Franz Overbeck, Geschichtschreibung und Theologie (Christentum und Kultur): „Ist das Christentum noch jung genug, um die Prüfungen, die ihm der Besitz einer Theologie auferlegt, zu ertragen? Ist das Christentum noch jung genug, um eine Theologie zu erzeugen? Was bedeutet im Grund die unbegreiflicher Weise gerade bei modernen Theologen so akzentuierte historische Auffassung des Christentums? Gerade sie, ihrer eigenen Einbildung zum Trotz, sperren sich beharrlich gegen dessen historische Auffassung. Der ganze Gedanke, die Frage der ewigen Fortdauer des Christentums historisch zu stellen, ist ein besonders beredter Zug im hippokratischen Gesicht des modernen Christentums, — ein Zeugnis, daß seine Theologen in Wahrheit nicht dessen Vertreter, sondern dessen Totengräber sind.“

Geschichtschreibung und Theologie (Christentum und Kultur)

Von Franz Overbeck

Die selbstgewählte Blindheit der Geschichtsschreibung, welche sich von jeder Verpflichtung zur Objektivität selbst lossagt, erinnert an die spanischen Blinden, denen amtlich oblag, die Neuigkeiten des Tages auf den Straßen auszurufen und die denn auch eines Tages unter Philipp II. in Ausübung dieses Amtes in Madrid einen großen Sieg der spanischen Flotte über ein Corsarenpaar der nordafrikanischen Küste laut verkündigten. Ein Spaziergänger erinnerte daran, man habe eben erfahren, die Ungläubigen hätten auf ihrer Flucht eine der schönsten spanischen Fregatten mit sich davon geschleppt. „Das geht die Blinden von Algier an“, antwortete der gemahnte Ausrufer. In der Tat, hätte man die in der Gegenwart bisweilen selbst mit besonderer Zuversicht ausgebotenen Doktrinen über die nahezu pflichtmäßige Blindheit der Geschichtsschreiber Ernst zu nehmen, so wären die Geschichtsschreiber überhaupt nichts anderes als solche Blinde, sei es von Madrid, sei es von Algier, und man hätte sich eben nur bei ihrer Lektüre darauf einzurichten.

Gerade weil die Geschichtsschreibung eine in Hinsicht auf ihre Resultate so problematische Wissenschaft und ihr sicheres Wissen so verlegt ist, erscheint der Skeptizismus als die einzige Denkart, die sich wirklich mit ihr verträgt, Skeptizismus auch als die einzige Philosophie, mit der sie verbunden werden kann. Die Anerkennung dieser Wahrheit schafft auch den albernen Streit über die Möglichkeit einer objektiven Geschichtswissenschaft aus der Welt.

Die Geschichte hat als Wissenschaft in unserer Gegenwart vielleicht nur darum die ungeheure Bedeutung, die wir daran empfinden, erlangt, weil sie die Wissenschaft ist, bei der wir zur Zeit am beständigsten in Lebensgefahr uns befinden. Sie ist unter unsern Wissenschaften diejenige, mit der wir noch unmittelbarer, uns mit ihr befassend, empfinden, als bei jeder andern, daß wir selbst im Spiele sind oder auf dem Spiele stehen. Mag sein, daß Naturwissenschaft an sich und im Allgemeinen völlig ausreicht, um uns zu erdrücken. Sollte dies aber im Moment des Weltdaseins, durch welchen wir Menschen im Augenblick so zu sagen als „Wandel“- oder vielleicht auch nur als „Haarsterne“ streifen, die Geschichte nicht noch besser leisten? Durch Religion und Weltweisheit sind wir vor der Gefährlichkeit der Wissenschaft längst gewarnt. Eben daran erinnert uns Geschichte zur Zeit am eindringlichsten, nämlich, daß wir mit aller Wissenschaft an einem alten Scheidewege stehen. Nur sehe ich nicht ein, daß Geschichte auch heute, mit allem ihrem Uebergewicht, zureichte, um uns zur Abkehr von der Wissenschaft zu entscheiden. Wir müssen durch die Welt eben weiterrollen, braucht das auch nicht lediglich und eigentlich träumend oder schlafend oder gar ganz leblos zu geschehen.

Mit aller Wissenschaft unterliegt die Geschichte der Gefahr, nur sich selbst zu züchten, nicht aber Einsicht zu fördern. Daher ist auch sie nur nach der kritischen Kraft, die sie treibt, zu schätzen, welche zu erkennen ist an den Methoden, die sie pflegt. Sind diese Methoden und die Probleme, die sie schaffen, dazu geeignet, die Einsicht in die Geschichte, sei es im Kleinen oder Großen, im Einzelnen oder im Ganzen, zu fördern oder hiergegen gleichgültig zu machen, wenn auch vollkommen geeignet, den Betrieb der Wissenschaft im Gang zu erhalten? Darauf hin prüfe man die Leistungen der Geschichtswissenschaft, um ihren Wert zu erkennen. Man wird vielleicht staunen, wie gering darunter der Bruchteil dieser Leistungen ist, welcher das Gedeihen der Einsicht fördert, im Verhältnis zu dem, der nur der Wissenschaft selbst förderlich ist, indem er im Uebrigen vielfach nur den Irrtum verbreitet. Nichts ist verderblicher als der Wahn, daß der Wissenschaft die Methoden an sich ihren Wert sichern. Ihre Methoden sind vielmehr ihre eigentliche Gefahr, und von ihrer Kritik, nach dem eben angegebenen Maßstabe, darf sie nie ablassen. Statt dessen erfreuen sich gegenwärtig die Methoden, welche nicht sowohl Einsicht als Historiker zeugen, sogar einer starken Vorliebe, und das darf, wie nun einmal der Lauf der Welt ist, nicht in Erstaunen setzen. Auch die Wissenschaft, und sie vielleicht nicht am wenigsten, lebt nach der Maxime: Vivere et deinde philosophari! Dieser Wahlspruch verkennt die Meinung, die der Wissenschaft schon um des bloßen Suchens nach Wahrheit willen Wert zuerkennt, ja in diesem Suchen den eigentlichen Sitz ihres Wertes sieht. So mögen die Advokaten der Wissenschaft denken, aber nicht ihre wahren Freunde. Jene pflegen zu verteidigen, entweder was der Verteidigung nicht bedarf oder sich nicht verteidigen läßt. Und so hier, daß die Wissenschaft für sich selbst sorgt. Nur Freunde einer Sache wissen, was sie daran verteidigen und haben demnach etwas zu verteidigen, ein Objekt für ihre Verteidigung, Advokaten sind Rhetoren. Sie machen zwar Worte, reden aber gar nicht von lebendigen Dingen.

Bevor man sich mit moderner Theologie über Religion und Kultur in irgend einen Streit einläßt, muß man über das Recht der Theologie über Kultur überhaupt mitzureden im Reinen sein. Die Theologie geht in unserem kultivierten Zeitalter von der Voraussetzung aus, sie habe als Vertreterin der Religion souveränen Anspruch darauf, auch über Kultur zu entscheiden oder wenigstens mitzureden. Eben diesen Anspruch spricht das moderne Kulturbewußtsein der Theologie ab. In moderner, nicht theologisch eingeschränkter Betrachtung der Dinge ist Religion kein menschliche Kultur beherrschender Begriff mehr. Der beherrschende Begriff ist vielmehr der der Kultur, in deren Bereich die Religion nur eine einzelne Kulturmacht neben vielen anderen ist, welche ihr Leben einengen. Damit sind aber die Existenzbedingungen der Religion andere geworden, jedenfalls beschränktere in weiteren Kreisen der Menschen als in irgend einer Vorzeit. So kann zur Zeit Persönlichkeiten, denen die Zeit geneigt ist, die größte Bedeutung als Kulturreformatoren zuerkannt werden, während sie für die Religion die geringste haben, da sie sich, außer etwa mit ihren rein subjektiven Ansprüchen in Hinsicht auf Machtausübung in ihr, rein negativ dazu verhalten und demgemäß nur zerstörend, nicht aber reformierend, auf sie wirken können.

Theologie ist der zu Gunsten der Religion geführte, aussichtslose Ringkampf mit gewissen Urwahrheiten, welche die letzten Probleme unseres Daseins, die Schwierigkeiten der Bedingungen, unter denen wir Menschen leben, uns gar zu rücksichtslos aufdecken. Die möglichste Niederhaltung dieser Urwahrheiten ist der Zweck der Theologie, dazu sind die Theologen von Religionen angestellt. Bedenkt man diesen ihren Beruf, so wird man sich weniger darüber aufhalten, wenn man sie so häufig das Unverkennbare verkennen sieht, z. B. daß geschichtliche Betrachtung niemals eine Religion in ihrem Ansehen, ihrer Geltung zu erhalten vermag. — Die Theologie reizt die Religion, Streitlust und Fanatismus zu entwickeln und sich damit von ihrer unvorteilhaftesten Seite zu zeigen. Daraus ergibt sich am einleuchtendsten, welches das natürliche Verhältnis der Theologie zur Religion ist, keines der Freundschaft, sondern der Feindschaft. Man kann die Theologie den Satan der Religion nennen. — Die Theologie kann keine Religion schaffen, sondern bestenfalls eine Religion, die man sonst hat, schätzen und stärken, aber eben darum auch die Religion kosten. Sie ist unter Umständen die Kunst, die Religion los zu werden und gelangt dazu im Großen zuletzt stets. — Sie stellt sich darum als unentbehrliches Kulturbedürfnis bei jeder historisch gewordenen Religion ein. — Um die Kritik nicht fürchten zu müssen, unterhalten die Theologen bei sich den Wahn von einer Kritik, welche bei der Erfüllung ihrer Arbeit unschuldig bliebe und die Religion unbeschädigt lasse.

Die moderne Theologie hat sich für ihre religionsapologetischen Zwecke der Historie bemächtigt, d. h. der größten wissenschaftlichen Macht, die ihr unsere Gegenwart in die Hände lieferte — (die Naturwissenschaft war für sie jedenfalls weniger handlich), und eben mit dieser Macht hat sie sich angemaßt, die Kultur aus ihrem Untertanenverhältnis zur Religion zu entlassen, und erklärt: die Religion beherrscht unsere Kultur nicht mehr, aber das ist auch ganz in Ordnung. Eben zu dieser Erklärung hatte sie kein Recht, denn sie ist widergeschichtlich. Bis zur modernen Zeit hat unter uns kultivierten Europäern immerzu die Religion in der Kultur geherrscht, und nur die moderne Revolution der Kultur gegen die Religion hat diese Herrschaft aufgehoben. Die modernen Theologen machen es aber wie alle erfolgreichen Revolutionäre. Sie verleugnen ihre Vergangenheit oder suchen sich nur auf Schleichwegen zu behaupten, indem sie möglichst unbemerkt zur Ordnung zurückzukehren suchen. Vor allem wollen sie nicht, daß erkannt werde, wie die alte Ordnung nicht mehr herrsche und die Religion nicht mehr bedeute was sie einmal bedeutet hat.

Die allein ernst zu nehmende historische Apologie des Christentums, die Ersprießliches für die Menschheit erwarten läßt, ist die das Problem behandelnde Apologie: Was hat die Menschheit aus ihrer Erfahrung in der Geschichte vom Christentum gelernt, welchen Nutzen hat sie davon getragen, inwiefern ist sie dadurch anders, schlechter oder eben darum auch besser geworden? — eine Apologie, die sich in der Behandlung ihres Problems vollständig innerhalb von dessen humanen Grenzen hält. Davon tut aber Theologie und zumal die moderne das Gegenteil, indem sie das Problem in „jene“ die göttliche Welt erhebt, es damit fälscht, leer und unfruchtbar macht. Denn hat die Menschheit an irgend etwas unveräußerliche und ausschließliche Eigentumsrechte, so ist es an ihre Geschichte. Sie mag in dieser ihre Lehrerin verehren, aber doch nur soweit diese nicht Miene macht, ihr von. einem der Menschheit fremden, außerhalb ihrer Grenzen gelegenen Himmel zu kommen, nicht anfängt in anderen Zungen zu reden. Alle Wissenschaft kommt der Theologie von Menschen, sie sitzt nur als Parasit an der Tafel, die diese ihr daraus decken, in der Historie zumal, die man von allen Wissenschaften die unzweideutigst menschliche nennen kann. Kann es in dieser Wissenschaft für Menschen ein anderes Subjekt geben als sie selbst? Sie zieht die Grenze der Menschheit am deutlichsten nach unten, soweit sie Mensch und Tier scheidet und den Menschen als das für Geschichte impressionable Wesen erkennen läßt, während das Tier zur Geschichte keinen Zugang hat. Wie sollten nun die Dinge von oben gesehen plötzlich anders sein, der Mensch in der Geschichte eine andere Stimme als die seine anzuerkennen haben? Welche andere sollte Anspruch auf sein Verständnis haben? Von Theologen sich das Christentum verständlich und begreiflich machen lassen, heißt deshalb nichts anderes, als auf dessen Verständnis verzichten, sich von dorther Verständnis holen, wo es gerade nicht zu erwarten ist. Daß auf manche Leute theosophisches Verständnis der Geschichte einen so absonderlichen Eindruck macht und als die Ecke der Theologie erscheint, wo diese am einleuchtendsten als der Stern tiefster Weisheit erscheint, ist nichts weniger als ein Beweis dagegen, daß der in die Theologie verpflanzte Betrieb der Geschichtswissenschaft die Hohlheit dieser ganzen frommen Wissenschaft am augenscheinlichsten kenntlich machen und verraten könnte. Das Christentum geschichtlich betrachtet wird von diesem ganzen Verhältnis nicht anders denken lassen. Auch für das Christentum ist unter uns Menschen nichts Ernstes und Ersprießliches von historischer Betrachtung zu erwarten, wenn nicht zuvor die Geschichte als das Erb- und Eigentumreich der Menschheit anerkannt ist. In der Natur mag sich der Mensch als einen halben Fremdling noch betrachten, in der Geschichte ist er ganz zu Hause und hat Niemanden als Mitbewohnet neben sich anzuerkennen, der mehr wüßte als er.

An der deutschen protestantischen Theologie ist zur Zeit nichts zweideutiger, — um nicht zu sagen falscher als ihr Interesse an Religionsgeschichte. Was dem ersten Blick vom sublimsten wissenschaftlich historischen Interesse inspiriert erscheint, ergibt sich bei weiterer Betrachtung als ein mehr oder weniger klägliches Erzeugnis, das man sich von der augenblicklichen Not bei der Durchsetzung eigener Ansprüche abpressen läßt. Wie auch sonst enthüllt sich die heutige Theologie bei ihrem Interesse an Religionsgeschichte als herzliche Geschichtsverächterin unter der Maske der mit Geschichte getriebenen Abgötterei. Um zu beantworten was von der Erweiterung der Theologie um den Stoff der Religionsgeschichte sich überhaupt erwarten läßt, muß man natürlich zuerst wissen, was von der Theologie im Dienste der Religion zu erwarten ist. Wer wie ich meint, daß nichts mehr von ihr zu erwarten ist, wird auch in jener Erweiterung nichts weiter sehen als ein besonders praktisches Mittel, um sich im Wahne zu unterhalten, daß man mit der Religion vorwärts komme. Weil Religion einem etwas angeht, beschäftigt man sich mit ihr in einer für gegenwärtige Wissenschaftsbegriffe kaum noch speziös zu nennenden Form des aliquid facere videri. Die Disziplin der Religionsgeschichte liegt zur Zeit noch in der Wiege. Niemand weiß recht, wie es mit ihr anfangen. Aber überall wo man herzhaft vorwärts will, versteht man sich eine Heimat zu gründen — und so auch die moderne Theologie mit diesem ihrem neuesten Geschmack die ihrige in Berlin. Wenigsten war dort — laut Hochschulnachrichten 14. Jahrg. Nr. 6 — zu haben, was sonst kaum woher zu holen war: nämlich Das Wissenswerteste aus der Religionsgeschichte. Das bloße Bewußtsein, daß darüber (von G. Runze) in der führenden protestantisch theologischen Fakultät bereits im Sommer 1904 gelesen wird, wirkt wie Frühlingsluft, noch bevor man im Kolleg gewesen ist. Es mag ja wahr sein, daß anders als mit Verwegenheit eine Theologie nicht wieder zu gründen ist. Aber was hilft das demjenigen, der schon in der Geschichte der alten Kirche seinen Glauben an die Künste der Theologie verloren hat! Was hat Alexandria der alten Kirche geholfen? Was Paris der mittelalterlichen? Was wird Berlin der modernen helfen? Die Apologie des Christentums segelt von jeher und heute mehr als jemals früher unter der Flagge der Bildung. Beschäftigung mit Religionsgeschichte, allgemeiner oder vergleichender, sollte aber der Theologie verboten werden — sie kann auf diesem Gebiete nur Unheil anrichten, wenn nicht für die Religionsgeschichte, so doch für sich selbst.

Die Theologie ist durch ihr ganzes wissenschaftliches Wesen oder Unwesen für richtige Auffassung und Behandlung von Geschichte verdorben. Sie beruht auf Annahme heiliger Texte oder kanonischer Bücher, und ist dadurch verurteilt zu stetem Schwanken zwischen den Extremen blöder Verehrung und nicht minder blöder Geringschätzung der Tradition. Der Gedanke kanonischer Bücher konnte in der Welt nur aufkommen, als sie vollkommen blind war über die Existenzbedingungen, die historischer Tradition gesetzt sind, und diese Blindheit muß die Theologie, bis sie sich selbst aufgibt, zu erhalten trachten. Sie kann dies nur erreichen, indem sie, je nach den für sie selbst bestehenden Umständen, die Maske schwersten Ernstes in der Vertretung oder lustigsten Leichtsinns in der Verlängerung der Tradition vornimmt.

Die Kirche fühlt die für ihre Zwecke sehr schlechte Beschaffenheit der historischen Tradition. Sie macht daher in historischen Fragen, an deren Entscheidung ihr liegt, beständig Gebrauch von Mitteln, die von den legitimen zur Ermittlung geschichtlichen Tatbestandes vorhandenen völlig abliegen und ganz heterogen sind. Schließlich helfen Visionen und Offenbarungen. Im elften Jahrhundert stritt man sich in der griechischen Kirche wer größer sei Chrysostomus, Basilius der Große oder Gregor der Theologe. Da hatte der Metropolit der Euchaiten, Johannes Mauropus, einen Traum, der den Streit niederschlug und Anweisung gab, den drei Heiligen einen und denselben Kalendertag als Fest zu weihen, als welcher denn der 30. Januar festgesetzt wurde. Um solche Mittel ist die Kirche in solchen Fällen zu beneiden, d. h. bei Fragen, die an sich Vexierfragen und mit verständigen Mitteln gar nicht zu beantworten sind, über die der Streit daher in unfruchtbarer Verworrenheit sich endlos fortschleppt, wie wenn man z. B. über die Größe von Schiller und Goethe disputiert.

Das einzig Sichere das Geschichte über alle Offenbarung lehren kann, ist, daß unter uns Streit, und zwar alter, sehr alter, aber auch noch immer unentschiedener Streit, darüber herrscht. Die Offenbarung ist ein rein dramatisches oder epideiktisches Tun Gottes, das, um sich uns vernehmlich zu machen und überhaupt Gegenstand einer historischen Tradition werden zu können, sich menschlich gebärdet. Wenn Gott den Adam fragt, wo er sei, und den Kain, wo der Abel, so tut er es nicht aus Unwissenheit, sondern um den Gefragten zu Gemüte zu führen, wie sie beschaffen seien, und damit die Kenntnis aller Dinge durch Schriftliehe Aufzeichnung auf uns herabkomme. Und ebenso handelt Christus. (S. Justinus Martyr Dial. c. Tryph. c. 99 p. 338 ed. Otto und Augustius de doctrina christiana II, 28, 42—44 opp. III, I, 66 f. über den Nutzen der Geschichtskenntnis für die Schriftauslegung.)

Heute — ich schreibe dies im Mai 1904 — denkt niemand mehr an Bunsen, insbesondere herrscht über ihn in den so gesprächigen Kreisen der modernen Theologie altum silentium. Und doch ist Bunsen mit seinem Werk Gott in der Geschichte und den damit zusammenhängenden Bibelstudien der theologische Meister, der die kürzeste und prägnanteste Formel für das Zentraldogma unserer modernen Theologie in Umlauf gebracht hat. Denn Gott in der Geschichte (dies der Titel der drei Bände Bunsens, Leipzig 1857—58) — das will doch, wenn überhaupt etwas, nichts anderes sagen als daß die Geschichte das Mittel ist, durch das Gott sich uns Menschen offenbart. So lehrt H. Gunkel, Deutsche Rundschau Bd. 119, Juniheft 1904, S. 473, so Harnack in dem Traktätchen Das Christentum und die Geschichte, Leipzig 1895, dessen Grundgedanke den allein faßbaren Kern seines Wesen des Christentums von 1900 bildet, — so W. Köhler Ein Wort zu Desnifle’s Luther Tüb. und Leipzig 1904, S. 48, lauter Wortführer der modernen Theologie, doch als solche von verschiedenem Zuschnitt. Da sollte man doch Bunsen nicht so völlig vergessen, der in seinen Zeichen der Zeit von 1856, wenn er sich im Gewölk dieses Buchs überhaupt verstand, vielleicht sich darin nur als den Propheten der kommenden modernen Theologie fühlte, während wiederum seine Gegner im Gebrodel dieser angeblichen Gedanken, die fast noch oppressiver in seinem Hippolytus und seine Zeit sich bemerklich machende Konfusion, in der wir zur Zeit mit der modernen Theologie stecken, wohl ahnen durften. Bunsen mag auch als Favorit und als Diplomat seines Königs am besten das Verhältnis, in dem zur Zeit das Deutsche Reich unter preußischer Führung zur modernen Theologie steht, vorgebildet oder zum voraus dargestellt haben.

Im Jahre 1902 hat die preußische Regierung daran gedacht, auf den erledigten Lehrstuhl eines Profanhistorikers einen Theologen zu berufen, und zwar auf den Berliner Stuhl des Welthistorikers ScheffenBoichorst den Leipziger Kirchenhistoriker A. Hauck, also den ganzen Unterschied profaner und theologischer Geschichtsbetrachtung für unwesentlich erklärt. Soll man nun darin einen legitimen und dann vorzüglich beachtenswerten Triumph der modernen Theologie erblicken, welche sich die Anerkennung auf wissenschaftliche Ebenbürtigkeit wenigstens in der Geschichtswissenschaft errungen hatte? Oder soll nicht vielmehr die Sache als ein besonders sprechendes Wahrzeichen der Barbarisierung gelten, der unsere Kultur sich entgegenbewegt? Ich freilich entscheide mich für das Letztere. Und zwar gilt mir der Fall als eine Parallelerscheinung zur Konfessionalisierung der Wissenschaft, die sich in der Organisierung paritätischer Lehrstühle im Organismus unserer Universitäten anmeldet. Dergestalt stände die Theologie im Begriff, im Schoße unserer Universitäten zur Anerkennung ihrer vollen Ebenbürtigkeit mit den übrigen vom Mittelalter her etablierten Wissenschaften zu gelangen, ja zu einem sie alle treffenden Anspruch zugelassen zu werden. Das wäre denn vom Mittelalter nicht mehr weit, vielmehr pures Mittelalter.

Die Kirchengeschichte lehrt, daß das Christentum, wie es auch mit der vermeintlichen Lenkung seiner Fata stehe, unfähig gewesen ist, sich den Folgen auch nur einer einzigen Schwäche der menschliehen Dinge zu entziehen. Nicht ein Greuel der Geschichte, d. h. unter den Erfahrungen der Dinge, die in der Geschichte gelebt haben, fehlt in den Erfahrungen der Kirchengeschichte. Der Natur der Sache nach greift diese Erfahrung über jeden innerhalb des Christentums selbst hervortretenden Unterschied hinaus, den der Konfessionen. Beim Protestantismus nicht minder wie beim Katholizismus; sein Leben in der Gegenwart ist nicht besser gesichert wie das des Katholizismus. Beide sind auf dieselben Auskünfte der Not angewiesen, um sich noch über Wasser zu halten. Not ist eine starke Gewalt, aber auch sie stumpft sich ab.

Ist das Christentum noch jung genug, um die Prüfungen, die ihm der Besitz einer Theologie auferlegt, zu ertragen? Ist das Christentum noch jung genug, um eine Theologie zu erzeugen? Was bedeutet im Grund die unbegreiflicher Weise gerade bei modernen Theologen so akzen­tuierte historische Auffassung des Christentums? Gerade sie, ihrer eigenen Einbildung zum Trotz, sperren sich beharrlich gegen dessen historische Auffassung. Der ganze Gedanke, die Frage der ewigen Fortdauer des Christentums historisch zu stellen, ist ein besonders beredter Zug im hippokratischen Gesicht des modernen Christentums, — ein Zeugnis, daß seine Theologen in Wahrheit nicht dessen Vertreter, sondern dessen Totengräber sind.

Quelle: Franz Overbeck, Christentum und Kultur. Gedanken und Anmerkungen zur modernen Theologie, aus dem Nachlass herausgegeben von Carl Albrecht Bernoulli, Basel: Schwabe, 1919, S. 10-20.

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