»Schmerz« aus philosophischer und aus theologischer Sicht. Biblische Palliativtheologie
Von Manfred Oeming
Gibt es im Umgang mit dem Schmerz auch eine geistige und geistliche Komponente? Manfred Oeming vertritt die These, dass die gedankliche Durchdringung und die geistliche Perspektive, innerhalb derer Schmerzen durchlebt werden müssen, einen Einfluss auf den Gesamtprozess haben, und entfaltet diesen Gedanken im Rahmen einer Philosophie und einer biblischen Theologie des Schmerzes.
In einem bewegenden Lichtbildvortrag schilderte Prof. Hubert Bardenheuer, der Oberarzt der Universitätsklinik für Anästhesiologie und in dieser Funktion Leiter der Palliativstation im St. Vincentius Krankenhaus Heidelberg, die Erfahrungen der Schmerztherapie im klinischen Alltag. Dabei erwähnte er auch, dass je ein evangelischer und ein katholischer Seelsorger zum Palliativ-Team gehören. Auf Nachfrage stellte er aber klar, dass die »religionsbezogene Betreuung eher untergeordnet ist«, im Vordergrund stehen geduldige Kommunikation und viel Zeit für den Patienten.
Ich war über diese Aussage überrascht. Das, was die Theologen zu bieten haben, ist »nur« Zeit und Zuhören? Das sind gewiss hohe Güter, aber gibt es für Seelsorger nicht mehr? Mir ist auch aus meiner Zeit als Krankenhauspfarrer (1985-1991) klar, dass das primäre Interesse von Patienten mit Schmerzen darin besteht, dass diese Schmerzen gelindert werden. Opium ist in diesem Fall besser als Religion und Philosophie. Aber gibt es im Umgang mit dem Schmerz nicht auch eine geistige und geistliche Komponente, die sich in gewissem Umfang auswirkt? Das kann man sich leicht an einem elementaren Schmerzerleben klar legen (das übrigens auch das erste Schmerzfeld ist, welches in der Bibel angesprochen wird, und zwar in Gen. 3,16): an den Schmerzen bei der Geburt. Wenn eine Hochschwangere heftige Wehen durchleiden muss, dann macht es doch einen großen Unterschied, ob sie diese starken Schmerzen durchsteht in der Hoffnung und Erwartung, dass am Ende ein lebendiges und gesundes Kind steht, oder ob sie vorher weiß, dass es eine Totgeburt sein wird. Eine Totgeburt ist eine furchtbare Erfahrung, eine sehr hohe psychische Belastung, zumeist sogar eine nachhaltig traumatische Erfahrung. Aber der Unterschied ist deutlich: Wenn der Rahmen des Schmerzes das Leben ist – oder aber der Tod –, dann ändert dies das Erleben im aktuellen Schmerzvorgang schon sehr.
Wenn ich von diesem Beispiel ausgehend verallgemeinere, so komme ich zu der These, dass die gedankliche Durchdringung und die geistliche Perspektive, innerhalb derer Schmerzen durchlebt werden müssen, einen Einfluss auf den Gesamtprozess haben. Ich möchte diesen Aspekt »Palliativtheologie« oder »Palliativphilosophie« nennen. Die Bedeutung dieser »Rahmenvorstellungen« ist für mich schwer zu quantifizieren, vielleicht 10 Prozent, vielleicht mehr, vielleicht aber auch deutlich weniger. Solche theologischen oder philosophischen Gedanken haben es heute schwer. Sie stehen a priori unter dem Verdacht, »Opium des Volks« (Feuerbach) oder »Opium fürs Volk« (Lenin) zu sein, oder anders gesagt, ein Placebo oder gar eine geistige oder geistliche Totgeburt. Dem unter modernen Intellektuellen allgemein üblichen Projektionsverdacht kann ich hier nicht begegnen, sondern möchte in der gebotenen Kürze anleuchten, erstens wie eine »Philosophie des Schmerzes« bzw. zweitens eine biblische »Theologie des Schmerzes« aussehen könnte.
I. »Palliativphilosophie« – heilsame Philosophie des Schmerzes
Dass die Philosophie auch das Ziel haben sollte, den Menschen zu einer bewusst herbeigeführten Schmerzlosigkeit, griechisch apatheia, Apathie im positiven Sinne, anzuleiten, lässt sich in der Geschichte der Philosophie leicht feststellen, wird aber in ganz unterschiedlichen Formen vertreten. Da man die körperlichen Schmerzen mental schlecht beeinflussen kann, geht es also darum, die theoretische Einbindung der Schmerzerfahrung so zu gestalten, dass sie erträglicher werden.
I.1 Die Abwertung des Somatischen
Aus der platonischen Ontologie, die das wahre Sein im Reich der Ideen ansiedelt und die Erfahrungen dieser Welt als bloß vorläufig und nicht so bedeutsam eingestuft hat, ergibt sich eine Geringschätzung der Körpererfahrungen. Der Leib ist demnach bloß ein Gefängnis, ein negatives Hindernis bei der Erkenntnis des eigentlichen Seins. Ziel der Philosophie muss es sein, aus diesem dunklen Kerker des Somatischen frei zukommen und hinauf zu steigen in das Reich der Ideen. Die Schmerzen, die ein Mensch erleiden muss, können sogar eine willkommene Hilfe bei diesem Prozess der Loslösung vom Körper sein. Unter Schmerz löst sich das Denken von der Fessel dieses minderwertigen Leibes leichter ab. Spätestens seit der Stoa wird diese systematische Abwertung als wahre Bewusstseinserweiterung vertreten. Vor allem sollen seelische Schmerzen durch philosophisches Training vermieden werden. Die innere Unerschütterlichkeit, die Ataraxie, gilt als Bildungsziel.
I.2 Die philosophische Umwertung des Schmerzes zum Zeichen der Befreiung und zur Quelle neuen, tiefen Lebens und Denkens
Friedrich Schiller hatte ein schweres körperliches Leiden; jedes Mal, wenn er sich intellektuell anstrengte, überkam ihn anschließend ein schwerer Schmerz in Kopf und Gliedern. Diese Not hat Schiller geradezu in eine Tugend umgewandelt. In einem Brief an Goethe vom 8. Dezember 1797 beschreibt Schiller die Beeinträchtigung seiner Produktivität durch Schmerzen:
»Glücklicherweise alteriert meine Kränklichkeit nicht meine Stimmung. aber sie macht, dass ein lebhafter Anteil mich schneller erschöpft und in Unordnung bringt. gewöhnlich muss ich daher einen Tag der glücklichen Stimmung mit fünf oder sechs Tagen des Drucks und des Leidens büßen.«1
Der Schmerz wird auf diese Weise zum positiven Signal dafür, dass ein intensiverer kreativer Akt stattgefunden hat. Aus einem schmerzgebeugten Körper wird ein Signal von Geistesüberlegenheit.
Ähnlich liegen die Dinge in Friedrich Nietzsches Philosophie des Pathetischen (nicht im alltäglichen Wortgebrauch, sondern als Philosophie des Schmerzes)2. Der Schmerz darf den Körper nicht so weit niederdrücken, dass der Geist das Opfer des Somatischen wird:
»Ich habe meinem Schmerz einen Namen gegeben und rufe ihn ›Hund‹, er ist ebenso treu, ebenso zudringlich und schamlos, ebenso unterhaltend, ebenso klug wie jeder andere Hund – und ich kann ihn anherrschen und meine bösen Launen an ihm auslassen: wie es andere mit ihren Hunden, Dienern und Frauen machen.«3
Nietzsche tritt dafür ein, dass Krankheit, Schmerz und Leid gute Korrektive dagegen bieten, sich in seinem alltäglichen »Wahn« und seinen gewohnheitsmäßigen Phantasmen einzurichten und weiterhin seinen vorgefertigten Vorurteilen anzuhängen. Schmerzen und Qualen reißen aus dem scheinbar Klaren und Selbstverständlichen heraus. In ihrem Licht erscheint manches anders als zuvor. Vieles gewinnt jetzt an Gewicht, was vorher ohne Bedeutung zu sein schien – und andererseits büßt manches von dem, ohne welches man vermeintlich nicht leben zu können glaubte, an Wert ein. »Als Leidender«, hat Nietzsche in der Fröhlichen Wissenschaft einmal geschrieben, sieht man die Dinge in einer »furchtbaren nüchternen Helle«. Damit aber – und darauf will Nietzsche letzten Endes hinaus – wird man frei für neue Sichtweisen, für neue Deutungen, für neue Lebensentwürfe. Auf diese Weise befreien die Schmerzen. Aber man muss durch sie hindurchgegangen sein, damit der Geist wirklich frei wird für eine veränderte Sicht auf die Welt und die eigene Existenz in ihr. Aus diesem Blickwinkel betrachtet kommt bei Nietzsche der »große Schmerz« als »der letzte Befreier des Geistes«4 in den Blick. Da der Schmerz es ist, der uns zwingt, »in unsre letzte Tiefe zu steigen«, können wir Krankheit, Schmerz und Leid eigentlich gar nicht entbehren.5 Ja, Nietzsche geht sogar noch einen Schritt weiter. Mehrfach nämlich betont er, recht besehen sei die Krankheit sogar ein Stimulans des Lebens. So abwegig, wie diese Behauptung dem ersten Eindruck nach klingen könnte, ist sie indessen nicht. Denn über die erkenntnisstiftende und befreiende Funktion hinaus verhilft die Krankheit dazu, das Leben gleichsam neu zu entdecken. Und diese Neuentdeckung des Lebens stimuliert zum Weiter- und Mehrleben6.
In Nietzsche contra Wagner heißt es: »Und was mein langes Siechthum angeht, verdanke ich ihm nicht unsäglich viel mehr als meiner Gesundheit? Ich verdanke ihm eine höhere Gesundheit, eine solche, welche stärker wird von Allem, was sie nicht umbringt«. Und dann setzt Nietzsche noch hinzu: »Ich verdanke ihr auch meine Philosophie …«.7 Nietzsches Philosophie wäre demnach das Resultat einer im Durchgang durch lange Schmerzensphasen und nicht enden wollendem Siechtum errungene höhere Gesundheit.
»Mit dieser Sicht der Dinge bekräftigt Nietzsche aus einer anderen Perspektive seine These von der erkenntnisstiftenden Funktion der Schmerzen. Schmerzen, Schmerz und Siechtum setzen den einzelnen nicht nur in die Lage, sein Leben nach der Genesung auf eine reflektiertere Art und Weise in die Hand zu nehmen; zudem bilden sie, wenn sie in die geistigste Form umgesetzt werden, das Fundament des Philosophierens. Aber der Philosoph transfiguriert sie nicht nur in die geistigste Form, sondern auch in die geistigste Ferne. So bedeutet Transformierung zugleich Distanzierung – denn nach der Transfiguration sind Schmerzenszustände und Schmerzerfahrungen nur noch als überwundene präsent. Aber – und das ist gerade die Pointe, auf die Nietzsche hier aufmerksam machen will –: Gäbe es keinen Schmerz, kein Leid, keine Krankheiten, dann gäbe es für den Philosophen auch nichts zu transfigurieren, dann gäbe es letzten Endes – keine Philosophie.«8 So steht Nietzsche selbst exemplarisch für die von ihm verfochtene These, dass der einzelne nur dann über ein hohes Maß an Gesundheit verfügt, wenn er sich gestattet, auch krank zu sein.
Thomas Mann kann sich später sogar in eine förmliche Schmerzemphase hineinsteigern:
»Der Schmerz … wie das Wort die Brust weitete! … Glauben, an den Schmerz glauben können. … Aber er glaubte ja an den Schmerz, so tief, so innig, dass etwas, was unter Schmerzen geschah, diesem Glauben zufolge weder Nutzen aus noch schlecht sein konnte… das Talent selbst – war das nicht Schmerz?«9
Auf diese Weise wird der Schmerz zum Gütesiegel. Nur das in Schmerzen Errungene, durch Schmerzen hindurch Ertragene besitzt Wert. In philosophischer Reflexion wird der Schmerz zum Signum von geistigem Adel und Bedeutsamkeit. (Auch dies mag ein Grund sein, warum im Christentum das grausame Kreuz zum entscheidenden Symbol gewählt wurde, nicht das sanfte Herz oder der liebe Bruderkuss. Der Schmerz des Kreuzes verleiht dem Glauben Würde und Werthaftigkeit.)
Goethe hat es mit dem Motto über seiner Autobiografie »Dichtung und Wahrheit« auf die Formel gebracht: »Der Mensch, der nicht geschunden wird, wird nicht erzogen.« Wenn man sich als eine philosophische Konzeption die Dinge so zurechtlegt, dass die Erfahrung des Schmerzes etwas sehr positives ist, das letztendlich überhaupt erst Werthaltigkeit und respektable Größe sichert, dann ist es nicht mehr so furchtbar, Schmerzen zu erleiden. In der rein philosophischen Bewältigung gibt es keine Erwartung einer postmortalen Existenz, keine Hoffnung auf ein Gegenüber; es ist ein rein innerweltliches Gedankengebilde.
II. »Palliativtheologie« – heilsame Theologie des Schmerzes
Wer sich mit dem Thema Schmerz theologisch befasst, der muss zunächst eine Horizonterweiterung vollziehen. Der Mensch hat hier ein außermenschliches Gegenüber: Gott. Wer sich der Fragestellung zudem christlich protestantisch, d.h. biblisch-theologisch annähert, der wird gleich zu Anfang eine weitere Differenzierung aufmachen müssen: Schmerz wird nicht nur von Menschen empfunden, sondern auch von Gott bzw. vom Sohn Gottes, Jesus Christus. Die einschlägigen hebräischen bzw. griechischen Vokabeln mak’ob, ke’eb, ‛äzebäh, ‘izabon // ponos kommen sowohl im Blick auf den Menschen als auch im Blick auf Gott/Christus vor.
II.1. Der aktuelle Schmerz des Menschen
II.1.1 Schmerzen gehören zum Leben dazu – nüchterne Demut
Gott ist der souveräne Herr der Welt; er hat die Welt eben so erschaffen, dass in ihr Schmerzen und Leid vorkommen und gleichsam »normal« sind. Das ist schwer zu akzeptieren, aber es ist eine Tatsache. Der Mensch kann sich eine bessere Welt denken, aber er hat sich mit der Realität abzufinden. Angemessen ist es daher, die guten Zeiten dankbar zu genießen (Carpe diem bei Kohelet) und die schlechten Zeiten der Schmerzen gefasst und demütig zu ertragen:
»Haben wir Gutes empfangen von Gott und sollten das Böse nicht auch annehmen?« (Hi. 2,10)
II.1.2 Schmerzen als Wirkung von Dämonen und bösen Mächten – Exorzismen
Die Erklärung von Schmerzen durch das Eindringen lebensfeindlicher Mächte aus der Unterwelt hat eine große Plausibilität. Das, was das körperliche oder seelische Wohlbefinden stört, kommt von außen; es entfremdet mich von dem an sich guten Leib und der intakten Seele. Wenn man Opfer eines Überfalls von Dämonen geworden ist, dann hilft nur noch, mit der Unterstützung von kundigen Personen (Beschwörern, Zauberern) diese Eindringlinge zurückzuschlagen und »auszutreiben«. Ein formgerechter Exorzismus wird im AT nirgendwo geschildert, schimmert aber durch. Schon das Verbot Dtn. 18 belegt, dass es eine Praxis gab, welche zu einem Verbot nötigte; ebenso ist die Polemik Ez. 13 Bestätigung der Ausübung solcher Riten. In der Spätzeit gewinnt diese Deutung immer mehr an Gewicht und kommt namentlich im Tobit-Buch zu einer weitgehenden Entfaltung. Dort wird die Wirksamkeit des Dämons Aschmodai und seine Austreibung mit Hilfe von verbrannter Fischleber breit erzählt. Im NT ist sie absolut zentral: Jesus und seine Jünger treiben die Dämonen aus (Mt. 8,16; Mk. 1,34; Lk. 11,14.20 u.ö.).
II.1.3 Schmerzen als Skandal – Ermutigung zur Klage
Die häufigste Art, Schmerzen theologisch anzuschauen, ist nicht die innere Akzeptanz und ein stilles Leiden. Es ist vielmehr die laute Klage, der Protest und die Anklage Gottes: »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen, bist fern meinem Schreien, den Worten meiner Klage?« (Ps. 22,2). Dass sich Schmerzen ausbreiten konnten, das zeigt, dass die Beziehung zu Gott gestört ist. Der Beter frisst den Schmerz nicht in sich hinein und nimmt die auferlegten Lasten nicht etwa schweigend hin, sondern er wendet sich an die Gottheit. Durch Lob oder Gelübde oder eben auch oft durch Klage und Anklage versucht er seinen persönlichen Schutz-Gott dazu zu bewegen, dass er sich ihm wieder zuwendet. Das hat zur Folge, dass die feindlichen Mächte herausgetrieben werden, dass die Schutzmauer wieder repariert und der Abwehrwall verstärkt wird. Um diese Rückkehr Gottes und die Wiederherstellung des gestörten Heils- (= Gesundheits-)zustandes zu bewirken, sind der Kranke und seine Angehörigen sehr aktiv. Zunächst versucht er, durch ein intaktes Verhältnis zu Gott die Erkrankung zu vermeiden. Regelmäßige Gottesdienstbesuche, anständiges moralisches Verhalten und regelmäßige Gebete und rituelle Opfer gehören also nicht »nur« zum Kult, sondern sind aktive »Gesundheitsvorsorge« und Teil einer Körperpflege, welche die Dämonen a priori abwehrt. Wenn dann aber doch Schmerz über ihn gekommen ist, dann ruft, schreit, brüllt der Malade zur Gottheit; er will sich und sein Leid bemerkbar machen und versucht, Gott regelrecht zu »wecken«, sodass er ihm wenigstens einen Engel zur Rettung schickt (Hi. 33; Tobit).
II.1.4 Schmerzen als Signal – Aufruf zur Umkehr
Schmerzen und Leid können aber auch als sinnhaft verstanden werden. Diese Deutungen dürften für moderne Menschen nicht leicht verständlich bzw. akzeptabel sein. Leid kann begriffen werden als Strafe für individuelle Sünde (z.B. Ps. 51), aber auch für kollektive Verschuldungen, ja sogar für strukturelle Schuld (so das deuteronomistische Geschichtswerk). Solch eine Sicht setzt voraus, dass man in der eigenen Lebenspraxis massive Fehler erkennt und anerkennt. Das gelebte Leben war eine Zerstörung der Beziehung zu Gott, war Revolte gegen Gott, war Sünde. Das Leid wird in solcher selbstkritischen Perspektive annehmbar als »verdiente« Folge von ethischer und kultischer Unreinheit. Die einzig adäquate Folgerung daraus ist das Bemühen, das Gottesverhältnis durch Reue, Buße, Umkehr, Reinigungs- und Sühneriten und Schuldopfer und einen veränderten Lebenswandel möglichst wieder in Ordnung zu bringen.
II.1.5 Schmerzen als Prüfung – Geduldiges Ertragen
Schmerzen können – auch wenn dieser Gedanke wütend machen kann – darin begründet gedacht sein, dass Gott testen will, ob der Glaube eines Menschen ehrlich und tief ist. Die beiden klassischen Figuren für dieses Motiv sind Abraham (bes. Gen. 22) und Hiob (bes. Kap. 1 und 2). Glauben in der Fülle des Lebens und des Glücks ist leicht, erst in Anfechtung und Not zeigt sich, was die Gottesbeziehung wirklich wert ist und was sie aushält. Diese kühne Perspektive ermöglicht ein geduldiges Ertragen als Zeichen der Treue im Glauben. Hiob erfährt nicht einmal, dass seine Schmerzen ein Test waren, aber der Leser weiß es und er kann sich entsprechend spirituell einstimmen. »Halte durch und vertraue auf Gott!«
II.1.6 Schmerzen als Erziehung – Hilfe zur ethischen Reifung
Schmerzen und Leid sind Zeichen der Fürsorge Gottes, der durch Leiden erzieht und reifen lässt (so besonders Elihu in Hi. 32-37). Die jener Deutung adäquate Haltung akzeptiert die Schmerzen als Chance und versucht, sie zur persönlichen Weiterentwicklung positiv umzusetzen. »Gut war es für mich, dass ich gedemütigt wurde, denn so lernte ich deine Gesetze« (Ps. 119,71). »Ja, wohl dem Mann, den Gott zurechtweist. Die Zucht des Allmächtigen verschmähe nicht!« (Hi. 5,16) Schon im berühmten 25. Kapitel der Lehre des Amenemope (ca. 1300 v. Chr.!) heißt es (TUAT III/2, 247):
9 Lache nicht über einen Blinden/verspotte nicht einen Zwerg;
10 hindere nicht das Fortkommen eines Lahmen.
11 Verspotte nicht einen Mann, der in der Hand des Gottes ist (= ein Dementer/Irrer, M.O.),
12 und wende dein Gesicht nicht gegen ihn, um ihn anzugreifen.
13 Der Mensch/das ist Lehm und Stroh;
14 der Gott ist sein Töpfer.
Wenn man die atl. Ethiken analysiert, so zeigt sich im deuteronomischen Gesetz ein hoher Verbindlichkeitsgrad zum Schutz behinderter Menschen: »Verflucht sei, wer einen Blinden irreführt auf dem Wege! Und alles Volk soll sagen: Amen« (Dtn. 27,18). Ähnliches wird im nachexilischen Heiligkeitsgesetz gefordert (Lev. 19,14). Der allgemeine Schutz von behinderten Menschen vor Willkür und Schabernack konzentriert sich besonders auf den Schutz des dement gewordenen Vaters vor Nachstellungen (Sir. 3,14-16). Aber von einem relativ bescheidenen Ethos des Nicht-Schädigens und bloßen Nicht-Tuns hin zu einem aktiven ethischen »Einsatz für …« hat es noch einige Entwicklungen gebraucht. Was die Tora an Unterlassungen fordert, wird in der Weisheit zunehmend in ein ethisches Ideal der liebenden Tat transformiert. Wie eine Untersuchung der Ethik des Hiobbuches herausgearbeitet hat (Opel 2010, 34), ist »Solidarität mit benachteiligten Menschengruppen ein Gemeinplatz ›internationaler‹ Weisheit«. Die zeit- und geldintensive Fürsorge für die Kranken wird in Juda ab der Perserzeit zu einem Kriterium für eine moralisch hoch stehende Persönlichkeit. So kann Hiob im Blick auf seine guten Zeiten feststellen: »Auge wurde ich dem Blinden, und Fuß dem Lahmen war ich!« (Hi. 29,15).
II.1.7 Schmerzen als stellvertretendes Leiden – Dankbarkeit
Schmerzen und Leid können auch begriffen werden als Weg stellvertretender Sühne für fremde Schuld. Durch Schmerzen handelt Gott zum Heil der Menschen: »Aber er [der Knecht Gottes] hat unsere Schmerzen getragen und unsere Schmerzen auf sich geladen. Wir meinten, er sei von Gott geschlagen, von ihm getroffen und gebeugt. Doch er wurde durchbohrt wegen unserer Verbrechen, wegen unserer Sünden zermalmt. Zu unserem Heil lag die Strafe auf ihm, durch seine Wunden sind wir geheilt. … Denn er trug die Sünden von vielen und trat für die Schuldigen ein.« (Jes. 53,4f.10) Der Gottesknecht litt nicht als Strafe für eigene Sünden, er gab seine Gesundheit, sein Leben dahin als ein »Sühnopfer« (53,10); die aufgestauten Sündenenergien haben sich an ihm ausgetobt, damit die anderen, die eigentlich die Strafe verdient hätten, leben. Die adäquate Haltung bei diesem Verstehen ist erschrockene Dankbarkeit und Lobpreis.
Fazit
Die eben skizzierten sieben Deutungen stehen nebeneinander und gegeneinander; man kann sie nicht und darf sie nicht künstlich vereinheitlichen oder systematisieren wollen. Die theologischen Deutungen von Schmerzen sind in den atl. Schriften unterschiedlich und zum Teil bis zum Paradoxen hin spannungsvoll. Es ist wichtig, dies zu sehen. Denn Wahrheit ist – gerade angesichts der Extremsituationen von Schmerzen – persönlich und situativ. Jede Person muss ihren Weg im Umgang mit dem Leiden finden. Eine Erkrankung ist – biblisch gesehen – immer multisystemisch zu sehen; es gibt nicht etwa nur die Feinde von außen als einzige Ursache. Es kommen wenigstens drei weitere Faktoren hinzu: Schmerzen sind auch Ausdruck einer Störung des Systems von innen. Diese Zersetzung der inneren Ordnung wird mit »Sünde« zusammengedacht. Der Mensch hat sich mit der Sünde gleichsam eine »Autoimmunstörung«, ja »Immunzersetzung« zugezogen. Zweitens hat die Gemeinschaft, in welche das Individuum eingebunden ist, eine wichtige Rolle; die Schmerzen des Einzelnen sind immer auch gemeinschaftsbedingt und gemeinschaftsrelevant. Drittens bleibt im Schmerzensfall immer noch alles von Gott abhängig. Gott ist gleichsam das Immunsystem, das für die Gesundheit sorgt. Diese biblische Betrachtung ist umfassender, ganzheitlicher als die Erklärung jeder Malaise nur durch äußere Einflüsse und erscheint reicher, multifaktorieller, näher an der Wirklichkeit als eine doch etwas reduktionistische, mechanische Bakteriologie der modernen Schulmedizin.
II.2 Die Zukunft der Schmerzen – intensives Hoffen auf ihre endgültige Überwindung
Im AT ist die Vorstellung von einer Überwindung aller Schmerzen in der Endzeit relativ weit bezeugt; dieses Motiv begegnet mehr oder weniger breit entfaltet in der späteren Prophetie, besonders in Jes., in Psalmentexten und in der Weisheit. Wenn die Heilung der Kranken nicht in dieser Welt erfolgt, dann doch in jener Welt. Hiob kann – besonders nach der LXX – erwarten: »Doch ich, ich weiß: mein Erlöser lebt, als letzter erhebt er sich über dem Staub.« (Hi. 19,25; LXX: »Meine Haut, die solches geduldig ertrug, möge er auferstehen lassen.«) Aus der Leidensbewältigung heraus bricht an einigen Stellen eine umfassende Hoffnung durch: »Er (Jahwe) beseitigt den Tod für immer. Gott, der Herr, wischt die Tränen ab von jedem Gesicht« (Jes. 25,8). Diese Perspektive auf die Zukunft Gottes hin lässt auch den äußersten Schmerz und die scheinbar tiefste Gottverlassenheit der Schmerzen durchstehen (Ps. 73, bes. 23f).
Diese Texte sind teilweise metaphorisch gemeint, adressieren also den Übergang von Unglauben und Depression hin zu Gotteserkenntnis und Zuversicht, teilweise aber sind sie auch realistisch zu verstehen; die Übergänge sind fließend: »Jahwe öffnet die Augen der Blinden. Jahwe richtet die Gebeugten auf. Jahwe liebt die Gerechten« (Ps. 146,8). Diese Erwartungsperspektive prägt die Verkündigung Jesu vom Reich Gottes, die sich in seinen zahlreichen Krankenheilungen konkretisierte: »Blinde sehen wieder, Lahme gehen, Aussätzige werden gereinigt, Taube hören, Tote werden auferweckt, Armen wird gute Botschaft verkündigt!« (Mt. 11,5) »Wenn ich aber durch den Finger Gottes die Dämonen austreibe, so ist also das Reich Gottes zu euch gekommen« (Lk. 11,20).
II.3 Schmerz Gottes?
Die Bibel kennt einen Gedanken, der in der Umwelt wenig Analogien hat: Gott selbst empfindet Schmerzen! Üblicherweise bildet die Apathie einen Charakterzug jedes Gottes. Im AT ist der Gedanke des Leidens Gottes nur ansatzweise entfaltet. Er begegnet eher in Bildern verpackt, wobei die Vorstellung von der Reue und der Eifersucht Gottes eine besondere Rolle spielen. Eindringlich begegnet der Schmerz Gottes in der Vorstellung, dass Jahwe, der Gott Israels, sich in eine Frau verliebt hat, eben in die Jungfrau Israel, dass er ihr die Welt zu Füßen gelegt hat, sie umschwärmt hat und in bleibender und fester Gemeinschaft mit ihr leben wollte, sie ihn aber betrogen und verlassen hat. Insbesondere der Prophet Hosea entfaltet die Metapher vom leidenden Liebenden. In der Verkündigung dieses Propheten des 8. Jh. v. Chr. führt der Schmerz Jahwe dazu, in Wut auszubrechen und die abtrünnige Ehefrau hart zu bestrafen, aber letztlich würde ihr vergeben und er würde sie wieder zu sich zurücknehmen, wodurch er sich im altorientalischen Kontext aber gänzlich der Lächerlichkeit preisgibt: Schau, was für ein erbärmlicher Gott, der liebt und leidet und gegen alle Konventionen vergibt!
Im NT ist der Gedanken des Schmerzes Gottes grundlegend. Es wird breit entfaltet, dass Gott Mensch geworden ist, dass in Jesus Christus der Schöpfer der Welt in die Welt gekommen ist. In der Welt muss er seelische und körperliche Schmerzen erleiden, das ist ein fundamentaler Charakterzug der Christologie. Auch wenn die Jünger dies immer wieder ablehnen und nicht einsehen und annehmen wollen, dass Jesus leiden muss – der Christus der Evangelien kündet es immer wieder an, dass er große Schmerzen auf sich laden muss: »Und er fing an, sie zu lehren: Der Menschensohn muss viel leiden und verworfen werden von den Ältesten und Hohenpriestern und Schriftgelehrten und getötet werden und nach drei Tagen auferstehen.« (Mk. 8,31 parr.)
Auch wenn Jesus selbst im Garten Gethsemane zutiefst vor den bevorstehenden Schmerzen erschrocken ist und Blut geschwitzt hat (»und er rang mit dem Tode und betete heftiger. Und sein Schweiß wurde wie Blutstropfen, die auf die Erde fielen.« (Lk. 22,44)), so ging Jesus diesen Weg des Schmerzes, die Via Dolorosa, doch bis zum qualvollen Tode am Kreuz. Jesus am Kreuz ist geradezu emblematisch der große Schmerzensmann. Die Dornenkrone, die Geißel, die Nägel durch Hände und Füße, der Speer in die Seite – all das sind Symbole für intensiv durchlittene Schmerzen. In der christlichen Kunst spielt dieser Gedanke eine wichtige Rolle: Christus hat nicht Schmerzen, er ist Schmerz. Er ist das Paradigma schlechthin für menschliches Schmerzerleiden.10
Das Leiden Christi hat eine sühnende Funktion; er versöhnt Gott mit der Welt, sodass Gott die Sünde der Welt vergibt. Christus zieht gleichsam die Folgen aller menschlichen Sünde auf sich und trägt sie hinweg. Wie Christus selbst, so müssen aber auch die Jünger bereit sein, Schmerzen auf sich zu nehmen; die Bereitschaft, Schmerzen zu ertragen, wird geradezu zum Testfall der Ernsthaftigkeit der Nachfolge. Der von den Christen zu ertragende Schmerz gehört zu den »Geburtswehen« der eschatologischen Freude: »Die Frau hat Traurigkeit, wenn sie gebiert, weil ihre Stunde gekommen ist; wenn sie aber das Kind geboren hat, gedenkt sie nicht mehr der Bedrängnis um der Freude willen, dass ein Mensch in die Welt geboren ist. Auch ihr nun habt jetzt zwar Traurigkeit; aber ich werde euch wiedersehen, und euer Herz wird sich freuen, und eure Freude nimmt niemand von euch.« (Joh. 16,21-22) In vielfachen Ankündigungen wird vorausgesagt, dass die Jünger wie Jesus zahlreiche Schmerzen erleiden müssen, aber ihr Leiden wird letztendlich in himmlische Freuden verwandelt werden: Es gibt keine Totgeburt, sondern ein himmlisches Kind.
Im Schmerz kommen sich Gott und Mensch ganz intim nahe. Gott ist Mensch geworden – das bedeutet vor allem: er hat allen Schmerz selbst erlitten. Kein Mensch kann mehr Schmerz erfahren, als Gott selbst ihn erfahren hat – bis in den Tod. Der Isenheimer Altar, heute im Unterlinden-Museum in Colmar (vgl. http://www.musee-unterlinden.com), wurde von Matthias Grünewald ursprünglich geschaffen, um in einem Siechen-Hospital allen Kranken, die damals noch weithin ohne Schmerzmittel furchtbare Qualen durchleben mussten, die Gewissheit zu geben, dass Christus mit ihnen leidet. Wer die zerschundene Haut, den zermarterten Köper, die Brutalität des Schmerzes vor sein geistiges Auge bringt, der kann etwas von dieser Solidarität und Gemeinschaft im Leiden spüren, die nach Grünewald vom Christusbild ausgehen soll. Wir leiden niemals allein, stets in Gemeinschaft mit Christus.
Allerdings gilt dies auch für die Rückseite des Altars mit dem Bild der Auferstehung. Der Glanz und die Wucht des Lichtes des Altars der Auferstehung gelten eben auch jedem, der mit Christus Schmerzen leidet. Christus ersteht nicht alleine auf, sondern zieht alle die Schmerzensreichen dieser Welt mit sich in sein Reich des Lebens.
III. Gesamtfazit
Die philosophische Reflexion zielt entweder auf eine Herabwürdigung des Körperlichen und dadurch auf stoische Scherzunempfindlichkeit oder aber genau umgekehrt auf eine Betonung des Leibes und auf eine Verherrlichung des Schmerzes als Motor neuen Lebens. Die Theologie des Schmerzes zielt auf eine Fülle von aufbauenden Gedanken, die letztlich alle in die Erfahrung der Nähe und Gemeinschaft mit Gott münden. Exorzismen, Klagen, Bußrituale, Demut und Dankbarkeit für die stellvertretende Lebenshingabe des Gottesknechtes, all das führt zu einer unerschütterlichen Nähe zu Gott, dem Ehemann: »Aber Gott wird mich erlösen aus des Todes Gewalt; denn er nimmt mich auf.« (Ps. 49,16) »Als es mir wehe tat im Herzen und mich stach in meinen Nieren, da war ich ein Narr und wußte nichts, ich war wie ein Tier vor dir. Dennoch bleibe ich stets an dir; denn du hältst mich bei meiner rechten Hand, du leitest mich nach deinem Rat und nimmst mich am Ende mit Ehren an. Wenn ich nur dich habe, so frage ich nichts nach Himmel und Erde. Wenn mir gleich Leib und Seele verschmachtet, so bist du doch, Gott, allezeit meines Herzens Trost und mein Teil.« (Ps. 73, 21-26)
Wie weit solche Ideen wirklich helfen können, in der Situation des Schmerzes besser zurechtzukommen, vermag ich nicht abzuschätzen. Aber ich finde es ist Aufgabe des Seelsorgers, nicht nur Zeit zu haben und geduldig zuzuhören; auch solche philosophischen und theologischen Gedanken sollten eine Rolle spielen.
Quelle: Deutsches Pfarrerblatt 113 (2013), Heft 7, S. 376-380.
1 Nationalausgabe, Band XXIX, Weimar 1977,165.
2 Vgl. Friedhelm Decher, Vom Sinn der Krankheit – Nietzsches »große Gesundheit«, in: Dietrich H.W. Grönemeyer/Theo Kobusch/Heinz Schott (Hg.)/Thomas Welt (Mitarbeit), Gesundheit im Spiegel der Disziplinen, Epochen und Kulturen, Tübingen 2008 (= Ars medicinae, Bd. 1), 277-288.
3 Die fröhliche Wissenschaft (= FW), Vorrede 3; Sämtliche Werke, Kritische Studienausgabe (= KSA), hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München/Berlin/New York 1980.
4 Decher unter Verweis auf FW, Vorrede 3; KSA, Bd. 3, 350.
5 Ebd. vgl. FW III, 120; KSA, Bd. 3, 477.
6 Decher unter Verweis auf Ecce Homo, Warum ich so weise bin 2; KSA, Bd. 6, 266.
7 NcW, Epilog l; KSA, Bd.6, 436.
8 S. z.B. FW, Vorrede 3; KSA, Bd. 3, 350. (23) Vgl. Wilhelm Schmid, Philosophie der Lebenskunst. Eine Grundlegung, Frankfurt/M. 1998, 348.
9 Thomas Mann, Werke VIII, 375.
10 Andrea Zimmermann, Jesus Christus als »Schmerzensmann« in hoch- und spätmittelalterlichen Darstellungen der bildenden Kunst: eine Analyse ihres Sinngehalts, diss. theol. Halle 1997, http://sundoc.bibliothek.uni-halle.de/diss-online/ 97/98H110/.