Johannes Hamel, Erwägungen zur urchristlichen Parainese über das politische Verhalten der Christen (1959): „Unser Ge­horsam hat sich in einer Welt zu bewähren, in der der Teufel wie ein brüllen­der Löwe umhergeht und sucht, wen er verschlinge. Die gehorsame Gemeinde kommt jeweils gerade darum herum, irgendwelchen westlichen oder östlichen Abgöttern zu verfallen. Sünde ist auch in politicis öffentlich zu behaften, das ist so nach lutherischer wie nach reformierter Lehre. Die Christenheit, die sich willig unterordnet, wird dieses Namhaftmachen begangener Sünde zö­gernd, besonnen, bescheiden und leidensbereit tun, aber dieses Tun ist Mo­ment ihrer Unterordnung und kommt nicht als etwas anderes zu der Unter­ordnung nachträglich hinzu. Sie wird zweifellos damit in Widerspruch zu den Bildern geraten, die alle Zeit eine Staatsleitung von ihrem Wollen, ihren Taten und ihren Erfolgen entwirft und uns glauben machen will.“

Sie wird auch dann mit diesem Bild in Widerspruch geraten, wenn es nur das Bild der sog. öffentlichen Meinung sein sollte, an dem die Staatsleitung einen geringen oder nur sehr verborgenen Anteil hat

Erwägungen zur urchristlichen Parainese über das politische Verhalten der Christen (1959)

Von Johannes Hamel

I. Die hermeneutische Grundentscheidung

Die Synode der EKiD im Jahre 1956 hat in ihrer Theologischen Erklärung festgestellt: „Das Evangelium rückt uns den Staat unter die gnädige An­ordnung Gottes, die wir in Geltung wissen, unabhängig von dem Zustande­kommen der staatlichen Gewalt oder ihrer politischen Gestalt.“ Mit diesem Satz hat die Synode eine Grundentscheidung darüber getroffen, wie wir die bekannten Stellen des Neuen Testamentes — vor allem also Römer 13; 1. Petrus 2; 1. Timotheus 2; Titus 3; Johannes 18,33 ff. und 19,9 ff. — zu befragen haben. Es handelt sich um die Entscheidung, ob wir dem NT ein Urteil über den Staat entnehmen wollen (das wir dann entweder übernehmen, modifizie­ren oder ablehnen), wie es die Broschüre von Gerhard Kittel 1939 in ihrem Titel formuliert: „Das Urteil der ersten Christen über den Staat“ und wie es zahlreiche Veröffentlichungen in den Jahren nach 1933 und vorher schon getan haben, oder ob wir nach der guten Botschaft Gottes bezüglich unseres Lebens Je in einem Staat und je unter bestimmten staatlichen Gewalten und Machthabern fragen wollen. Wollen wir im NT eine evangelische Lehre über den Staat, sein Zustandekommen, seine rechtmäßige Ordnung, seine Gesetze, Regierungsweisen und Normen usw. finden, oder suchen wir im NT, auch im Blick auf unsere Entscheidungen im politischen Raum, nach dem Evan­gelium, das uns im Gewissen frei macht zu bestimmten Handlungen und Aufgaben oder auch zu je einem konkreten Nein und je und dann zum Leiden in Konfrontation mit den staatlichen Verantwortungsbereichen, in denen wir nun einmal bei größten Verschiedenheiten der Rechtsformen, der echten Möglichkeiten, politische Verantwortung in der Öffentlichkeit wahrzuneh­men, der Formen des politischen Lebens und der Handhabung der Macht durch die herrschenden Gruppen und der Beteiligung des einzelnen an der Verwaltung dieser Macht zu leben haben? Die Synode hat sich für den zwei­ten Weg entschieden und ist damit den Bekenntnissen der Reformation ge­folgt: „Die Aufgabe des weltlichen Regimentes wird in diesem Artikel (sc. Augustana XVI) also bestimmt durch Aussagen über den Christen in und unter diesem Regiment, nicht durch Aussagen über dieses Regiment an und für sich … Als Darlegungen dessen, was der christlichen Gemeinde zu predigen ist, sind alle Aussagen der Bekenntnisschriften zu verstehen, auch wenn sie als Aussagen über dieses Amt als solches zu formulieren sind… Dieser parainetische Blickpunkt wird weithin … auch von der theologischen Er­örterung dieses Lehrstückes der Bekenntnisschriften übersehen“ (E. Schlink in ‚Theologie der luth. Bekenntnisschriften‘, Berlin 1954, S. 188 f.).

II. Das Zeugnis von Römer 13 und der von ihm abhängigen Texte

Die oben genannten vier Hauptstellen aus der paulinischen Tradition sind Parainesen, die jeweils in einem weiteren parainetischen Zusammen­hang stehen und aus ihm nicht herausgelöst werden können: Römer 12—13; 1. Timotheus 2,1—15; Titus 2,2—3,8; 1. Petrus 2,11—3,9 bzw. 4,11. Hinzu kommt, daß die entscheidenden Worte über unser Verhalten an diesen „politischen“ Stellen auch die Grundtermini apostolischer Parainese für alle anderen Le­bensbezüge sind: hypotassesthai, hypakouein, timan, time, tapeinoun, tapainophrosyne, hesychos, hesychia, agathopoioun, eleutheros und eleutheria (Näheres siehe unten bei V). Hören wir diese Stellen als Zuspruch und Auf­ruf zum Handeln, so haben wir damit einen Schriftgebrauch verworfen, der sowohl in der Literatur wie im Leben von der Christenheit immer wieder geübt worden ist und geübt wird. Sie stellt nämlich oftmals nach irgend­welchen, im Lauf der Kirchengeschich­te oft wechselnden Kriterien und Nor­men entweder fest, daß eine bestimmte Form politischen Zusammenlebens von Gott eingesetzt, gar von Gottes Gnaden sei und man darum dieser Staats­regierung zu gehorchen und in diesem Staat aktiv mitzuarbeiten habe. Oder aber sie kommt zu dem Schluß, daß auf Grund dieser und jener Prinzipien eine bestimmte Machtordnung und Machtverwaltung so pervertiert, so un­rechtmäßig, so illegitim, so revolutionär oder auch so hoffnungslos veraltet und untüchtig sei, daß die Mahnung von Römer 13 hier nicht mehr gelten könne. Diesem Urteil folgt dann entweder die Gleichgültigkeit gegen eine bestimmte Regierungsform oder auch der heimliche oder offene Versuch, die bestehende Ordnung zu stürzen und eine bessere aufzurichten, in der man wieder nach Römer 13 leben könne. Deutsche Theologen haben unter diesem Schriftver­ständnis bis 1933 die Weimarer Demokratie mit zu Grabe getragen und die Machtübernahme 1933 als Zeichen wiedererneuerter echter Staatlichkeit nach Römer 13 begrüßt. Und ebenso haben nach 1945 deutsche Theologen — in einigen Fällen die gleichen Personen — entdeckt, daß vornehmlich die liberale Demokratie den Anforderungen von Römer 13 entspreche. Konservative Sym­pathieerklärung für eine bestehende Form einerseits ruft automatisch gleich­gültige Distanzierung bzw. revoltierenden Aufstand zugunsten einer künftig erst zu schaffenden „echten“ Ordnung andererseits hervor. Die Lehre der Schrift spielt in beiden Fällen nur die Rolle einer nachträglichen ideologi­schen Begründung von Grundentscheidungen und Grundeinsichten, die man abseits des Evangeliums in Römer 13 gewonnen hat und vertritt. Die Christen­heit wird — wir Deutschen haben im letzten halben Jahrhundert einen schrecklichen Anschauungsunterricht darüber bekommen — hin- und herge­rissen werden zwischen sympathisierendem Engagement auf der einen und Desinteressement bzw. fanatischer Revolte auf der anderen Seite! Dem­gegenüber macht es gerade den evangelischen Charakter von Römer 13 aus, daß sie Botschaft an alle, zu aller Zeit, an allen Orten und in allen Situationen für die je hörende Gemeinde ist, lebe sie nun in einer liberalen Demokratie, in einer absoluten, konstitutionellen, parlamentarischen Monarchie, unter einer aristokratischen oder oligarchischen Herrschaft oder unter einer Dik­tatur in all ihren möglichen Spielarten. Sie darf dies Evangelium hören in einem weltanschaulich neutralen oder gebundenen Staat, ja sogar in einem sogenannten christlichen Staat, auch wenn ihr Hören und Gehorsam in einem solchen unter einem bestimmten Aspekt am schwersten sein werden. Empfänger dieser Freudenbotschaft ist jeweils die angefochtene Christenheit, die es je nicht mehr glauben kann (oder glauben will!), daß sie sich im Blick auf die politische Situation und ihre Funktionäre nicht verantwortlich ein­setzen und nicht mehr des Vaters Jesu Christi getrosten kann, der selbst einen römischen Kaiser — Caligula, Nero, Domitian usw. — ihr zum Guten und nicht zum Bösen eingesetzt hat und Herrscher wie Behörden als seine Diakonen und Liturgen gebraucht. Besonders gilt dies Evangelium auch in Zeiten, in denen die Christenheit von dem Gedanken versucht wird, daß ihre derzeitige politische Ordnung dämonisch, deren Wirkung unmenschlich, de­ren Herrschaft alles Menschentum nivellierend, die also schlechterdings wi­dergöttlich, ja antichristlich sei. Es läge uns allen nahe genug, im Zeitalter des westlichen und östlichen Konformismus mit den Dämonien der atomaren Tech­nik wie der lückenlosen Weltanschauungssysteme als Grundbasen staatlich-gesellschaftlicher Gestaltung an diesem Evangelium vorbeizulaufen und resi­gnierend, enthusiastisch, gleichgültig, gnostisch-überheblich oder revoltierend unser Verhalten in politischen Bezügen zu wählen. Vom Politischen her droht unser Glaube zu zerbrechen bzw. sich in eine tote Überzeugung zu verwan­deln, die dann im Dienste irgendwelcher politischer Aktionen oder Reaktio­nen stünde.

Wie sehr die Urchristenheit in gleicher Anfechtung ihren Weg gegangen ist, zeigt ihr Festhalten an Römer 13 von den fünfziger Jahren bis ins 2. Jahr­hundert. Außer den genannten drei anderen Stellen mahnt in den neunziger Jahren die römische Gemeinde korinthische Christen (indem sie eine Gebets­liturgie nach Korinth schickt):

„Laß uns Deinem allmächtigen und herrlichen Namen und unseren Herrschern und Fürsten auf Erden gehorsam sein. Du, Herr, hast ihnen kraft Deiner erhabenen und unsagbaren Macht die Königsgewalt gegeben, auf daß wir der Herrlichkeit und Ehre, die Du ihnen verliehen hast, inne werden und uns ihnen unterordnen, in nichts Deinem Willen zuwider … Richte Du, Herr, ihren Sinn nach dem, was gut und wohlgefällig vor Dir ist, damit sie in Frieden und Sanftmut die Herrschaft, die Du ihnen verliehen hast, fromm führen und Deiner Gnade teilhaftig werden (1. Clemens, 60 f.) “

Die Anordnung Gottes über den Herrschenden gilt, auch wenn sie von dieser Ordinatio Dei nichts wissen und je und dann sich gegen diese Anordnung in konkreten Handlungen, Erlassen und Gesetzen vergehen und damit gegen ihren Herrn und Schöpfer von Fall zu Fall rebellieren sollten. Es ist dafür gesorgt, sagt Römer 13, daß sie auch dann Gottes Regiment in keiner Weise davonlaufen können, ja daß sie in solchen Fällen als Zornesrute, als Gottes Stab und Stecken, als — wenn auch pervertiert handelnde — Knechte und Diener ganz besonders eng unter dem Gott geglaubt werden können, dessen schwere Hand durch sie die Menschheit und die in ihr verstreute Christen­heit züchtigt und zu sich zurückholen will. Inwiefern die apostolische Bot­schaft damit die prophetische Botschaft des AT aufnimmt und vollendet, habe ich an anderer Stelle zu zeigen versucht („Die Verkündigung des Evangeliums in der marxistischen Welt“ in: „Gottesdienst—Menschendienst“, Zollikon 1958, S. 221 ff.).

III. Das Zeugnis der Apostelgeschichte und des Johannesevangeliums

Der Verfasser der Acta, wohl in den neunziger Jahren, also nach der neronischen und kurz vor der domitianischen Verfolgung schreibend, führt nun (wenn auch deutlich als Epigone der Apostel) diese prophetisch-aposto­lische Botschaft unbeirrt fort, indem er den Lauf des Wortes Gottes von Jeru­salem bis Rom beschreibt und dieses geglaubte Regiment Gottes über die staatlichen Behörden in einzelnen Szenen vorführt. Entweder so, daß gerade die römischen Regierungsbeamten dem Recht zum Sieg verhelfen gegen­über dem fanatischen Antichristentum der damaligen Judenschaft oder dem aus irgendwelchen Gründen aufgeputschten Pöbel. Oder aber er zeigt, daß gerade dann, wenn die Staatsgewalt in concreto nun nicht mehr die Bösen bestraft und die Guten belohnt, diese konkrete Pervertierung ihrer ihr von Gott gesetzten Aufgabe den Lauf des Wortes Gottes befördern muß: cap. 4 (und ebenso c. 5) führt das Eingreifen des Hohen Rates gegen Petrus dazu, daß das Wort mit neuer Kraft freimütig verkündigt wird. Sauls Verfolgung (8,1 ff.) bewirkt, daß das Wort nun nach Samarien kommt, und Saul selbst wird zum Apostel (c. 9). Die Verfolgung des Herodes (c. 12) schließt mit dem Satz: „Das Wort des Herrn jedoch wuchs und mehrte sich.“ Ähnlich geht es in Philipen (c. 16), wo die Pervertierung der Stadtgewalten dazu dienen muß, daß der Gefängnisdirektor zum Glauben kommt mit seinem ganzen Hause, und der jüdische Fanatismus gegen Paulus in Jerusalem (c. 21 ff.) be­wirkt, daß das Evangelium vor den Kaiser nach Rom getragen wird. Entspre­chendes wird c. 19,23 ff. erzählt. Die Frage, inwieweit der Verfasser Historie berichtet hat, tritt hinter der Tatsache zurück, daß er an Hand der Geschichte der ersten Gemeinde, wie sie ihm überliefert war bzw. wie er sie sich dachte, das apostolische Evangelium über den staatlichen Gewalten verkündigt hat, und das alles nach der neronischen Verfolgung und dem jüdischen Aufstand und vor der neuen Verfolgung und ein Menschenalter vor dem zweiten jü­dischen Krieg!

Im Johannesevangelium bezeugt Jesus dem römischen Gouverneur Pilatus, der ihn zu Tode bringen will, ausdrücklich: „Du hättest keine Macht über mich, wenn sie dir nicht von oben herab gegeben wäre“ (19,11). Das wird dem Mann staatlicher Gewalt bezeugt, der im Begriff steht, den antichrist­lichen Akt schlechthin zu begehen und den Herrn der Herrlichkeit ans Kreuz zu schicken, eingeschüchtert von dem antichristlichen Fanatismus der jüdi­schen Partei! Auf diese Weise hat der Verfasser, der wohl ebenfalls in den neunziger Jahren oder etwas später schreibt, zwar nur mit einem Satz, aber an hervorragender Stelle und in eindrucksvoller Weise den Gemeinden das gleiche Evangelium eingeschärft wie Jahrzehnte vor ihm Paulus in Römer 13.

IV. Gegenzeugnis der Offenbarung Johannes?

Erhalten wir aber nicht in der Off. Joh. eine andere Antwort auf die Frage nach unserem politischen Verhalten als bisher? Darf denn die Christen­gemeinde in einem Staat, der das Völkerrecht mißachtet, kleine Nationen unterdrückt oder gar vergewaltigt, Eroberungskriege vorbereitet und führt, Kampfmittel herstellt, erprobt und einrechnet, die Menschenmassen wie Un­geziefer vernichten werden, der im Inneren Recht in Willkür verkehrt, die Ge­sinnung seiner Staatsbürger normieren will, eine Weltanschauung oder Reli­gion zur Basis gesetzmäßigen Verhaltens macht — man denke an Spanien — oder zu machen auf dem Wege ist, der das Christentum als lügnerische Fassade pervertiert oder der Kirchen und Christen als seine Feinde ansieht, die er degradiert und denen er Schritt um Schritt den Lebensraum einschnürt — darf die Gemeinde unter solchen Umständen das gleiche Evangelium glauben, frisch und getrost ausharren und nach dem Maß des Möglichen und Gebote­nen Verantwortung in ihrem Staat wahrnehmen? Hören wir etwa in der Offenbarung unter solch dämonischer Seelenverführung oder Seelenknech­tung ein anderes Gebot und eine andere Verheißung als in Römer 13?

Man ist weithin dieser Meinung! Man sagt: Wenn uns in Römer 13 eine staatsbejahende Haltung empfohlen werde, so gäbe es — Gott sei Dank — ja auch Offenbarung 13, nach der eine staatsverneinende, ja staatsfeindliche Gesinnung und Handlungsweise propagiert und gerechtfertigt werde. Beide Kapitel stünden „in Spannung“ zu einander und man dürfe darum Römer 13 nicht verabsolutieren. Damit hat man aber aus der Realität der Verschiedenheit der Situationen auf dem Weg der Gemeinde, die bald einen großen, bald einen sehr, sehr kleinen Raum zum Atmen, Handeln und Leiden hat, eine Ver­schiedenheit des Evangeliums und der Weisung gemacht, unter der die Ge­meinde jeweils ihren Weg zu suchen und zu gehen hat! Nicht die Botschaft ist verschieden, sondern der Ort, an dem wir jeweils das Evangelium hören und befolgen.

Solange die sog. zeitgeschichtliche Auslegungsmethode dominierte, war die­ses Mißverständnis unvermeidlich. Seit Lohmeyers Beitrag zur Forschung (Kommentar zur Off. Joh. in Handbuch zum NT, hg. von Lietzmann, Tü­bingen 1926) ist diese Methode freilich in ihrer Unhaltbarkeit erwiesen. Zwar richtet sich die Offenbarung an eine Kirche, die vor oder schon in einer Ver­folgung steht — der Verfasser selbst ist ja um des Wortes Gottes willen nach Patmos deportiert —, und die widergöttlichen Gewalten, die von außen und innen die Gemeinde vom Glauben abziehen wollen, wirken nicht jenseits der Geschichte und schon gar nicht erst in einer fernen historischen Zukunft. Die gegenwärtige Gemeinde wird ja zum Handeln und Leiden und Glauben auf­gerufen. Aber vom Lamm, das als Herr verkündigt wird, gilt:

„Er ist Anfang und Ende, der Erste und der Letzte, er umspannt aller Zeiten Zeiten. Was die Endzeit allein bringen kann und wird, ist Manifestation dessen, was seit Ewigkeit besteht in dem Tod des Lammes, d. h. in geschichtlicher Tat schon vollzogen ist. Das bedeutet aber, daß alles eschatologische Geschehen, ohne daß seiner dringlich nahen Zukünftigkeit auch nur ein Bruchteil genommen wäre, zu einem zeitlosen Geschehen sich gewandelt hat, von dem deshalb das Wort gilt, daß es war und ist und kommen wird. Es bleibt zukünftig, weil es die Gemeinde aus der Spannung zwischen Gott und Welt, Gott und Geschichte erlöst, weil es den Gegensatz der Welt vernichtet; aber es ist ebenso zeitlos, weil der Glaube Möglich­keit und Norm solchen Geschehens und in dem geschichtlichen Dasein Christi auch seine Wirklichkeit enthält… So stellt Eschatologie in zukünftigen Bildern dar, was der Sinn alles Glaubens in Vergangen­heit, Gegenwart und Zukunft ist… das Ende aller Zeit bringt den Sinn aller Zeit zur deutlichen Manifestation; aber dieser Sinn ist nicht mehr verborgen, sondern in der Gestalt des ‚geschlachteten Lammes‘ schaubar, im Glauben erlebbar und in den die Geschichte der Menschheit von An­fang an bestimmenden Taten und Worten Gottes wahrnehmbar“ (a. a. O. S. 188 f.).

Welches ist aber nun das Evangelium der Offenbarung für die Gemeinde im einzelnen? Wir beschränken uns auf das 13. Kapitel und entnehmen ihm eine doppelte Parainese: Die Gemeinde soll sich einmal keine Illusionen über die Furchtbarkeit dieser widerchristlichen Mächte, ihre Erfolge auf Erden und über die Anziehungskraft machen, die sie auch für die Christen besitzen. Zum zweiten aber wird der Gemeinde Mut gemacht, ihren Weg in Handeln, Leiden und Glauben, den sie unter dem Lamm begonnen hat, in aller Getrostheit und Unbeirrbarkeit zu Ende zu gehen.

a) Alle Naiven und Harmlosen, die die christliche Existenz, die den Weg des Glaubens nicht als derartig gefährlich, abgründig, bedroht auf allen Seiten und mit Entsagen, Opfer und Verzichten mannigfachster Art bis hin zu Gefängnis und Tod beladen ansehen wollen, all diese Blinden oder Blind­spielenden werden durch das grausige Bild vom Tier aus dem Abgrund mit der Nase auf die Wirklichkeit gestoßen, in der der Glaube sich zu bewähren hat. Man kann, soll und muß ganz gewiß die jeweilige Staatlichkeit sehr reali­stisch und nüchtern unter historischen, wirtschaftlichen, gegenwartspoliti­schen, sozialen und soziologischen Aspekten betrachten, werten und aner­kennen und wird dabei zu großen Unterschieden, die nicht übersehen werden dürfen, gelangen. Aber dabei dürfen wir um des Heiles Gottes und unserer Seelen Seligkeit willen nicht versäumen, Offenbarung 13 auch über jedem Staat zu hören und uns die Feindschaft gegen das Evangelium, die zu beobachtenden feinen oder groben Unmenschlichkeiten, die Wandlung von Regierungsfunk­tionen in pseudo- oder antikirchliche Staatsmaßnahmen, die Mißachtung der wirtschaftlich Schwachen und Hilflosen, die einem Raubtier ähnliche im­perialistische Politik des Staates, die Mißachtung des geschriebenen, den ein­zelnen vor Willkürmaßnahmen der Machthaber schützenden Rechtes, die Ver­giftung des menschlichen Lebens durch die propagierte offizielle Lüge, die durch List oder brutale Gewalt durchgesetzt wird usw., aus der Schrift deuten zu lassen: Die Gemeinde hat es hinter und über all dieser geschichtlichen Wirklichkeit mit dem Tier aus dem Abgrund zu tun, das wider die Heiligen streitet. Hinter unseren das Ganze des menschlichen Zusammenlebens um­fassenden und ordnen wollenden industriellen Massenstaaten mit ihrer be­ginnenden oder fortgeschrittenen Ideologisierung der Gesellschaft im kleinen und großen, in denen die christliche Kirche entweder mißbraucht oder be­kämpft (oder beides zugleich!) wird, steht dieses Tier, das Gott lästert, alle zu dieser Lästerung in der einen oder anderen Form bewegen und zwingen will, es anzubeten.

Die gute Botschaft von Offenbarung 13 will warnen, aber sie will die Gemeinde nicht auf das Tier fixieren, sie nicht dazu verführen, nun diese oder jene geschicht­liche Erscheinung mit dem Tier zu identifizieren (um dann die entgegen­gesetzte Erscheinung dem Reich des Guten und Göttlichen zuzuordnen!). Die Warnung will die Hörer bewahren und vom Argen hinwegrufen, weg von allen Illusionen, aber auch von aller Resignation oder „Reaktion“. Offenbarung 13 verkündet auch kein unabwendbares Entwicklungsgesetz der Weltgeschichte mit einem schaurigen Ende, auf das wir hilflos oder gleich Zuschauern im Theater hintreiben. Wer warnt, rechnet offenbar mit der Möglichkeit, daß seine Warnung gehört und befolgt wird. Wer sich warnen läßt, ist gerade nicht in den Abgrund verliebt. Sehe ich recht, so ist die Christenheit im Blick auf die liberale Demokratie des Westens in der Gefahr (und erliegt ihr weit­hin) zu meinen, daß hier Offenbarung 13 nicht zu hören und zu befolgen sei, während die Christen im Blick auf die Staatenwelt des Ostens weithin das Tier mit dem „totalen Staat“ identifizieren und damit diesen Staat auch ihrerseits dämoni­sieren. Es hat eine analoge Erscheinung im deutschen Raum schon einmal gegeben: Vilmar sah in dem 1848 aufbrechenden Liberalismus des Bürger­tums schlechthin den Antichristen und war von da aus ein entschlossener Parteigänger der Restauration (seine geistlichen und geistigen Söhne haben dann ein Menschenalter später in Bismarck so etwas wie den Antichristen ge­sehen und im preußischen Staat die Züge jenes großen Tieres wiedergefunden!). Wer so identifiziert und fixiert, wird auf der anderen Seite dann eine Reihe von geschichtlichen Phänomenen aus der Warnung von Offenbarung 13 ausklammern, und während er nach der eine Seite hin mehr als hellsichtig ist, erblindet er da, wo er ebenfalls sehen, erschrecken, glauben und gehorchen müßte. Die hessische renitente Kirche wie der königlich preußische Sedanprediger dürften beide nicht verstanden haben, in welcher Reichweite und alles um­greifenden Souveränität das Evangelium in Offenbarung 13 die Gemeinde warnen und aufrichten will.

b) Das bisher Gesagte wird unterstrichen, wenn wir auf die zweite Stoß­richtung von Offenbarung 13 achten: Die Gemeinde soll auch zugleich dazu gestärkt werden, im Glauben ruhig und ohne Angst weiter ihre Straße zu ziehen, auf die sie von Römer 13 gesetzt ist. Schrift bestätigt hier Schrift: In Offenbarung 12, direkt vorher, ist in der Vision von dem himmlischen Weib und ihrem Kinde be­richtet, daß der große Drache, der ihr nachstellte, diesen Krieg gegen das Weib verloren hat und nun, da er auf dem Hauptkriegsschauplatz besiegt ist, auf die Erde herabgeworfen, sich den ihm allein noch möglichen Neben­kriegsschauplatz aussucht, auf dem er nicht mehr siegen kann. Nun will er mit denen Krieg führen, die die Gebote Gottes befolgen und das Zeugnis Jesu festhalten (12,17). Von diesem Kriegsepilog handelt nun c. 13: Der Drache sendet und bevollmächtigt das Tier. Aber dieses Tier, das so große Erfolge hat, steht unter der Gewalt und Macht des Herrn. Seine Macht ist ihm nur „gegeben“ (v. 5 und 7 — vier Mal!), seine Zeit ist ihm zugemessen, nämlich 42 Monate lang (v. 5), und alle, die im Buch des Lebens geschrieben sind, werden es eben nicht anbeten müssen (v. 8). Der hörenden Gemeinde aber wird gesagt, daß sie unbeirrt ihren Weg weiterzugehen habe in Glauben und Geduld der Heiligen, d. h. derer, die von Gott zu seinem Eigentum er­klärt worden sind, und daß sich daran auch dann nichts ändert, wenn Ge­fängnis und Tod fällig sind. Nach dem Codex Alexandrinus, der schwierig­sten Lesart, heißt es (v. 10): „Wem Kerker beschieden, geht in den Kerker ein; wer mit dem Schwerte soll getötet werden, wird mit dem Schwert ge­tötet.“ D. h.: Auf diesem Leidensweg steht die Gemeinde unter der ganz speziellen Leitung, Führung und Behütung des allmächtigen Gottes, der auch das Tier am kurzen Zügel hält, so daß die Confessoren und Märtyrer nicht in die Hand des Tieres, sondern in Seine Hand fallen, wenn sie denn gefangen und umgebracht werden. Die Basileia des Herrn wird nicht durch die Macht des Tieres außer Kraft gesetzt, die geschaffene Welt (mit ihrer Staatlichkeit) verwandelt sich keinen Augenblick in die Hölle! Die Parainese von Römer 13 bleibt voll und ganz in Kraft, nur ist die Gestalt des Gehor­sams gegen Gott in der tätigen Mitverantwortung am politischen Leben je und dann mehr ein Leiden als aktive Mitformung. Es geht aber immer nur um ein Mehr oder Weniger! Wer daran zweifeln sollte, sei auf die Parainesen des 1. Petrusbriefes und der Pastoralbriefe hingewiesen, also sehr später Dokumente, die den Aspekt des Leidens mit der Aufforderung verbinden, sich unterzuordnen (darüber siehe unter V: Auch die pervertierten Herren sollen von ihren Sklaven, die dem Evangelium zuhören, unter dem Wort als zu Ehrende angenommen werden. Nach 1. Petrus 2 darf die Gemeinde sich die Erwartung und Hoffnung sagen lassen, daß der Kaiser seine Beamten sendet (unter denen sie zu leiden hat), die Übeltäter zu bestrafen und die zu loben, die das Rechte tun. Wir sehen also am 1. Petrusbrief, wie die Gemeinde zu Ausgang des 1. oder zu Beginn des 2. Jahrhunderts Römer 13 und Offenbarung 13 zu­sammen gehört und als ein Evangelium geglaubt hat.

V. Die Mahnung „Seid untertan“

Die Mahnung: „Jedermann sei untertan …“ ist darum so viel mißverstanden und dann mißbraucht worden, weil man nicht den Gesamtzusam­menhang beachtet hat, in dem sowohl das Wort Hypotassesthai wie die ähn­lichen Aufforderungen zum Gehorchen, zum Ehren, zum Sichselbsterniedri- gen usw. stehen. All diese Worte drücken nämlich ein Wesensmerkmal christ­lichen Verhaltens zueinander, bzw. zum Mitmenschen aus: in der Gemeinde, im Haus und in der Stadt, gegenüber Mitbrüdern, Nichtchristen und auch in politischen Zusammenhängen gegenüber den Machtträgern. Zum „Sichunterordnen“, „Gehorchen“, zu dem „Den-andern-höher-Achten-als-sich-selbst“ werden die Männer gegen ihre Frauen und umgekehrt, die Sklaven gegen ihre Herren (und der Sache nach vice versa! vgl. auch Philemon), die Kinder ge­gen ihre Eltern (und die Eltern sollen ihre Kinder darin ehren, daß sie sie nicht zum Zorn reizen), die Jüngeren gegen die Älteren und die Ältesten gegenüber der von ihnen geleiteten Gemeinde ermahnt. Wenn man so die Mahnung „Seid untertan“ nicht isoliert betrachtet, verliert sie sofort den üblen Beigeschmack, den das Wort „Untertan“ nun einmal in der deutschen Geschichte und Literatur gewonnen hat. Hypotassesthai heißt eben nicht „Mitmachen“ um jeden Preis, nicht „Untertanengehorsam“, nicht „Kotau-machen“ vor Thron und Altar, ist nicht das Verhalten des loyalen Bürgers zur Zeit des Absolutismus. Vielmehr ist diese durch das NT durchlaufende Parainese in der Person und dem Weg des Herrn begründet, der Norm und Verwirklichung dieses Sicherniedrigens zugleich ist: s. 1. Tim 2,3—7; Tit 3,3—7; 2,11—14; 1. Petr 2,21—25; 3,18; Eph 5,25—27; 4,32—5,2; Phil 2,5—11; Kol 2,18.; 20. 22 ff.; 4,1; Eph 6,1. 4. 5 ff. 9; 1. Kor 7,20 ff.; 8,11 f.; Röm 14,7 ff. 15. 20; 15,3 f.; Gal 5,24; 6,2 und viele andere Stellen. Das be­kannteste Beispiel, der Christuspsalm von Phil. 2,5 ff., begründet durch den Hinweis auf den sich selbst erniedrigenden Herrn unseres Heiles die Mahnung an die Gemeinde, den anderen höher zu achten als sich selbst. Die inhaltliche Füllung des Hypotassesthai erfolgt durch den gekreuzigten und auferstande­nen Herrn, der sich als der Freie um unsertwillen erniedrigt und sich selbst für uns dahingegeben hat. Da wir von dieser Tat dieses Herrn leben, ziemt es sich, daß wir uns untereinander in Entsprechung zu diesem donum und exemp­lum auch einander „unterordnen“, so wie sich die Gestalt der Liebe untereinander nach der Liebe bestimmt, die der uns dienende und uns errettende Herr uns erwiesen hat. Versteht man das Hypotassesthai dagegen isoliert, so macht man aus dem Urwort der Nachfolge ein formales und pas­sives Gehorchen, das den „Untertanen“ ihre eigene Verantwortung nimmt und den Mächtigen einen Freipaß zur Willkür ausstellt. An diesem Mißverstehen ist aber nicht das NT, sondern unser Unglaube schuld, der aus dem Ruf zur Freiheit in der Kreuzesnachfolge die Mahnung zum Sichducken ge­macht hat, zum Wohlgefallen der jeweils regierenden Gruppen.

Dieser Tatbestand wird nun durch eine weitere Beobachtung an den Tex­ten bestätigt, die unser politisches Verhalten angehen. Wir gehen dabei von 1. Tim 2,1 ff. aus, wo zur Fürbitte aufgerufen wird. Für wen? Zunächst „für alle Menschen“! Und erst dann schließt sich die Mahnung an, „für die Kaiser und alle, die in obrigkeitlicher Stellung sind“. So erscheint also die Fürbitte für die Regierenden und an der Regierung .in irgendeiner Form Teilnehmen­den als Sonderfall innerhalb des Betens und Dankens für alle Menschen. Sollte etwa dahinter die Meinung stehen, gerade diese Personen seien bei der Fürbitte nicht zu vergessen, die nur zu leicht übersehen werden könnten? 1. Petr 2,13 ff. bestärkt uns in dieser Vermutung. Es heißt dort zunächst: „Seid untertan jeder menschlichen Ktisis“ (nach den neueren Forschungen als Übersetzung eines rabbinischen Terminus technicus mit „Geschöpf“ wiederzugeben), d. h.: „Seid untertan jedem von Gott geschaffenen Menschen“. Und daran schließt sich wiederum, parallel zu 1. Tim 2,1 ff. „… es sei dem Kaiser als dem Oberherrn oder den Statthaltern …“ In v. 17, der zusammen­fassenden Mahnung, heißt es dann ganz entsprechend: „Erweiset jedermann Ehre, liebet die Bruderschaft, fürchtet Gott, ehret den Kaiser!“ Tit 3,1 ff. finden wir dieselbe Verbindung der allgemeinen und speziellen Mahnung zur Unterordnung, nur dort in umgekehrter Reihenfolge. Es heißt zunächst: „Erinnere sie, den Obrigkeiten und Gewalten untertan zu sein, Gehorsam zu leisten, zu jedem guten Werk bereit zu sein“, und geht dann weiter: „… niemanden zu lästern, nicht streitsüchtig zu sein, freundlich, alle Sanft­mut (praytes!) gegen alle Menschen beweisend.“ Titus 3 setzt also bei der schwersten Mahnung ein und bettet sie in die Ermahnung zur Sanftmut (= Niedrigkeit) gegen alle Menschen ein, um dann im folgenden diese Parainese im Werk und Weg Jesu Christi zu begründen. Aber auch in Römer 12 und 13 finden wir diesen Zusammenhang: 12,17 ff. wird ermahnt, mit allen Menschen Frieden zu halten, seine Feinde zu lieben, und nach 13,8 ff. gilt es, niemandem etwas schuldig zu bleiben als die Liebe, zusammengefaßt in dem Gebot, seinen Nächsten zu lieben wie sich selbst. Durch diesen Zusammen­hang hat das Hypotassesthai auch in Römer 13,1—7 seine dem Christusgesche- hen entsprechende Füllung gefunden. Die Auslegung von Römer 13,1 ff. durch die Späteren (1. Petr und Pastoralbriefe, aber auch 1. Clem, Ignatius, Eph 10 und Polykarp XII, 3) trifft also den Sinn der paulinischen Parainese ganz richtig.

Ist das Hypotassesthai (mit seinen sachlich identischen Wortparallelen) also prinzipiell ein Verhalten „gemäß dem Evangelium“ von dem sich erniedri­genden Herrn der Welt, so ist es an jedem einzelnen Ort jeweils ein freies, höchst aktives, Gefühl, Verstand und Willen umgreifendes, sich über Lage und Gegenüber sehr genau Rechenschaft gebendes Handeln, das von An­fang an die Möglichkeit zu einem geistgewirkten Widerstand, zu einer dem Herrn gemäßen Distanzierung und zu einer leidensbereiten Absage an die­sem oder jenem bestimmten Punkte in sich hat. Man kann das an allen Haustafeln und verwandten Stellen erkennen, aber auch an den speziell politischen Parainesen. Die Christen haben als verantwortlich tätige und leidensbereite Zeugen Jesu auch in politicis „dabei zu sein“ und sich nicht über Aufgaben und Plackereien des Politischen „aufgebläht“ (das „Physiousthai“ der Korinther, die sich ihrer „Gnosis“ rühmen) hinwegzusetzen noch gleichgültig zu distanzieren, ein dem Weg Jesu von oben nach unten wider­sprechender Wandel. Sie haben sich nicht über geltende Gesetze — siehe 1. Kor 5,1 ff. — im Freiheitsrausch — „Alles ist mir erlaubt“ — zu er­heben, sie haben aber ebensowenig die Freiheit, sich an dem quasistaatlichen Götzenopfer in Korinth zu beteiligen (s. 1. Kor 8—10) und ihre eigene Ge­fährdung zum Fall wie die Möglichkeit, anderen Brüdern ein Skandalen zu bereiten, zu übersehen. Mit der Mahnung zum Hypotassesthai wird die Chri­stenheit aber auch von allem Zelotismus geschieden, der im Namen des er­sten Gebotes daran geht, die heidnische Regierungsgewalt Roms durch eine Gott gemäße Herrschaft zu ersetzen. Man wird bei dieser neutestamentlichen Parainese niemals die Kette der jüdischen Erhebungen des 1. und des ersten Viertels des 2. Jahrhunderts vergessen dürfen! Die Revolte will immer von unten nach oben und leugnet damit den Heilsweg des Herrn und das uns gebotene Handeln in seiner Nachfolge. Schließlich wird die Flucht in eine Naherwartung mit ihrem Überspringen der Forderung des Tages expressis verbis verbaut: Die Hoffnung auf den nahen Herrn weist gerade in den Dienst und weg von allem „unordentlichen“ Wesen (s. die Thessalonicherbriefe).

VI. Zu unserem Gehorsam heute

Unsere Lage ist durch zweierlei gekennzeichnet: Wir leben in Deutschland einerseits in zutiefst getrennten Welten, in denen hüben und drüben sich alle Probleme jeweils ganz anders gestalten und in denen wir zu je ganz anderen Entscheidungen gefordert sind. Jeder Teil der Christenheit hüben und drüben hat sich in seinem Gehorsam seinen besonderen Aufgaben allein zu stellen. Andererseits sind diese beiden Räume durch Geschichte, Sprache, Abstammung und gegenwärtige politische Situation so eng miteinander ver­flochten, daß jede Entscheidung in dem einen Raum sofort in irgendeinem Sinn in den anderen hineinwirkt. Was z. B. die Christenheit im Westen über das Phänomen der östlichen Staaten- und Gesellschaftswelt denkt, sagt und entscheidet, wird der Christenheit im Osten helfen, nützen oder auch schaden und abträglich sein. Denken und Verhalten der Christenheit in der DDR in politischen Bezügen hat seine positive oder negative Einwirkung auf Ur­teil und Handeln im Westen. Aus dieser Lage, deren Ende wir nicht absehen können, folgt zunächst, daß bei dem Suchen nach unserem jeweiligen Ge­horsam heute Lage und Aufgabe des anderen Teiles so intensiv mitbedacht werden muß, wie es nur irgend geht. Nur ein Aufgeblähtsein könnte diesen Blick auf die Brüder, denen kein Skandalen bereitet werden darf, unter­lassen. Wir müssen dem Sog widerstehen, der zu der äußeren Trennung und der Notwendigkeit, jeweils allein zu entscheiden, auch die geistige und geist­liche Isolierung hinzufügen will, unterstützt durch die Neigung, jeweils nur die eigenen Probleme ernst und wichtig zu nehmen. Die Ausrüstung der Bundeswehr mit Atomwaffen z. B. geht die Christenheit in der DDR genau so an wie die Kirche im Westen, wie das umgekehrt mit dem Problem christ­licher Existenz in einem marxistischen Staat der Fall ist. Die eigene Entschei­dung hat sich im Bedenken des Handelns der anderen drüben noch einmal fragen zu lassen, ob sie eine Gestalt des uns heute gebotenen Gehorsams ist. Dieses angespannte Mitbedenken ist um so notwendiger, als hüben wie drü­ben festgeformte, durch Presse und Propaganda oder eingewurzelte Denk­schemata bedingte Vorurteile über den jeweils anderen Raum uns die Frei­heit zu eigenem Überlegen und Handeln nehmen wollen. Den Schemata dieses Äons aber haben wir uns nicht anzupassen, sondern durch ständige Ver­wandlung unseres Denkens nach dem Guten und Gott Wohlgefälligen immer neu zu fragen. Sicher wird man dabei stets unbefriedigt bleiben und in seinen eigenen Entscheidungen sehr beunruhigt werden. Es ist einfacher und beque­mer, auf der einen Linie nur zu denken und Stellung zu beziehen.

Ein Zweites: Der Glaube an den Auferstandenen und seinen Sieg gewährt uns die Freiheit, in jedem Raum und in jeder Situation nach den Möglich­keiten und Gestalten unseres politischen Gehorsams zu suchen, und also nicht zu resignieren und zu behaupten — wie das jüngst wieder von maß­gebender Seite geschehen ist —, daß christlicher Glaube nur in Räumen mög­lich sei, jedenfalls auf die Dauer, in denen eine politische Freiheit herrsche, wie sie in westlichen Staaten gewährt werde. Die Gestalt des politischen Ge­horsams ist so verschieden, wie menschliches Leben vielfarbig ist. Im Glau­ben aber trauen wir es dem Herrn zu, daß er uns Chance und Form unseres Gehorsams alle Zeit zuweisen und gebieten wird. Darum ist uns jene Ab­sage an einen Staat ab ovo unmöglich gemacht. Dem Schema des Freund— Feindverhältnisses (Ja oder Nein sagen) haben wir nicht zu folgen. Im Glau­ben sollen wir nicht zu einem „System“ Ja oder Nein sagen, sondern sollen nach dem jeweils gebotenen Ja und Nein in concreto suchen. Eine pauschale Stellungnahme, wie die Welt sie fordert, sollte uns um der gebotenen zu­stimmenden oder kritischen Entscheidung im einzelnen Fall unmöglich und uninteressant sein.

Ein Drittes: Es besteht hüben und drüben bei uns die Neigung, die Hintergründigkeit der politischen Welt zu verharmlosen und darum den scharfen Blick für Gut oder Böse zu verlieren. So wenig eine Diktatur des Teufels Reich ist, so wenig ist auch eine liberalste Demokratie ein harmloser Verein, der von der Mehrheit seiner Mitglieder geleitet wird. So wenig wir den Dä­monen ins Angesicht zu sehen haben, so wenig dürfen wir uns jenen kur­zen scharfen Seitenblick ersparen, von dem Karl Barth spricht. Unser Ge­horsam hat sich in einer Welt zu bewähren, in der der Teufel wie ein brüllen­der Löwe umhergeht und sucht, wen er verschlinge. Die gehorsame Gemeinde kommt jeweils gerade darum herum, irgendwelchen westlichen oder östlichen Abgöttern zu verfallen. Sünde ist auch in politicis öffentlich zu behaften, das ist so nach lutherischer wie nach reformierter Lehre. Die Christenheit, die sich willig unterordnet, wird dieses Namhaftmachen begangener Sünde zö­gernd, besonnen, bescheiden und leidensbereit tun, aber dieses Tun ist Mo­ment ihrer Unterordnung und kommt nicht als etwas anderes zu der Unter­ordnung nachträglich hinzu. Sie wird zweifellos damit in Widerspruch zu den Bildern geraten, die alle Zeit eine Staatsleitung von ihrem Wollen, ihren Taten und ihren Erfolgen entwirft und uns glauben machen will. Sie wird auch dann mit diesem Bild in Widerspruch geraten, wenn es nur das Bild der sog. öffentlichen Meinung sein sollte, an dem die Staatsleitung einen geringen oder nur sehr verborgenen Anteil hat. Sie wird ihre konkrete kri­tische Warnung — etwa ihr Zeugnis in einem ideologisierten Staat oder gegen­über atomarer Aufrüstung — sorgfältig von der Revolte abzusetzen ver­suchen und willig sein, etwaige Konsequenzen als Kreuz Christi zu tragen, aber sie wird diese Warnung, wo sie sie aussprechen muß, nicht unterlassen.

Schließlich: Es ist nicht zu übersehen, daß die Mahnung zum politischen Gehorsam (wie zum Gehorsam überhaupt) im NT letztlich von dem Gebot umgriffen wird, den — politisch — anderen den Weg zum Glauben zu öff­nen und nicht zu versperren. Letztlich hat sich die Christenheit als Boten­schar zu verstehen, deren Auftrag sich auch an den „Kaiser“ richtet, zu des­sen Heil und Errettung. Diesem Auftrag dient letztlich auch das Hypotassesthai der Christenheit. Es wird dieser Auftrag allen anderen Aufträgen und notwendigen Entscheidungen voranzugehen haben. Ihr oberster Auftrag ist nicht die Erhaltung und Konsolidierung eines politischen Gefüges — so gewiß ihr Gehorsam als Nebenfrucht auch dazu beitragen wird —, sondern die Botschaft von Gottes suchender Gnade, die allen, auch den Politikern gilt. Sie wird diese Prävalenz ihres obersten Auftrages auch bei ihrem kon­kreten Ja und Nein zu bedenken haben, damit beides zur rechten Zeit, am rechten Ort und den rechten Menschen bezeugt wird. —

Quelle: Ernst Wolf (Hrsg.), Christusbekenntnis im Atomzeitalter, TEH NF 70, München: Chr. Kaiser, 1959, S. 151-163.

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