Über die Geschichte (Etymologiae)
Von Isidor von Sevilla
Das antike Verständnis der Geschichtsschreibung in Abgrenzung von Fiktion und Fabel ist dem Mittelalter im wesentlichen durch die Etymologiae des Isidor von Sevilla (ca. 560-633) vermittelt worden:
XLI. Über die Geschichte.
[1] Geschichte ist die Erzählung einer Begebenheit, durch die erkannt wird, was in der Vergangenheit geschehen ist. Auf Griechisch heißt sie „historia“ von historein, das heißt „sehen“ oder „erkennen“. Denn bei den Alten schrieb niemand Geschichte nieder, außer wer selbst dabei gewesen war und gesehen hatte, was aufgezeichnet werden sollte. Denn mit den Augen erfassen wir besser, was geschieht, als mit dem Ohr, was wir hören.
[2] Denn was gesehen wird, wird ohne Lüge berichtet. Diese Disziplin gehört zur Grammatik, weil alles, was des Gedächtnisses würdig ist, in Schrift überliefert wird. Die Denkmäler der Geschichte heißen so, weil sie das Gedächtnis an die geschehenen Dinge überliefern. „Reihenfolge“ wird im übertragenen Sinn so genannt, von den Kränzen der Blumen, die miteinander verflochten sind.
XLII. Über die ersten Verfasser von Geschichten.
[1] Bei uns hat zuerst Moses die Geschichte von der Erschaffung der Welt niedergeschrieben. Bei den Heiden aber war Dares von Phrygien der erste, der über Griechen und Trojaner eine Geschichte veröffentlichte, die – so heißt es – von ihm auf Palmblätter geschrieben worden sei.
[2] Nach Dares wurde in Griechenland Herodot als erster Geschichtsschreiber angesehen. Nach ihm glänzte Pherekydes, zu der Zeit, als Esra das Gesetz niederschrieb.
XLIII. Über den Nutzen der Geschichte.
[1] Die Geschichten der Völker schaden den Lesern nicht, soweit sie Nützliches enthalten. Viele Weise haben nämlich die Taten vergangener Menschen in Geschichten niedergelegt, zur Unterweisung der Gegenwart: Denn durch die Geschichte wird die Gesamtheit der vergangenen Zeiten und Jahre berechnet, und durch die Abfolge der Konsuln und Könige vieles Notwendige erforscht.
XLIV. Über die Arten der Geschichte.
[1] Die Gattung der Geschichte ist dreifach. „Ephemeris“ heißt die Aufzeichnung eines einzigen Tages; das nennt man bei uns „Tagebuch“. Denn was die Lateiner diurnum, das nennen die Griechen ephemeris.
[2] „Kalender“ nennt man, was auf die einzelnen Monate verteilt wird. „Annalen“ sind die Taten einzelner Jahre.
[3] Alles also, was des Gedächtnisses würdig ist, sei es im Krieg oder im Frieden, zu Wasser oder zu Land, und Jahr für Jahr in Aufzeichnungen festgehalten wird, nannte man nach den jährlichen Begebenheiten „Annalen“.
[4] „Geschichte“ aber ist die Darstellung vieler Jahre oder Zeiten, deren jährliche Aufzeichnungen mit Sorgfalt in Büchern gesammelt sind. Zwischen Geschichte und Annalen ist dies der Unterschied: Geschichte umfasst die Zeiten, die wir selbst gesehen haben; Annalen aber diejenigen Jahre, die unser eigenes Zeitalter nicht kennt. Daher besteht Sallust aus Geschichte, Livius, Eusebius und Hieronymus aber aus Annalen und Geschichte.
[5] Ebenso ist zu unterscheiden zwischen Geschichte, fiktive Erzählung (argumentum) und Fabel. Geschichte enthalten die wahren Dinge, die geschehen sind; fiktive Erzählungen enthalten Dinge, die zwar nicht geschehen sind, aber doch geschehen könnten; Fabeln aber enthalten Dinge, die weder geschehen sind noch geschehen könnten, weil sie gegen die Natur sind.
Hier der lateinische Originaltext:
XLI. DE HISTORIA. [1] Historia est narratio rei gestae, per quan ea, quae in praeterito facta sunt, dinoscuntur. Dicta autem Graece historia APO TOU ISTOREIN, id est a videre vel cognoscere. Apud veteres enim nemo conscribebat historiam, nisi is qui interfuisset, et ea quae conscribenda essent vidisset. Melius enim oculis quae fiunt deprehendimus, quam quae auditione colligimus. [2] Quae enim videntur, sine mendacio proferuntur. Haec disciplina ad Grammaticam pertinet, quia quidquid dignum memoria est litteris mandatur. Historiae autem ideo monumenta dicuntur, eo quod memoriam tribuant rerum gestarum. Series autem dicta per translationem a sertis florum invicem conprehensarum.
XLII. DE PRIMIS AVCTORIBVS HISTORIARVM. [1] Historiam autem apud nos primus Moyses de initio mundi conscripsit. Apud gentiles vero primus Dares Phrygius de Graecis et Troianis historiam edidit, quam in foliis palmarum ab eo conscriptam esse ferunt. [2] Post Daretem autem in Graecia Herodotus historiam primus habitus est. Post quem Pherecydes claruit his temporibus quibus Esdras legem scripsit.
XLIII. DE VTILITATE HISTORIAE. [1] Historiae gentium non inpediunt legentibus in his quae utilia dixerunt. Multi enim sapientes praeterita hominum gesta ad institutionem praesentium historiis indiderunt, siquidem et per historiam summa retro temporum annorumque supputatio conprehenditur, et per consulum regumque successum multa necessaria perscrutantur.
XLIV. DE GENERIBVS HISTORIAE. [1] Genus historiae triplex est. Ephemeris namque appellatur unius diei gestio. Hoc apud nos diarium vocatur. Nam quod Latini diurnum, Graeci ephemerida dicunt. [2] Kalendaria appellantur, quae in menses singulos digeruntur. Annales sunt res singulorum annorum. [3] Quaequae enim digna memoriae domi militiaeque, mari ac terrae per annos in commentariis acta sunt, ab anniversariis gestis annales nominaverunt. [4] Historia autem multorum annorum vel temporum est, cuius diligentia annui commentarii in libris delati sunt. Inter historiam autem et annales hoc interest, quod historia est eorum temporum quae vidimus, annales vero sunt eorum annorum quos aetas nostra non novit. Vnde Sallustius ex historia, Livius, Eusebius et Hieronymus ex annalibus et historia constant. [5] Item inter historiam et argumentum et fabulam interesse. Nam historiae sunt res verae quae factae sunt; argumenta sunt quae etsi facta non sunt, fieri tamen possunt; fabulae vero sunt quae nec factae sunt nec fieri possunt, quia contra naturam sunt.
Isidor von Sevillia, Etymologiarum sive originum libri XX, Lib. I, 40-44.