (vgl. Jer 2,8.18.20 u. a.; Hab 2,18) im Sinne von „Ohnmächtige“ oder nennen sie auch „nichtiger Hauch“ (hebel) (vgl. Jer 2,5.10.15; 16,19 u. a.). Bei Deuterojesaja kommt es schließlich in der großen Glaubenskrise der Exulanten zur feierlichen Selbstprädikation Gottes: „Ich bin JHWH und sonst niemand, außer mir gibt es keinen Gott“ (41,5; vgl. 45,21). Daß Zarathustra bei diesem „dogmatischen“ Monotheismus Pate gestanden habe, ist pure Spekulation. Der biblische Monotheismus ist deshalb ein anderer als der der ägyptischen Aton- und der persischen Zarathustra-Religion, weil er Israel einen Gott vor Augen stellt, der trotz seines weltimmanenten Waltens in Raum und Zeit in seinem eigentlichen Sein und Selbst eine absolut welttranszendente alleinzige Gottheit ohne jedes gottähnliche Gegenüber ist. Dem widerspricht nicht die Vorstellung von einem Hofstaat himmlischer Wesen (vgl. 1 Kön 22,19; Ijob 1,6; 2,1; 38,7; Ps 89,7). Denn diese haben keinen göttlichen Rang, sondern eine reine Dienerfunktion. Selbst die in der Jesaja-Vision vor Gott stehenden und seine Heiligkeit ausrufenden Serafim (6,2f.) müssen vor dem niederschmetternden Glanz des Gottkönigs ihr Angesicht und ihre Gestalt verhüllen. Anders sind die Personifikationen der göttlichen Weisheit (vgl. Spr 8,22ff.; Sir 24,1ff.), des göttlichen Wortes (vgl. Ps 119,89 [hebr., nicht zu korrigierender Text!], Ps 147,15 ff.; Jer 55,11; Weish 16,12) und des göttlichen Geistes (vgl. Hag 2,5; Neh 9,30; Jer 63,10; Weish 1,7) zu werten: sie weisen hin auf die unendliche Lebensfülle, die Gott in seiner engagierten Zukehr zu Welt und Mensch aufscheinen läßt und gewissermaßen mitteilt.
2. Der welttranszendente Gott
Die Existenz auch der höchsten Gottheiten in der Umwelt Israels ist wesentlich ein „In-sein in Welt“. Das geht aus ihren Bezeugungen in den Mythen deutlich hervor. Wenn auch die Bibel das mythologische Sprechen von Gott kennt und gelegentlich als Einkleidungsform für die Darstellung göttlichen Schöpfungs- und Geschichtswaltens auch benützt (vgl. z. B. Gen 2,4ff. oder das mancherlei Texte beherrschende Thema „JHWH als Krieger“!), bleiben Sein und Wesen Gottes bei all seiner Weltbezogenheit ein alles Irdische übersteigendes letztes Geheimnis. Darauf verweist in exemplarischer Weise das Tempelweihegebet Salomos (von einem Theologen der älteren deuteronomistischen Schule redigiert!) in 1 Kön 8,27 mit der uns heute noch beeindruckenden Formulierung: „Die Himmel und die Himmel der Himmel fassen dich nicht, wieviel weniger dieses Haus, das ich gebaut habe!“
Diese Welttranszendenz JHWHs tritt vorab in folgenden Aspekten ans Licht:
a) Die göttliche Existenzweise ist überzeitlich: Die Gottheiten der Mythen unterstehen der Zeitlinie des Entstehens und Vergehens. Mit JHWH verhält es sich anders. Die beiden theologisch gewichtigen Schöpfungserzählungen der Genesis setzen fraglos ein Dasein Gottes „vor aller Zeit“ und „über aller Zeit“ voraus, streichen also das außerbiblisch so bedeutsame Thema „Theogonie“ von vornherein durch. Ps 90,2 bekennt darum folgerichtig: „Ehe die Berge geformt wurden, die Erde entstand und das Weltall, bist du, o Gott, von Ewigkeit zu Ewigkeit.“ Die göttliche Existenzlinie wird hier nach rückwärts und nach vorwärts ins Unendliche ausgezogen. Darum nennt ihn Deuterojesaja „den Ersten und den Letzten“ (44,6; 48,12). Hab 1,12 schließt im ursprünglichen Text für Gott das Sterben aus, von dem die Mythen der Vegetationsgötter erzählen. Nach Ps 29,10 „thront JHWH als König in Ewigkeit“ (vgl. 145,13; 146,10). Der tiefste Grund dafür ist seine „Lebendigkeit in Fülle“ (vgl. Jer 10,10), die durch nichts gemindert werden kann, auch nicht durch das Sündigen der Menschen (Ijob 7,20; vgl. 35,6). Sie ist so unendlich, daß auch niemand sie zu mehren vermag, auch nicht durch Lauterkeit (Ijob 22,2), nicht durch Fasten (Sach 7,5), nicht durch Opfer (Jer 1,11ff. u. ö.). „Leben“ ist Gottes Wesen (vgl. Ps 42,3; Dtn 5,23), das Höchste und Letzte, bei dem er selbst schwört (Am 6,8; vgl. seinen Schwur: „So wahr ich lebe“ in Num 14,21.28; Dtn 32,40; Jer 46,8). Das göttliche Leben ist mit unseren irdischen Zeitmaßen nicht auszumessen: „Denn tausend Jahre sind für dich wie der Tag, der gestern vergangen ist“ (Ps 90,4), und bleibt darum jenseits von allem Werden und Vergehen.
b) JHWHs Wesen ist überkosmisch und darum mit irdischen Kategorien nicht faßbar: Die obersten Götter sind in der Umwelt Israels die Gestirngötter. Der bestimmende Gott ist bei den nomadischen Gruppen der Mondgott, bei den Sedentären vorab der Sonnengott. Kontradiktorisch dazu werden in Gen 1 Sonne und Mond dem Gottesvolk von ca. 500 v. Chr. ab als „großer Leuchter“ und als „kleiner Leuchter“, also als vom transzendenten Gott geschaffene Dinge, dargestellt (Gen 1,16). Das entspricht der Verkündigung Deuterojesajas an die Exulanten in Babylon: „Hebt eure Augen in die Höhe und seht: Wer hat die (Gestirne) dort oben geschaffen? Er ist es, der ihr Heer täglich zählt und herausführt, der sie alle beim Namen ruft“ (41,26). Die weltübersteigende Größe und Macht des Schöpfergottes wird vorab in Jes 40,12-18 der Jahwegemeinde vor Augen gestellt. Darin hören wir die unvergeßliche Botschaft: „Seht, alle Imperien sind wie ein Tropfen am Eimer, sie gelten wie ein Stäubchen an der Waage. Ganze Kontinente wiegen nicht mehr als ein Sandkorn“ (40,15). Konsequent stellt der Prophet die rhetorische Frage: „Mit wem wollt ihr Gott vergleichen und welches Bild an seine Stelle setzen?“ (40,18) Von hier aus ist das für Israel charakteristische Bilderverbot verstehbar als Zeugnis für die Transzendenz Gottes. Es gibt nach Ex 20,4; Dtn 5,8 am Himmel, auf der Erde und in der Unterwelt nichts mit Gott Vergleichbares. Darum sind auch die alles irdische Leben kennzeichnenden Kategorien „männlich“ und „weiblich“ letztlich nicht auf ihn anwendbar. Gewiß mag man ihm in der patriarchalisch-maskulinen Gesellschaft Israels oft als männlichen Patriarchen eingestuft haben, dem man manchmal sogar ein weibliches Gegenstück an die Seite stellte, wie etwa die jüdischen Kolonisten in Elefantine („Anath-Bethel“ bzw. „Anath-Jaho“), doch die Offenbarungstexte selbst stellen JHWH über allen Geschlechtsdimorphismus. Nach Gen 1,28 tragen sowohl der Mann wie die Frau den Adel, sein Abbild und damit sein menschliches DU zu sein. Das Bild von der Gottesehe läßt JHWH zwar nur in der Rolle des Mannes erscheinen, läßt aber keinen sexistischen Schluß auf das göttliche Sein und Wesen zu. Darum können auch Muttergleichnisse als Illustrationen seines Gnadenwaltens auftreten (vgl. Jes 49,15; 66,13). Auch die Personifikationen von Weisheit, Wort und Geist JHWHs enthalten keine geschlechtlich-spezifischen Hinweise. Der vielgebrauchte Titel „Frau Weisheit“ ist als solcher gar nicht belegbar. Auch ihr Gegenstück heißt nicht „Frau Torheit“, sondern „Frau der Torheit“ (Spr 9,13) und meint eine konkrete Frau (vgl. Spr 7,5ff.). Das Wort (dabar) ist im Hebräischen männlich, aber grammatikalisches und physisches Geschlecht sind, was man heutzutage nicht mehr zu wissen scheint, verschiedene Größen. Das gilt auch für die Vokabel „ruach“ (Geist). Sie meint nicht „Geistin“, zumal sie zuweilen auch maskulin verstanden wird (vgl. Num 5,14; Jos 5,1; 2 Sam 23,2; Jes 57,13; Jer4,12; Koh 1,6).
Die Welttranszendenz Gottes ist die große Unterscheidungslehre des Jahwismus gegenüber allen Religionen seiner Zeit und seiner Region. Sie ist religionsgeschichtlich nicht ableitbar. Es gibt auch keine zureichenden innerisraelitischen Erklärungsgründe für dieses singuläre Phänomen. Auf die Frage: „Wie kam Israel, ein kleines, politisch und zivilisatorisch unbedeutendes Volk, zu diesem Gott?“ erscheint nur die vom Jahwevolk selbst gegebene Antwort; „Dieser Gott kam zu Israel“ als evident, weil durch Fakten begründbar.
Da die Welttranszendenz JHWHs seine absolute Unabhängigkeit von Raum und Zeit impliziert, ist gerade sie der ermöglichende Grund dafür, daß dieser Gott in jedem Raum- und Zeitpunkt – so bezeugt das „Erste Testament“ allenthalben – als Seiender und Wirkender präsent ist, wie es Ps 139,7-12 so eindrucksvoll belegt; „Wohin könnte ich fliehen vor deinem Geist, wohin mich vor deinem Antlitz flüchten? Steige ich hinauf in den Himmel, so bist du dort; bette ich mich in der Unterwelt, bist du zugegen. Nehme ich die Flügel des Morgenrots und lasse mich nieder am äußersten Meer, auch dort wird deine Hand mich ergreifen und deine Rechte mich fassen. Würde ich sagen: ‚Finsternis soll mich bedecken, statt Licht soll Nacht mich umgeben‘, so wäre die Finsternis für dich nicht finster, die Nacht würde leuchten wie der Tag, die Finsternis wäre wie Licht“ (vgl. Am 9,1-4).
3. Der personale Gott
Den göttlichen Urgrund alles Werdens und Seins als persönliches Wesen, d. h. als ER und ICH, zu denken fällt aus vielerlei Gründen schwer, wie die Philosophiegeschichte des 19. Jh.s und die aus dem fernen Orient in die westliche Welt einströmenden religiösen Einflüsse aufzeigen. Der Begriff „Personalität“ im philosophisch geklärten Sinn bedeutet jedoch keine Begrenzung der Unendlichkeit Gottes, sondern ihre Potenzierung. Ein Wesen im „Selbststand“, d. h. mit Selbsterkenntnis, freier Selbststeuerung und Innerlichkeit, ist weit mehr als ein bloß „Seiendes“. Wiewohl der Personbegriff aus der menschlichen Selbsterfahrung abgeleitet ist, kann er, weil er ein Selbstverhältnis bezeichnet, ohne Schwierigkeit auf Gott übertragen werden mit der Feststellung: Gott hat als unendliches Wesen sich selbst auf eine unendliche Weise. Man muß deshalb im Sprechen von Gott nicht zum beliebten Begriff „Überpersonalität“ greifen, der eher verunklärend als klärend erscheint.
Der biblische Gott ist also nicht ein allumfassendes, unendliches ES, auf das man nur den Begriff „Das Göttliche“ anwenden könnte, er ist auch nicht nur „das Sein selbst“ (ipsum esse), sondern JHWH ist ein ER (nicht geschlechtlich zu denken!) und ein ICH, also ein SELBST schlechthin. Das wird am evidentesten offenbar in der Bezeugung seines Sprechens. Personales Sein und Leben findet ja im Sprechen seine Wesensäußerung. In ihm werden zugleich Erkenntnis und Weisheit, Freiheit und Willensentscheidung transparent. Bei den Propheten gewinnt dieses im Sprechen sich äußernde Zeugnis personalen Seins die Form des Gottesspruches (= Botenspruches), in welchem das ICH Gottes redendes Subjekt und der Mensch angesprochenes DU ist. Die personale Souveränität des sprechenden Gottes zeigt sich manchmal schon in der Form des Gottesspruches an, wie z. B. in Ex 33,19: „Ich neige mich gnädig, dem ich mich gnädig neige; ich erbarme mich dessen, dessen ich mich erbarme“, oder in Ex 3,14: „Ich bin da, der ich da bin“ (vgl. auch Joh 19,22). Darüber hinaus wird inhaltlich die souveräne Entscheidungsfreiheit JHWHs vielfach direkt ausgesprochen, exemplarisch in Jes 46,10: „Ich sage: mein Plan steht fest; was mir gefällt, das vollführe ich.“
Einige Texte der Propheten gewähren sogar einen Einblick in Gottes inneres, d. h. personales Leben, wie etwa Hos 11,8: „Wie könnte ich dich preisgeben, Efraim, wie dich aufgeben, Israel … Mein Herz wendet sich gegen mich, mein Mitleid lodert auf“, oder Jer 30,20: „Ist mir denn Efraim so ein teurer Sohn oder mein Lieblingskind? Denn sooft ich ihm drohe, muß ich doch immer wieder seiner gedenken. Darum schlägt mein Herz für ihn: Erbarmen, erbarmen muß ich mich seiner.“
4. Der Gott der „Selbstüberschreitung“ auf Welt und Mensch hin
Die weltüberschreitende Alleinzigkeit Gottes gehört zwar zur zentralen Botschaft des „Ersten Testamentes“, doch erfährt dieses Kerygma seine Überbietung durch das, was man als Mittelachse aller biblischen Selbstoffenbarungen Gottes bezeichnen könnte: Der weltübersteigende und darum absolut freie Gott hat in seiner grenzenlosen Selbstverfügbarkeit sich dazu bestimmt, sein „Selbst“ zu übersteigen auf Welt und Mensch hin, nicht um über sich und seine unendliche Lebensfülle hinaus auch noch Welt und Mensch zu haben, sondern daß Welt und Mensch seien und in ihm ihre Fülle fänden. Diese „Selbsttranszendenz“ Gottes ist das in vielen Variationen durchgespielte Thema aller biblischen Bücher, das sie bei all ihrer Verschiedenheit im tiefsten eint und trotz aller Dissonanzen im letzten stimmig macht.
Die Botschaft von dieser „Selbstüberschreitung“ Gottes ist für Israel im Gottesnamen JHWH am dichtesten gebündelt. Über die Vorgeschichte dieses Namens weiß man bis heute trotz einer Menge vorgebrachter Hypothesen nichts Sicheres. Daß es eine Vorgeschichte gab, deutet die Bibel an in Gen 4,26: „Damals begann man den Namen JHWHs auszurufen“ (vgl. auch Jo-kebed = Name der Mutter des Mose in Ex 6,20 [P!]). Ein vorisraelitisches Vorkommen des Namens ist nach einigen außerbiblischen Funden gerade für das Sinai-Gebiet wahrscheinlich. Doch wurde für Israel erst die Namensoffenbarungsperikope von Ex 3 (E) verbindliche Glaubensurkunde.
Dies wird auch durch Ex 6,2ff. (P) bestätigt. Danach ist JHWH in mosaischer Zeit der Offenbarungsname Gottes schlechthin und für immer geworden. Daß Ex 3,14 („Da antwortete Gott dem Mose: ‚Ich bin da, der ich da bin‘ … Der ‚Ich bin da‘ hat mich zu euch gesandt“) später anzusetzen ist, tut dem theologischen Gewicht des Verses keinen Abbruch. Zumindest hat das Israel des letzten halben Jahrtausends v. Chr. Gott seine freie „Selbstoffenbarung“ als JHWH (d. h. als „Gott für uns“) geglaubt und darauf in allen Gezeiten und Situationen seine Existenz als Bundesvolk JHWHs gebaut. Da das „Ich bin da“ (vgl. zu dieser Zusage auch schon Hos 1,8) im Hebräischen zugleich „Ich werde da sein“ (vgl. Jes 52,8) bedeutet, hat man in der Anrufung und Ausrufung des Namens JHWH (vgl. Ex 3,15) zugleich in die Zukunft geschaut und dabei erahnt, daß JHWH selbst die „letzte Zukunft“ ist. Erwählung und Bund – die Sache, die damit gemeint ist, beginnt bereits mit der Erzvätergeschichte! – erfließen aus der Israel zugeschworenen Selbstbindung Gottes an sein JHWH-Sein (vgl. Gen 15,7ff.). Seine engagierte Zukehr zu Welt und Mensch haben insbesondere die Propheten dem Gottesvolk in vielfachen Bildern, die in der menschlichen Erfahrung und Lebenswelt ihre Wurzel haben, verkündet:
a) JHWH ist wie ein Vater: So stellt er sich Israel vor in Hos 11,1 (vgl. Ex 4,4), Jes 1,2; 63,16; 64,7; Jer 3,4.19; 31,9.20; Mal 1,6; 2,10 (vgl. auch Dtn 1,31). Darum wird er zum Vater der Könige (2 Sam 7,14; Ps 89,27), der Waisen (Ps 68,6), der Gottesfürchtigen (Ps 103,13), der Gerechten (Weish 2,16), der Menschen überhaupt (Ijob 31,18). Die vielen theophoren Personennamen, die „āb“ (= Vater) als Element enthalten, bezeugen, wie stark der Glaube, daß Gott „Vater“ sei, das Bewußtsein Israels prägte.
b) JHWH ist wie eine Mutter: Die Väterlichkeit JHWHs ist nicht als einseitig-männliches Patriarchentum zu deuten. Hinter dem Vaterbild scheinen schon in Hos 11,1ff. die Konturen der „Mutter“ auf (vorab in V. 4). Dies gilt auch für Jes 31,20 (das Wort „Erbarmen“ hat im Hebräischen die Konnotation „Mütterlichkeit“!). Der Gottesspruch Jes 49,15 ergeht direkt in einem Muttergleichnis: „Vergißt eine Frau ihr Kind, eine Mutter den Sohn ihres Schoßes? Wenn sie auch seiner vergäße, ich vergesse deiner nicht“ (zur Zionsgemeinde gesprochen). Desgleichen verkündet Jes 66,13: „Wie eine Mutter ihren Sohn tröstet, werde ich euch trösten.“ Schon hinter dem Vorwurf des Mose gegenüber Gott in Num 11,12 (JE) steckt der Gedanke, daß JHWH Israel „im Schoß getragen und geboren hat“, und Dtn 32,18 spricht kühn vom ,,Felsen“, der Israel „geboren“ und „gekreißt“ hat.
c) JHWH als „Gemahl“: Hosea hat den Auftrag, den kanaanäischen Mythos von der „Gottesehe“ aufzugreifen und ihn umzugestalten zur Botschaft, daß JHWH seinen Bund als Ehebund zwischen Gott und Gottesvolk betrachtet. Danach ist Bundesbruch „Ehebruch“ (Kap. 1). Doch Gott verheißt Israel eine erneuerte „Gottesehe“ (2,16f. und vorab 2,18-25 mit eschatologischem Ausblick). Das hoseanische Ehegleichnis wird zunächst von Jesaja aufgenommen, freilich nur kurz (5,1), dann von Jeremia in 2,2; 3,1-13 und hierauf von Ezechiel (vorab Kap. 16 und 23), schließlich von Deuterojesaja (Kap. 54) und von Tritojesaja (61,10f.; 62,4f.). Auch das Hohelied preist nach früh-jüdischem Verständnis den Liebesbund JHWH / Israel.
d) JHWH als „Guter Hirte“: „Hirt“ ist gesamtorientalisch ein früher Titel für die Könige. Der Gedanke der Fürsorglichkeit steht dabei im Vordergrund. In Israel scheint man früh JHWH als Hirten betrachtet zu haben (vgl. Gen 48,15 [E]: Jakobs Anrufung „Mein Hirte von Jugend an“). Hirt Israels ist JHWH in Jer 23,3; Zef 3,19; Mi 2,12; 4,6f.; 7,14 (Nachträge), Jes 40,11; 49,9f., vorab aber in Ez 34, wo JHWH die Zusage gibt: „Das Verirrte werde ich suchen, das Versprengte heimführen, das Verletzte verbinden, das Kranke stärken und das Fette und das Starke behüten. Ich werde sie weiden und für sie sorgen nach rechter Hirtenart“ (V. 16). Von diesen prophetischen Zusagen inspiriert, dichtete der Autor von Ps 23 seinen exemplarischen Vertrauenspsalm.
e) JHWH als „König“: Im Alten Orient sind irdisches und göttliches Königtum eng verbunden. Es impliziert in beiden Bereichen den Grundgedanken: Macht gegen das Chaos zur Herstellung eines Kosmos als eines gesicherten Lebensraumes. In Israel scheint der Titel „König“ JHWH zuerst in Jerusalem zugesprochen worden zu sein. Jedenfalls kennt der Jerusalemer Jesaja den Titel (6,5; vgl. auch Jes 8,19). Einzelne der Jahwe-König-Psalmen (47; 93; 96-99) könnten noch auf die Jerusalemer Tradition zurückgehen. Doch in den Vordergrund rückt die Feier der Königsherrschaft JHWHs erst im Exil. Dabei erhält der Gedanke den Akzent, daß JHWH, der in der Schöpfung der Welt schon seine Königsmacht bewiesen hat, in Zukunft auch dem „Chaos der Geschichte“ ein Ende bereiten wird. So verkündet Ezechiel den Exulanten in 20,33f.: „Mit starker Hand und gerecktem Arm und ausgeschüttetem Grimm will ich König sein über euch und will euch aus den Völkern herausführen und den Ländern, wohin ihr zerstreut worden seid.“ Bei Deuterojesaja wird dieses Thema zu einem zentralen Kerygma. Königtum JHWHs äußert sich dabei vorab in seinem Erlöser-Sein (vgl. 43,14f.; 44,6). Geradezu hymnisch wird diese „königliche“ Erlösung in 52,6-10 verkündigt: „Mein Volk soll an jenem Tag meinen Namen erkennen und wissen, daß ich es bin, der spricht: Ich bin da! Wie willkommen sind auf den Bergen die Schritte des Freudenboten, der ‚SCHALOM‘ ankündigt, der eine frohe Botschaft bringt und Rettung verheißt, der zu Zion spricht: Dein Gott ist König“ (V. 6-7). Die folgenden Verse schildern den Jubel Jerusalems, der darüber ausbrechen wird, daß „der Herr sein Volk tröstet und Jerusalem erlöst“ und daß „alle Enden der Erde das Heil unseres Gottes schauen“. Die sicher nachexilischen Psalmen 96 und 98 weiten den Horizont dieser Verheißung in die letzte Zukunft aus, in welcher JHWH sein Königtum in der ganzen Völkerwelt offenbar machen und endgültig unter dem Jubel aller Länder der Welt auf Erden durchsetzen wird. Diese JHWH-König-Botschaft ist darum auch von Jesus als Frohbotschaft verkündet worden (Mk 1,14, erstes seiner Heilsworte!).
5. JHWH als Schöpfer des Universums
Israel hat „seinen“ Gott zuvorderst als „Gott der Geschichte“ erfahren. Die Rettung der Mose- Gruppe – sie ist das „qualitative“, nicht das „quantitative“ Bundesvolk! – am Schilfmeer (und damit die Heraus- und Heraufführung aus Ägypten) ist die göttliche Großtat, die in der Mitte des Glaubens und des Kultes steht (vgl. Am 2,10; 3,19.7; Hos 12,10; 13,4; Mi 6,4 und die Selbstvorstellung JHWHs in der Bundescharta des Dekalogs). Doch Israel lebte von Anfang an in einer religiösen Umwelt, deren Mythen – sie sind ihr erzählendes „Credo“, das ihren Glauben und Kult bestimmt – den Kosmos zu ihrem Grundthema machten. Darum war spätestens nach der Landnahme die Frage fällig, wie es mit JHWH im Verhältnis zum Universum stehe. Diese Frage wurde zuerst, soweit wir sehen, in der jahwistischen Schöpfungserzählung (Gen 2,4-24) für Israel beantwortet. Dabei mögen die Jerusalemer Theologen an die Bezeichnung des kanaanäischen Hochgottes EL, der u. a. auch die Titel „Schöpfer der Geschöpfe“, „Vater der Menschen“ und „Schöpfer der Erde“ (vgl. Gen 14,19) trug, angeknüpft haben. Das Entscheidende aber ist, daß hier JHWH, der Offenbarungsgott Israels, als „Macher“ von Erde und Himmel, von Pflanzen, Tieren und Menschen auftritt.
Diese Glaubensüberzeugung konnte Deuterojesaja in der Krisensituation des Exils zur Basis nehmen, um den am „Gott der Geschichte“ Zweifelnden neuen Glauben und neues Vertrauen zu vermitteln. Darum verweist er immer neu auf die im Kosmos wirksame Schöpfermacht JHWHs (vgl. 40,12ff.; 40,26; 42,5; 44,24; 45,12; 48,13; 51,13). Der Prophet verwendet zur Bezeichnung des göttlichen Schöpfungsaktes zwar auch handwerkliche Begriffe wie Gen 2,4ff., jedoch mehrfach auch den wohl erst in der Exilszeit entstandenen Terminus technicus bärä’, der nie von Menschen ausgesagt wird und ein in singulärer Weise vor sich gehendes göttliches Schaffen bezeichnet. Die Vokabel ist aber bei Deuterojesaja keineswegs nur auf die Anfänge des Universums bezogen, sondern auch auf Werke in der Geschichtslinie, wie etwa die „Erschaffung“ Israels (42,1.15), der einzelnen Israeliten (43,7) oder die Umschaffung der Wüste zu blühendem Land (41,20). Exemplarisch für diese Perpetuierung des göttlichen Schaffens ist Jes 45,7: „Ich erschaffe das Licht und mache das Dunkel, ich bewirke das Heil und erschaffe das Unheil. Ich bin JHWH, der alles vollbringt“ (vgl. auch 45,8). Am Ende dieses schöpferischen Waltens wird nach Jes 65,17f. JHWH einen neuen Himmel und eine neue Erde „erschaffen“ und Jerusalem in Jubel „umschaffen“.
Der Schöpfungstext Gen 1,1-2,4, dessen Endform eine durch Zahlen strukturierte Erzählung ist und aus Priesterkreisen im Exil stammt, ist das klassische Zeugnis der biblischen Schöpfungsbotschaft geworden. Das spezifische Verbum bārā’ begegnet dabei siebenmal, davon dreimal bei der Erschaffung des Menschen. Am bedeutsamsten aber ist, daß hier der Schöpfungsakt als kreatives göttliches Sprechen vorgestellt wird, wie schon vereinzelt bei Deuterojesaja (vgl. 48,13; 55,11). Sicher ist wenigstens im Endtext gemeint, daß auch das durch Verben des Tuns dargestellte Schaffen Gottes („Tatbericht“!) auf sprechende Weise erfolgte. Damit wird einerseits alles Emanationsdenken („Welt aus Göttlichem erflossen“) und andererseits jede dualistische Weltdeutung (Zarathustra-Lehre!) abgewiesen. In dieser Perspektive stammen alle Schöpfungsbereiche zwar aus Gottes Innerem, werden aber dennoch von ihm unterschieden.
Gen 1 arbeitet mit der Gottesbezeichnung ’elōhīm, weil die Offenbarung des Namens auch in P erst mosaisch angesetzt wird (vgl. Ex 6,2ff.). Dennoch ist zweifelsfrei der Bundesgott Israels damit gemeint. Darum hat die Endredaktion von Gen 2,4ff. den Schöpfer auch als JHWH-Elohim bezeichnet. Deshalb kann Ps 39,9 lapidar bekennen: „JHWH sprach, und sogleich geschah es; er gebot, und alles war da.“ In Ps 104, dem großen Hymnus auf den Schöpfergott, ist der Bundesgott JHWH ganz selbstverständlich der Handelnde und Waltende. Aus alldem geht zweierlei hervor: a) Das Schöpfungshandeln Gottes entspringt nicht nur seiner Allmacht und Weisheit, sondern auch seinem bundeswilligen Engagement. Sein „Überstieg“ über sich selbst geschieht also in einem einzigen leuchtenden Bogen, der Schöpfung und Menschengeschichte zusammenschließt. Darum muß die theologisch so beliebte Trennung von „Schöpfungsordnung“ und „Erlösungsordnung“ relativiert werden, b) Neben der creatio prima gibt es eine creatio continua, also nicht nur eine „Vorsehung“. Das Sprechen Gottes wirkt schöpferisch weiter sowohl in der Natur (vgl. Jes 9,7; 40,26; 50,2f.; Ps 147,15-18; 148,8; Ijob 37,5-13) wie in der Geschichte (vgl. Jes 55,11; Ps 106,9; 107,20.25; Weish 18,14ff.). Darum kann der Psalmist von Ps 139 die Schöpfung des Menschen auch auf sich selbst beziehen: „Du hast mein Inneres geschaffen, mich gewoben im Schoß meiner Mutter. Ich danke dir, daß du mich so wunderbar gestaltet hast. Ich weiß: staunenswert sind deine Werke“ (V. 13f.).
6. Die dunklen Aspekte im „Gottesbild“ des Ersten Testamentes
Das Allwalten JHWHs als des alleinzigen Gottes steht aus der biblischen Offenbarung für Israel fest (vgl. Klgl 3,37f.; Koh 7,14). Dieser Glaube ist auch durch einen Prophetenspruch am Ende des Kyrus-Orakels in Deuterojesaja untermauert: „Ich bewirke das Heil und erschaffe das Unheil. Ich bin JHWH, der das alles vollbringt.“ Die Erfahrung von Natur und Geschichte belegt, daß in beiden Bereichen das Übel – das physische und das moralische – eine schwerwiegende Rolle spielt und dies insbesondere im einzelnen Menschenleben. Die altorientalische und partiell auch die biblische Weisheit (vgl. z. B. Spr 10-22) haben die Lösung vorab darin gesucht, daß man einen „Tun- Ergehens-Zusammenhang“ statuierte, für den neben der Überzeugung, daß eine verborgene Gerechtigkeitsordnung letztlich das All durchwalte, auch viele Lebenserfahrungen plädierten. In Israel kam als Urgrund allen Geschehens nur das persönliche Walten JHWHs in Betracht, und die Frage nach der „Gerechtigkeit“ mußte an ihn gerichtet werden. War er nicht auch ein willkürlich handelnder Gott, der Unheil verhängte auch über Unschuldige?
Zunächst muß im Blick auf diese Problemlage festgestellt werden: Die „Allursächlichkeit“ Gottes hebt nach der Bibel die Freiheitsentscheidungen der Menschen nicht auf. Instruktiv dafür ist die Beschreibung der Verstocktheit des Pharao in Ex 9. Sie erfährt in 9,12 die Deutung: „JHWH verstockte das Herz des Pharao.“ 9,34 jedoch sagt: „Der Pharao verstockte sein Herz.“ Diese ,.Dialektik“ (vgl. Thomas v. Aquin mit seiner Formel: „Gott bewegt den menschlichen Willen als freien“!) wird in der ganzen Offenbarung durchgehalten. Darum werden – im Gegensatz zu den Umweltreligionen! – die prophetischen Gerichtstexte immer rhit der Anklage der feststellbaren Schuld Israels begründet. „Richten“ bedeutet dabei jedoch nicht nur „strafen“, sondern zugleich: eine Sache ins Richtige stellen, ins Lot bringen. Das Richtscheit ist bei den Propheten durchwegs die im Dekalog formulierte Willensoffenbarung JHWHs, die auf das Gelingen und Glücken des JHWH-Volkes hin orientiert ist. Das „Kollektiv“ ist hier angesprochen und in eine Entscheidung gestellt, die so formuliert werden kann: Wenn Bundestreue, dann Segen; wenn Bundesbruch, dann Durchbruch ins Unheil (= Raster der deuteronomistischen Geschichtsschreibung).
Gilt dieses Prinzip auch auf individueller Ebene? Offensichtlich in vielen Fällen nicht. Darum kann Jeremia anklagend vor JHWH treten: „Warum haben die Frevler Erfolg, weshalb können die Abtrünnigen sorglos sein? Du hast sie eingepflanzt, und sie schlagen Wurzeln, sie wachsen heran und bringen auch Frucht“ (12, lf.).
Für unschuldig Unheil erleidende Menschen wird diese Frage bereits im AT zu einem fundamentalen Glaubensproblem. Vorab das Buch Ijob nimmt das Problem ganz ernst und nimmt sich zugleich seiner an. Das Fazit aus der Lehrerzählung vom „Ägyptischen Josef“: „Ihr habt Böses wider mich geplant, Gott aber hat es umgeplant zum Guten“ (Gen 50,20) war, wie das Leben bewies, kein Generalschlüssel für die Lösung der Leidensfrage, wie bedeutungsvoll und richtungweisend dieses Wort auch für viele Einzelfälle sein mag. Der Verfasser von Ijob sah die Kluft, die sich auftat zwischen dem Glaubenssatz: „Gott ist Güte“ und dem unsäglichen Leid vieler, die keineswegs Sünder waren. Aus dem anfänglichen „Dulder“ („JHWH hat gegeben, JHWH hat genommen, gelobt sei der Name JHWHs!“ [1,21] – „Nehmen wir das Gute an von Gott, sollen wir dann nicht auch das Böse annehmen?“ [2,10]) wird im Hauptteil des Buches der rebellische Ankläger Gottes. Er wendet sich nicht nur gegen die dogmatisch argumentierenden und eine rigide Vergeltungslehre vertretenden „Freunde“, sondern macht Gott selbst als seinem „grausamen Feind“ (30,21) auf der Ebene von gleich zu gleich den Prozeß. Gott schweigt zunächst. Doch ab Kap. 38 stellt er (jetzt JHWH genannt!) ihn in einer weiträumigen (zweiphasigen, aber dennoch zusammenhängenden) Antwort zur Rede. Jetzt wird Ijob zum eindringlich Befragten, der verstummt. Die großen Schöpfungs- und Geschichtsgeheimnisse werden vor ihm ausgebreitet, zu denen auch „Behemot“ (40,15) und „Leviatan“ (40,25) zählen (= mythische Ungeheuer, wiewohl sie mit Anspielungen auf Nilpferd und Krokodil beschrieben werden). Gegen sie vermag Ijob nicht anzugehen, vermag sie auch nicht zu ergründen, während JHWH als der übergewaltige Herr der Schöpfungs- und Geschichtsmächte aufscheint. Damit wird Ijob, darin zugleich Repräsentant der Menschen überhaupt, der prometheischen Hybris überführt, weil er über Klage und Anklage hinaus – sie werden durch viele Bibeltexte legitimiert! – sich zum Richter über JHWH aufzuschwingen versuchte. Die erste Antwort Ijobs auf die göttliche Befragung („Ich bin zu gering. Was kann ich dir erwidern? [40,4]) zeigt eine Wende an; die zweite (42,1 ff.) ist ein formeller Widerruf dessen, daß er „im Unverstand geredet hat über Dinge, die zu wunderbar und zu unbegreiflich sind“ (42,3).
Eine theoretische Lösung des Leidensproblems in dieser Welt wird im Buch Ijob nicht gegeben. Doch in ihm gibt der Offenbarungsgott davon Zeugnis, daß er in aller scheinbaren Abwesenheit allen Leidgeprüften nahe, ja sogar für eine personale Begegnung mit ihnen anerbötig offen ist. Gottes selbsternannten „Advokaten“ („den Freunden“ Ijobs) aber wird es als Schuld angerechnet, daß sie das göttliche Walten in das Gitterwerk ihrer weisheitlichen „ethischen Standards“ zu zwängen versuchten.
Die Theodizeefrage, wie sie von der Bibel selbst schon aufgeworfen wird, läßt erkennen, daß der Blick auf den „Gott der Offenbarung“ nicht nur Helles erschaut. Diese Dunkelheit löscht aber die Lichter nicht aus, die Gott selbst im Offenbarungsgang (revelatio in fieri!) für Israel und alle, die dem Gott Israels glauben (vgl. Gen 15,6), zum Geleit beim „Wandern in der Geschichte“ angezündet hat. Freilich finden sich über die Theodizeeproblematik hinaus im „Gottesmosaik“ des „Ersten Testamentes“ selbst auch Vorstellungen, die besonders dem heutigen Menschen als inakzeptabel erscheinen. Insbesondere die Metapher „JHWH als Kriegsgott“ erregt immer neu Anstoß. Sie ist vorab in den geschichtlichen Überlieferungen Israels anzutreffen und wird dabei öfter als „Gotteswort“ qualifiziert. Das ist ein gemeinorientalisches Phänomen. So heißt es z. B. auf der moabitischen Mescha-Stele (um 850 v. Chr.): „(Der Gott) Kamosch“ sprach zu mir: „Gehe, erobere Nebo gegen Israel!“ (2,14) Dann wird die erfolgreiche Durchführung des „Befehls“ erzählt. In solchen Erzählungen werden die markierenden geschichtlichen Ereignisse auf Eingebungen des Gottes gedeutet und mit „Der Gott sprach“ formuliert. Authentisches prophetisches Sprechen Gottes wird damit nicht behauptet. Hierzu kommt bei der „Landnahme“ Israels, daß historisch eine Ausrottung der Kanaanäer nicht stattfand. Das Buch der Richter, das den Ereignissen noch näher stand, verneint sie für eine Reihe von Städten (vgl. Ri 1,19.21.27-35), was die Archäologie bestätigen konnte. David hat bei der unblutigen Einnahme Jerusalems die kanaanäischen Jebusiter geschont, wußte also nichts von einem göttlichen Ausrottungsbefehl. Die Kriege der Richterzeit, von den israelitischen Stämmen im Sinne der gemeinorientalischen Institution des „heiligen Krieges“ aufgefaßt und geführt, waren in der Hauptsache Verteidigungskriege. Das Buch Josua, auf das man immer wieder rekurriert, ist kein Geschichtsbuch, sondern ist unter generalisierender Aufnahme einiger Überlieferungen eine Lehrschrift darüber geworden, daß der „Kanaanismus“ Israels ein gottwidriger Anlaß zum Verlust des Landes geworden ist, wie auch das Deuteronomium Israel lehrt (Kap. 1-11). Wo bei den Propheten JHWH – sie nennen ihn gern JHWH-tsebā’ot (= „Jahwe der Mächte“) – ein kriegerisches Kolorit erhält, geht es in den echten Prophetentexten fast immer um den „Krieg“ des Bundesgottes gegenüber seinem bundesbrüchigen Israel. Das manchmal Grelle der Farben in den einschlägigen Gerichtsreden entspricht dabei der gemeinorientalischen Ausdrucksweise. Die Androhungen sollen das Volk bzw. seine Verantwortlichen vom Rande des Abgrunds zurückreißen. Der dabei auftretende „Zorn JHWHs“ ist eine Illustrierung des Engagements Gottes für das Glücken Israels und des radikalen Ernstes seiner Zuwendung zu ihm. JHWHs wahre Intention wird exemplarisch in Ez 18,31f. bezeugt: „Werft alle Vergehen von euch, die ihr verübt habt! Schafft euch ein neues Herz und einen neuen Geist! Warum wollt ihr sterben, ihr vom Haus Israel? Ich habe doch kein Gefallen am Tod des Sterbenden. Kehrt um, damit ihr am Leben bleibt!“ Warum aber überwiegen die Droh- und Gerichtstexte bei den Propheten? Weil sie in die Situation des so häufigen Bundesbruches Israels gesandt wurden. Sie setzten dabei voraus, daß dem Volke fort und fort in Kult und Familie die Frohbotschaft vom Rettergott JHWH verkündigt worden war (vgl. den Vorspruch bzw. ersten Teil des Dekalogs). Sie steht in der biblischen JHWH-Offenbarung immer an der ersten Stelle und muß darum in aller Verkündigung diese Priorität behalten.
Wenn das Numinose in allen Religionen zweipolig ist – ein mysterium tremendum und ein mysterium fascinosum! –, so trifft dies auch für die biblische Offenbarungsreligion zu. Nur ist hier das Faszinosum das je Größere und Gewichtigere. Darum ist der Gott der Bibel nicht getroffen von dem modernen Verdikt: Gott ist die erdrückende Last seiner Gläubigen. Der Offenbarungsgott ist anders. Er ist der Sonne vergleichbar, in deren Orbit der Mensch mehr Mensch wird. Darum steht im Psalter über aller legitimen Klage der lebenspendende Lobpreis.
Lit.: H Schrade, Der verborgene Gott. Gottesbild und Gottesvorstellung in Israel und im alten Orient, Stuttgart 1949: W. Eichrodt, Das Gottesbild des AT (Calwer Hefte), Stuttgart 1956; N. Lohfink, Gott, in: Unsere großen Wörter, Freiburg 1977, 127-144; E. Zenger, Der Gott der Bibel. Sachbuch zu den Anfängen des biblischen Gottesglaubens, Stuttgart 1979; V. Kubina, Die Gottesreden im Buche Ijob, Freiburg 1979; O. Keel (Hg.), Monotheismus im alten Israel und seiner Umwelt, 1980; W. H. Schmidt, Gott, 2. AT, TRE 13, 608-626 (mit reichen Literaturangaben); I. C. de Moor, The Rise of Yahwism. The roots of Israelite Monotheism, Leuven 1990.
Quelle: Johannes B. Bauer (Hrsg.), Bibeltheologisches Wörterbuch, völlig neu bearb. Aufl., Graz-Wien-Köln: Styria, 1994, S. 265-274.