Predigt über Offenbarung 13 (1958)
Von Johannes Hamel
Und ich. sah ein Tier aus dem Meer steigen das hatte zehn Hörner und sieben Häupter und auf seinen Hörnern zehn Kronen und auf seinen Häuptern lästerliche Namen. Und das Tier, das ich sah, war gleich einem Panther und seine Füße wie Bärenfüße und sein Rachen wie eines Löwen Rachen. Und der Drache gab ihm seine Kraft und seinen Thron und große Macht. Und ich sah seiner Häupter eines, als wäre es tödlich wund, und seine tödliche Wunde war heil. Und die ganze Erde verwunderte sich des Tieres, und sie beteten den Drachen an, weil er dem Tiere die Macht gab, und beteten das Tier an und sprachen: Wer ist dem Tier gleich, und wer kann wider es streiten? Und es ward ihm gegeben ein Maul, zu reden große Dinge und Lästerungen, und ward ihm gegeben, daß es mit ihm währte zweiundvierzig Monate lang. Und es tat sein Maul auf zur Lästerung gegen Gott, zu lästern seinen Namen und sein Haus und die im Himmel wohnen. Und ihm ward gegeben, zu streiten wider die Heiligen und sie zu überwinden: und ihm ward gegeben Macht über alle Geschlechter und Völker und Sprachen und Nationen. Und alle, die auf Erden wohnen, beten es an, deren Namen nicht geschrieben sind vom Anfang der Welt in dem Lebensbuch des Lammes, das erwürget ist. Hat jemand Ohren, der höre! Wenn jemand andre in das Gefängnis führt, der wird selber in das Gefängnis gehen; wenn jemand mit dem Schwert tötet, der muß mit dem Schwert getötet werden. Hier ist Geduld und Glaube der Heiligen!
Und ich sah ein zweites Tier aufsteigen von der Erde, das hatte zwei Hörner gleichwie ein Lamm und redete wie ein Drache. Und es übt alle Macht des ersten Tieres vor ihm, und es – macht, daß die Erde und die darauf wohnen, anbeten das erste Tier, dessen tödliche Wunde heil geworden war. Und es tut große Zeichen, daß es auch macht Feuer vom Himmel fallen auf die Erde vor den Menschen; und verführt, die auf Erden wohnen, durch die Zeichen, die ihm gegeben sind, zu tun vor dem Tier; und sagt denen, die auf Erden wohnen, daß sie ein Bild machen sollen dem Tier, das die Wunde vom Schwert hatte und lebendig geworden war. Und es ward ihm gegeben, daß es im Bilde des Tieres Geist gab, damit des Tieres Bild redete und machte, daß alle, welche nicht des Tieres Bild anbeteten, getötet würden. Und es macht, daß sie allesamt, die Kleinen und Großen, die Reichen und Armen, die Freien und Knechte, sich ein Malzeichen geben an ihre rechte Hand oder an ihre Stirn, daß niemand kaufen oder verkaufen kann, er habe denn das Malzeichen, nämlich den Namen des Tieres oder die Zahl seines Namens. Hier ist Weisheit! Wer Verstand hat der überlege die Zahl des Tieres; denn es ist eines Menschen Zahl, und seine Zahl ist sechshundertsechsundsechzig. (Offenbarung 13,1-18)
Liebe Brüder und Schwestern!
Wer Ohren hat, der höre!
Vielleicht hat der eine oder andere beim Verlesen dieses Textes sich gewundert: „Was bedeutet das alles, und was soll uns das?“ Nun, eins ist jedenfalls gleich klar: dieser Prophet will warnen: „Wer Ohren hat, der höre!“ Wir Älteren werdens wohl nie ganz los, diese Warnung im Krieg durchs Radio: erst kamen die Kuckucksrufe, dann kam die Ansage: „Feindliche Einflüge in Richtung Mitteldeutschland“, und schließlich heulten die Sirenen. Das alles war dringliche Warnung: „Macht euch fertig, seid bereit, seid gerüstet, damit ihr nicht in der Gefahr umkommt.“ Der Prophet Johannes will die Christenheit seiner Zeit und unserer Zeit wachrufen aus ihrem Schlaf: „Täuscht euch doch nicht über die Gefahr, ihr Ausmaß, ihre Dauer, ihre schweren, schweren Folgen überall da, wo man sich nicht vorher warnen ließ!“ Wer warnt, will ja nicht die Menschen dazu bringen, daß sie hilflos der drohenden Gefahr entgegenstarren, wie das Kaninchen von der Schlange hypnotisiert werden soll, wie man sagt. Der treue Warner sieht, was kommt und was andere nicht sehen können, und will retten. Und alle die werden in der Gefahr bestehen, die sich sagen lassen und sich bereiten. Wer der Enthüllung des Bösen entgegengeht, hat beides bitter nötig: die Warnung vor allem harmlosen Leichtsinn, ja auch vor jeder Verharmlosung der bösen Gewalt, und zugleich den aufrichtenden Zuspruch und Trost zum Ausharren und überwinden. Beides müssen wir heute hören: „Das Dunkel kommt“ und: „Wir gehen durchs Dunkel hindurch!“
Das Tier steigt aus dem Meer
Der Prophet steht gleichsam am Rand des Ozeans und sieht, wie nach und nach ein Ungeheuer aus der Tiefe steigt: erst kommen 10 Hörner heraus, dann — man kann sich das nicht vorstellen — sieben Häupter, schließlich ist das überdimensionale Raubtier ganz sichtbar. Das Böse oder der Böse, bisher unter der Flut verborgen, erhebt sich und stellt sich den Menschen vor. Von dieser Verkörperung des Bösen, denn darum handelt es sich, wird zunächst ein Vierfaches ausgesagt:
Erstens: Das Böse in seiner schrecklichsten Gestalt bricht aus dem Untergrund des Lebens hervor. Lange schien es so, als ob die böse Gewalt und Macht sich zurückgezogen hätte, so wie das Meer ja auch freundlich und friedlich daliegt, bis dann plötzlich sich ein Sturm erhebt und die Flutwellen alle Dämme überspülen und Verderben ins Land tragen. Unberechenbar ist das Meer wie das Leben der Menschheit. Und wenn an der Oberfläche lange alles friedlich und ordentlich zu sein scheint: täuscht euch nicht! Wenn die Stunde da ist, erhebt es sich unvorstellbar, unberechenbar und überfällt die ahnungslose Menschheit.
Zweitens: Die böse Macht ist ungeheuer groß: 10 Hörner hat das Tier, zehn gewaltige Hörner, um wie etwa ein Stier alles niederzustoßen. Sieben Häupter, nicht nur eines. Das Haupt ist das Zentrum des Leibes, von dem her der Leib regiert wird. Diese Regierungsgewalt des Bösen ist siebenfach gesteigert. Und auf den Hörnern trägt es zehn Diademe: das Böse ist nicht nur mächtig, sondern auch glanzvoll und schön, es gleißt und blendet und hat eine strahlende Anziehungskraft, die in ihrem Glanz imponiert. So wie der Satan sich in einen Engel des Lichts verwandeln kann, so auch sein Gebilde, die böse Macht auf Erden in der Geschichte. Der Böse ist nicht die armselige Figur mit Pferdefuß und Schwanz, über die man lächelt, er hat fürstliche Majestät!
Drittens: Auf seinen Häuptern stehen lästerliche Namen, es tragt Gottes Namen, nicht des Teufels Namen! Ist es schon mit Gott ähnlicher Majestät umkleidet, so nimmt es auch den Namen des Herrn für sich in Anspruch. Es verbirgt sein wahres Wesen hinter dem Namen des lebendigen Gottes, um sich zu tarnen und um zu verführen. Wenn das Böse sich offen atheistisch gibt, so ist seine Gewalt noch leicht erkennbar. Offener Atheismus ist verhältnismäßig eine harmlose Angelegenheit! Aber das Böse in seiner eigentlichen Erscheinung ist getarnt. Es führt Gottes Namen und bezieht sich auf Gott!
Viertens: Dieses Tier ist ein Raubtier in Potenz! Reißend schnell und beweglich wie ein Panther. Bald hier, bald dort lauernd und hervorbrechend, so wie ein Panther aus dem Busch schießt und die Ahnungslosen überfällt! Es hat Bärenpranken, die alles niedertreten, was sich in den Weg stellen könnte. Und es hat einen Löwenrachen: was in diesen Rachen kommt, wird zermalmt, und wenn es feste Knochen sind! Wer kann dem Löwen widerstehen? Das Böse ist wirklich zu fürchten!
Das Tier ist dem Christus zum Verwechseln ähnlich!
So wie Gott seinem Christus Thron, Kraft und Macht gegeben hat, so hat das auftretende Böse seine Vollmacht von einem Größeren erhalten. Es ist, wie der Christus Gottes, gesandt und beauftragt zu herrschen. Hinter ihm steht, wie der allmächtige Vater hinter seinem Sohn, sein Gott, der Drache, der ja nicht erscheint, sondern das Tier auf die Erde sendet zu regieren. Es ist bevollmächtigt.
Vor allem aber: auch das Tier ist durch den Tod hindurchgegangen, wie Jesus Christus gekreuzigt und auferstanden ist! Auch um das in Erscheinung tretende radikal Böse liegt das Wunder des Durchgangs durch den Tod, durch den völligen Mißerfolg, durch die anscheinend endgültige Niederlage. Laßt mich einen Augenblick von Hitler reden, der ja immer wieder darauf hinwies, aus wie kleinen hoffnungslosen Anfängen einiger weniger sich die Riesenpartei entwickelt hätte. Als 1923 sein Putsch in München fehlschlug, wollte er sich das Leben nehmen. Es wird berichtet, daß der Marineoffizier Helmut Klotz, später von Hitler am 3. 2. 1943 hingerichtet, ihn damals vor dem Selbstmord bewahrte. Das Tier ist nicht nur sehr mächtig, es kann auch auf das Wunder verweisen, daß eine höhere Macht es sichtbar aus dem Tode zu neuem Leben erweckt hat. Der Tod ist besiegt und liegt hinter ihm, es ist auferstanden von den Toten — wie der Christus Gottes.
Darum staunt die ganze Erde und läßt sich von dieser Erscheinung imponieren. Endlich, endlich ist es zum Greifen nahe und gegenwärtig: das göttliche Wunder, der machtvolle Heiland, der starke Erretter. Jetzt ist das Böse und die Sünde abgeschafft — durch das Tier. Leid und Seuche, Hunger und Pest, Krieg und Bürgerkrieg, Vergewaltigung und Ausbeutung, Mangel und Tod liegen hinter dem Tier und darum auch hinter der Menschheit. Sie geht einem goldenen Morgen entgegen. Wer sollte da nicht staunen?
Und aus Staunen wird Anbetung. Die Menschen werfen sich anbetend vor dem nieder, der dieser Erscheinung so große Gewalt, eine Gewalt des Lebens und des Friedens gegeben hat! Die Menschen werden darüber fromm und beten wieder! Täuscht euch nicht: die Religion feiert ihre Auferstehung, wenn dieses Tier erscheint! Auch das wird zu den Wundern gehören, wenn das Böse aus seiner Verborgenheit heraustritt. Was unvorstellbar erscheint heute in unserer säkularisierten Umwelt, daß die Menschen wieder beten, das wird dann geschehen. Sie werden, überwältigt von diesem Glanz des Mächtigen, in den Staub sinken und den preisen und loben, der so große Wunder an den Menschenkindern tut. Und es ist doch in Wahrheit der Drache, den sie anbeten!
Diese Macht setzt sich durch!
Hinter dieser neuen Frömmigkeit der Menschheit steht sehr real eine Erkenntnis: Wer kann es mit dieser Macht aufnehmen? Heißt es im Volk Gottes: „Wer ist wie Gott“, so bekennen sie nun „Wer ist dem Tier gleich?“ Ringsum existiert ja keine Gegenmacht mehr. Jedes Widerstehen ist sinnlos, wenn man sein Leben erhalten und Beruf, Stellung, Freiheit und Existenz behalten will.
Aber nicht nur handgreifliche Macht hat das erscheinende Böse, sondern darüber hinaus ist ihm noch mehr gegeben, wieder etwas Wunderbares und innerlich überwindendes, etwas Gott und Christus Ähnliches; es ist ihm ein Maul verliehen worden, zu reden große Dinge! Es ist ihm eine neue, atemberaubende, unerhört neue Sprache gegeben, die noch keiner gewagt hat! Vor dieser neuen Sprache haben sie noch alle Halt gemacht, auch wenn sie schon ähnliche Gedanken dachten und vorsichtig in gelehrten Büchern umschrieben. Jetzt aber muß es heraus: „Ich bin wie Gott, wir sind wie Gott!“ Was die Schlange im Paradiese der Frau zuflüsterte: „Ihr werdet sein wie Gott“, ruft nun dieses große Maul laut aus und posaunt es in alle Welt! „Wir haben die Macht, wir haben das Recht, wir machen alles neu, wir schaffen eine neue Welt, wir sind Schöpfer eines vollkommen neuen Menschen, wir wissen alles, und wir berechnen alles irrtumslos im voraus, wir können alles, alles, alles, was einmal eine vergangene Zeit einem erdichteten Gebilde, einem von Menschen in den Himmel gesetzten Götzen zugeschrieben hat! Der wahre Gott ist hier auf dem Plan als Heiland, Retter und Erlöser von allen Übeln!“
Und Gott schweigt zu dem allen! Ja, noch mehr: wenn wir fragen, wieso denn und wie lange denn dieses Tier sein Wesen treiben darf, antwortet der Prophet: es war ihm gegeben 42 Monate lang zu wirken und sich wie der Schöpfer selbst zu gebärden. 42 Monate — die wollen nicht nachgerechnet werden, diese Zahl nimmt der Seher aus dem Buch Daniel, in dem rückschauend Israel von einem unbekannten Prediger eingeschärft wird. Daß der König Antiochus IV. um das Jahr 168 vor Christi Geburt in Jerusalem sein Unwesen treiben konnte, der Tempel in Trümmern lag und jeder Gottesdienst verboten war, das hatte Gott so beschlossen in seinem Rat: dreieinhalb Jahre oder 42 Monate. So ist es auch bei Ihm beschlossen, daß diese böse Macht, die alle Welt erfüllt, eine bemessene Zeit ihr Wesen treiben darf. Sie hat diese Zeit von Gott erhalten, aber freilich nur diese, uns unbekannte, begrenzte Zeit. Es wirkt nicht ewig, ihm gehört nicht die Zukunft, wohl aber verfügt es über die gelassene, ihm gesetzte Frist. Hieß es doch im 12. Kapitel kurz vorher: „Der Teufel weiß, daß er wenig Zeit hat.“
Die Christenheit unterliegt!
Vor kurzem hat ein evangelischer Bischof das stolze Wort gesprochen: „Die Kirche Christi hat bis jetzt am Grabe aller ihrer Verfolger gestanden.“ Ein wahres Wort: wo die Christenheit in der Verfolgung mit dem lebendigen Wort Gottes in Glauben und Hoffnung rechnete, da hat sie ihre Verfolger überlebt. Wir wollen darüber hinaus auch nicht verkennen, daß in diesem so stolzen Wort auch der Hinweis enthalten ist: „Unser Herr ist der letzte Sieger, Ihm gehört in Wahrheit alle Zukunft, denn Er ist der allein wahre Herr Himmels und der Erden! Aber wir Christen haben nicht die Verheißung, der totalen Niederlage durch das in Erscheinung tretende Böse zu entgehen! Im Gegenteil! Gottes Wort zeigt uns, worauf wir uns zu rüsten haben:
Nun beginnt das Tier wirklich zu reden, und mit Entsetzen müssen nun auch die harmlosesten und wohlwollendsten Christen merken: diese neue und unerhörte, so fromm klingende Sprache ist in Wahrheit Lästerung des Schöpfers, Versöhners und Erlösers. Das Tier läßt nun die Hüllen fallen: der Sohn Gottes, Jesus von Nazareth, das für uns geschlachtete Lamm, hat in Seinem Reich keinen Platz, so wie Jesus keinen Platz im römischen Reich hatte und gekreuzigt wurde. Der Gott des Tieres, auf den sich das Tier beruft, duldet nicht den Vater Jesu Christi, den Schöpfer der Welt und Erlöser des Alls. Jetzt kommt es heraus: Das Tier oder Jesus von Nazareth, „Ich oder Er, der Verfluchte und Gekreuzigte, Ohnmächtige und Machtlose, der all das nicht fertigbringt und bringen will! Er hat alles beim alten gelassen, aber siehe, Ich mache alles neu!“
Und die Heiligen werden in diesem Krieg überwunden und müssen zu Boden! Nun muß die Kirche ins Grab mit all ihren Domen und ihren Kirchensteuern, Staatszuschüssen, ihrer Arbeit der Inneren und Äußeren Mission. Es wird vorbei sein mit ihren Privilegien und Sonderrechten, ja sie wird überhaupt keinen Rechtsboden mehr unter den Füßen haben, sie wird ausgetilgt, so wie einst die Evangelische Kirche in Frankreich unter Ludwig XIV. liquidiert wurde, der dann Ende des 17. Jahrhunderts stolz erklärte: „Der Ev. Gottesdienst ist in meinen Staaten nicht verboten. Aber alle Protestanten sind freiwillig zur allein seligmachenden Kirche zurückgekehrt.“ Es geht nun durchs Dunkel hindurch, dessen Ausgang und Ende noch nicht erkennbar ist. Wir werden hören, daß die glaubende Christenheit trotzdem weiterlebt, die Pforten der Hölle werden sie nicht überwältigen; aber nun geht es in eine totale Niederlage hinein, der Sieg gehört dem Bösen, das so große Macht bekommen hat von oben her, und das dem Drachen dient. 42 Monate lang. Die Zeit der großen, stolzen christlichen Kirche, die unser Abendland geprägt hat wie keine andere Größe, wird vorbei sein. Wer Jesus lieb hat, wird zu den totalen Verlierern gehören.
Und diese Niederlage der Christenheit wird um so schmerzhafter und eindrucksvoller, als die böse Macht alle Geschlechter, Völker, Sprachen und Nationen einigen wird unter seiner Herrschaft. Sie werden sich nicht mehr untereinander bekriegen, der Friede auf dem Erdkreis ist da! das steht also schon in der Bibel und ist keine neue Erfindung! Kein Volk, keine Gruppe, keine Gemeinschaft schließt sich von dieser Einheit unter dem Tier aus, das in Gottes Namen seine Herrschaft ausübt. Alle beugen sich, vereint unter dem Antichristen. Es gibt gegenüber dieser herrschenden Gewalt des Antichristen keinen christlichen und keinen religionslosen, keinen islamischen und keinen buddhistischen Staat mehr: alle, alle, alle sind nun geeinigt unter dieser Herrschaft, die total sie alle umfaßt!
Ist seine Herrschaft wirklich total? Zunächst einmal ja: „Alle, die auf dem Erdboden wohnen, beten es an.“ Alle Gebildeten und Nichtgebildeten, Reich und Arm, alle Ideologen und alle Ideologien, Wirtschaft und Politik, Kultur und Zivilisation — alles, alles dient dem Tier.
Aber das Tier scheitert an Gottes guter, gnädiger Entscheidung: alle müssen anbeten, nur die nicht, die im Buch des Lebens aufgeschrieben sind. Gott führt Buch über alle, die frei von dieser Anbetung bleiben. Wen Er aufgeschrieben hat, der fällt nicht und kann nicht fallen. Nun ist diese Buchführung Gottes kein geheimnisvoller Akt, so daß wir ungewiß fragen müßten: „Wie steht es mit mir? Stehe ich in diesem Buch drin?“ Sondern Gott führt sein Lebensbuch so, daß er allen, allen seine rettende Botschaft zuruft: „Kehret um und glaubt dem Evangelium, so werdet ihr errettet werden.“ In diesem Ruf zu Jesus Christus kommt Gottes ewige Entscheidung und Wahl zum Heil vor Grundlegung der Welt an uns heran. Wer dem Evangelium glaubt, der darf dieser Wahl Gottes zum Leben trauen und soll ihr trauen. Indem Gott in Jesu Namen das Leben verkündigen läßt, setzt er die Grenze in Kraft, an der die Macht des Antichristen endet, über die Erwählten, die dem Evangelium trauen, hat der Antichrist nichts zu sagen, diese werden das Tier nicht anbeten.
Diese Erwählten fallen ja nieder vor dem Lamm, das erwürgt ist von jeher für uns alle. Ihr Herr ist der, den sie am Kreuz hängen sehen und als den Erhöhten glauben. Ihr Herr ist der, der den Verkläger, den Verführer, den Satan überwunden hat. Wo diesem wahren Siege getraut wird, da beugt man nicht seine Knie vor dem Bösen, der tut, als sei er Gott. Wer Ohren hat zu hören, der höre! Eingeladen zu diesem Trauen und Widerstehen sind wir alle, die Ohren haben, die Botschaft zu hören und anzunehmen.
Aber freilich: die Erwählten siegen im Leiden! Sie überwinden, indem sie Tod und Gefangenschaft je und je aus Gottes Hand annehmen und anerkennen als den Weg des Triumphes, den ihnen der Herr vorangegangen ist „Wem Kerker ist be- schieden, geht in den Kerker ein; wer mit dem Schwert soll getötet werden, wird mit dem Schwert getötet werden“, lautet der V. 10 in moderner Übersetzung. Das Wort ist eine Aufnahme aus einem Gerichtswort über Israel aus dem Propheten Jeremia, der vom Herrn die schreckliche Ankündigung hört über das kommende Schicksal des Volkes und seinen Weg: „So spricht der Herr: Was der Pest gehört — zur Pest; was dem Schwert — zum Schwerte; was dem Hunger — zum Hunger; was der Gefangenschaft — in die Gefangenschaft.“ Wo über die standhafte und bekennende Gemeinde Verfolgung, Gefangenschaft und Tod kommen, da soll sie nicht vergessen, daß Gott seine liebsten Kinder vorweg straft: „Es ist Zeit, daß das Gericht am Hause Gottes anfange“, heißt es im sog. 1. Brief des Petrus, einem Schreiben an die Kirche in Kleinasien zur etwa gleichen Zeit! Aber die Auserwählten gehen nicht in die Nacht des Gerichtes hinein, sie gehen durch dies Dunkel hindurch. Denn Er trägt den Fluch, damit wir frei ins Leben gehen, Er ist für uns zur Sünde gemacht, damit wir würden die Gerechtigkeit Gottes in Ihm. Es steht dies Leiden unter der Verheißung „Wen Gott lieb hat, den züchtigt er und zieht ihn damit zu sich.
Die Christenheit der ersten Jahrhunderte hat an diesem Vers, der so sehr gegen unser Fleisch und Blut geht, viel herumgegrübelt. Die Lutherbibel hat eine andere Übersetzung dieses Trostwortes: „Wenn jemand andere ins Gefängnis führt, der wird selber in das Gefängnis gehen; wenn jemand mit dem Schwert tötet, der muß mit dem Schwert getötet werden.“ Viele Abschreiber dieses Verses haben offenbar an Jesu Wort an Petrus gedacht, als er sein Schwert zog und den Krieg gegen die beginnen wollte, die Jesus gefangen nahmen: „Stede dein Schwert in die Scheide. Denn wer das Schwert nimmt, der wird durch das Schwert umkommen.“ So wird es all den Gewalttätigen gehen, die jetzt die Glaubenden morden, so wird es aber auch allen Christen gehen, die im Namen Jesu das Schwert ziehen, um ihre Verfolger abzuschlagen. So gelesen weist es die Gequälten hin auf Gottes kommendes Gericht über die Anbeter des Tieres und warnt zugleich die Christenheit, nicht das Schwert in die Hand zu nehmen, um sich selbst zu erretten, so wie es die Judenschaft zwischen den Jahren 66 bis 135 n. Chr. dreimal in riesigen Aufständen getan hat, die jedesmal mit einer ungeheuren Katastrophe endigten.
Aber die Christenheit hat keine Verheißung, wenn sie das Schwert in die Hand nimmt, um sich selbst zu verteidigen in der Verfolgung. Dagegen hat sie alle Zusage der göttlichen Führung und des göttlichen Schutzes, wenn sie siegt durch Geduld und Glauben. Sie soll und darf in ihrem Unterliegen dabei bleiben, was sie von Anfang an gehört hat: „Unser Glaube ist der Sieg, der die Welt überwunden hat.“ Gott hört das Schreien seiner Elenden, und Gott gibt seinen Geist denen, die um seines Namens willen vor Gericht gezogen werden.
Wer und wo ist der Antichrist heute?
Manche von euch werden schon längst diese Frage heimlich gestellt haben, so wie diese Frage von allen Generationen der Christenheit seit nunmehr über 1800 Jahren gestellt worden und jeweils beantwortet worden ist, einschließlich der neugierigen Frage, wann etwa der kommende Antichrist kommen werde?
Laßt uns vorweg eines gesagt sein: der Prophet Johannes will uns alle miteinander warnen. Man warnt aber nicht Leute, die viel Zeit haben oder die die Gefahr nichts angehen wird. Fleute soll gehört werden, damit wir heute bewahrt werden und standhalten! Wir stehen nicht über dieser Prophezeiung, so daß wir rechnen und ausrechnen könnten, sondern wir haben genug zu tun, uns heute warnen zu lassen und uns heute vorzubereiten, im Unterliegen zu überwinden. Aus dem gleichen Grund ist es uns auch verboten zu meinen, das Tier, das da erscheinen wird, sei bereits in der Geschichte aufgetreten, habe sich enthüllt, und nun könne man sich in aller Gemütsruhe darüber verständigen: „Dort drüben ist das Tier, sieh dich also vor!“ So machens die ernsten Bibelforscher, so machens manche Protestanten, die es ganz genau wissen, daß das Tier seinen Thron in Rom aufgeschlagen habe, so habens Katholiken gemacht, die in Wittenberg das Tier emporsteigen sahen. Andere lokalisieren das Tier in Moskau, andere im Islam, andere sehen im amerikanischen Kapitalismus und Imperialismus die Inkarnation des Bösen, dem es zu widerstehen gilt. Jedesmal können die betreffenden Gruppen erleichtert feststellen: „Gott Lob, wir sind doch bessere Leute, hüten wir uns nur, papistisch, lutherisch, mohammedanisch, kommunistisch oder amerikanisch zu werden!“ Es geht aber nicht um solch ein billiges Nein zu irgend einer politischen oder religiösen Größe unserer Tage, es geht um Glauben und Geduld der Heiligen. Denn das Tier hat nicht umsonst 10 Hörner und sieben Häupter, es ist sehr vielgestaltig und hat viele Möglichkeiten, seine Herrschaft auszuüben! Seine Macht ist viel, viel größer, als die Macht Roms, Moskaus, Wittenbergs, Mekkas oder New Yorks!
Also kommt der Antichrist erst, und wir haben ihn erst in ferner Zukunft zu erwarten? An dieser Stelle haben wir unter der Predigt wohl alle eine merkwürdige Entdeckung gemacht! Bei vielen Stellen des Textes erkannten wir: „Hier wird doch nicht von erst zukünftigen Dingen geredet, in diesen Scheußlichkeiten und Schrecklichkeiten, Versuchungen und Anfechtungen stecken wir doch schon mitten drin! Das sind doch keine erst irgendwann einmal eintretenden Mächte, die nach uns greifen werden, sondern sie greifen doch schon nach uns, wir sind doch schon in der Gefahr, die auf uns zukommt.“ Gewiß, der Antichrist, die Enthüllung des radikal Gottwidrigen und Bösen kommt, aber es kommt so, wie wir jemand draußen die Treppe heraufkommen hören und wissen, er will zu uns in die Wohnung, er geht auf unsere Tür zu, wir sind gemeint! Er kommt so, wie ein Zug in den Bahnsteig kommt, nachdem im Lautsprecher gerufen wird: „Von der Bahnsteigkante zurücktreten, Zug aus Richtung X. hat Einfahrt.“ Paulus drückt das einmal im 2. Thessalonicherbrief so aus: der Antichrist kommt erst noch, aber das Geheimnis der Bosheit regt sich schon jetzt. Und im 1. Johannesbrief lesen wir. „Kinder, es ist die letzte Stunde! Und wie ihr gehört habt, daß der Widerchrist kommt, so sind nun schon viele Widerchristen gekommen; daran erkennen wir, daß die letzte Stunde ist.“
Der kommende Widerchrist hat seine Vorläufer, so wie das Tier 10 Hörner und 7 Häupter hat. Es wäre verhängnisvoll, wenn wir im Widerstehen nur nach einer Richtung blicken würden, wie viele Christen heute nur nach Osten blicken: „Da ist das Böse auf die Erde gekommen!“ Aber es wäre genau so verhängnisvoll zu übersehen, daß der kommende Böse hier und jetzt schon am Werke ist, daß er uns an bestimmten Punkten, in bestimmten Erscheinungen bedrängt und bedroht. Wir haben uns sicher vor diesem fixierten Antibolschewismus zu hüten, der die Warnung verharmlost und die Christen in Sicherheit wiegt. Aber wir haben die Warnung ganz sicher auch über dem zu hören, was man Bolschewismus genannt hat. Wir werden den ernsten Bibelforschern nicht folgen, wenn sie uns ieinreden wollen, daß der Antichrist seinen Palast nur in der organisierten Kirche aller Ausprägungen aufgeschlagen habe, aber wehe uns, wenn wir die Warnung nicht auch über Rom, über Genf und Wittenberg, über der orthodoxen und allen anderen Kirchen hören wollten. Das Tier hat nicht nur rote und andere Fahnen, es hat auch eine violette oder weißgelbe Fahne, und diese sind vielleicht für uns in der Kirche die allergefährlichsten. Es geht nicht um Politik und politische Stellungnahmen, es geht nicht um Ideologien und Antiideologien, es geht um Glauben und Geduld der Heiligen.
Bei Montpellier in Frankreich steht ein alter Festungsturm. Im Steinwerk seines oberen Kerkers liest man, von unbeholfener Hugenottenhand unorthographisch eingeritzt das Wort „Résister“ — Widerstehen. Keine Revolutionäre und Widerstandskämpfer haben es für spätere Generationen an die Wand geschrieben, sondern eine Frauenhand: in diesem Kerkerturm lebte von 1730 bis 1768 Marie Durand, die Schwester eines hingerichteten evangelischen Predigers. Sie lebte dort mit einer Anzahl anderer Protestantinnen, gehalten im Glauben und in der Geduld vom Heiligen Geist. Alle Insassinnen konnten jeden Tag frei werden, sie brauchten nur eine Messe zu besuchen und schriftlich zu erklären: „Ich werde mich im Sinne des Königs jeder äußeren Ausübung der protestantischen Religion enthalten.“ Glaube und Geduld der Heiligen — das steht wider alle Revolte mit Waffengewalt, das steht aber auch gegen das allgemein beliebte Auskunftsmittel unserer Tage: „Man muß sich durchzuwinden wissen.“ Amen.
Quelle: Kurt Scharf (Hrsg.), Vom Herrengeheimnis der Wahrheit. Festschrift für Heinrich-Vogel, Berlin-Stuttgart, Lettner-Verlag, 1962. S. 106-118.