Von Hayo Gerdes
Emanuel Hirsch, geboren am 14. Juni 1888 in Bentwisch, Kreis Westpriegnitz. Theologiestudium in Berlin (bei K. Holl, A. von Harnack, H. Gunkel u. a.), 1915 Privatdozent in Bonn, 1916—17 Pfarrer der badischen Landeskirche, 1921 Ordinarius für Kirchengeschichte in Göttingen, 1936 Ordinarius für Systematische Theologie in Göttingen. 1945 pensioniert.
Hauptschriften: Die Theologie des Andreas Osiander (1919); Deutschlands Schicksal (1920); Die idealistische Philosophie und das Christentum (1926); Jesus Christus der Herr (1926); Schöpfung und Sünde (1931); Kierkegaard-Studien (1930/33); Studien zum vierten Evangelium (1936); Das vierte Evangelium (1936); Das Alte Testament und die Predigt des Evangeliums (1936); Leitfaden zur christlichen Lehre (1938); Das Wesen des Christentums (1939); Paulus (1940); Frühgeschichte des Evangeliums (1940/41); Geschichte der neuern evangelischen Theologie (1949/54); Lutherstudien (1954); Zwiesprache auf dem Wege zu Gott (1960); Das Wesen des reformatorischen Christentums (1963); Hauptfragen christlicher Religionsphilosophie (1963); Predigerfibel (1964); Ethos und Evangelium (1966).
Emanuel Hirsch nimmt innerhalb der Gegenwartstheologie eine Sonderstellung ein, und zwar zunächst wegen der Vielfalt seines literarischen Werks, vor allem aber wegen seiner Eigenständigkeit gegenüber den Hauptströmungen in der Theologie seit dem ersten Weltkrieg. Ursprünglich Kirchen- und Dogmengeschichtler, hat Hirsch sich als Schüler Karl Holls von vornherein nicht in die Grenzen eines theologischen Einzelfachs einschließen lassen. Das gilt sowohl für die von ihm persönlich stets festgehaltene und allgemein geforderte Verbindung von wissenschaftlicher Arbeit mit dem Wirken als Prediger und Seelsorger wie auch für das Ausgreifen der Forschungstätigkeit auf den Gesamtbereich der Theologie und über die Theologie hinaus auf die angrenzenden wissenschaftlichen Disziplinen. Bereits in seiner theologischen Promotionsschrift 1914 hat Hirsch sich mit Fichtes Religionsphilosophie beschäftigt, wie denn die Auseinandersetzung mit der für Hirsch in Fichte gipfelnden kantisch-idealistischen Philosophie auch die theologische Arbeit Hirschs bis hin zu seinem kirchengeschichtlichen Hauptwerk und seinen „Hauptfragen christlicher Religionsphilosophie“ stets mit bestimmt hat. Ähnlich hat Hirsch schon 1920 mit „Deutschlands Schicksal“ seinen geschichts-, staats- und rechtsphilosophischen Überzeugungen einen zugespitzten Ausdruck gegeben. In Verbindung mit preußisch-konservativer Erziehung und einem durch persönliches Schicksal gesteigerten, nachhaltigen Empfinden für das nationale Unglück des Kriegsverlustes hat diese Seite seiner wissenschaftlichen Bemühung Hirsch daran gehindert, den politischen Ereignissen der Nachkriegszeit teilnahmslos oder in einseitig-undialektischer Abhebung der kirchlichchristlichen von den politischen Belangen gegenüberzustehen.
Die Verknüpfung der theologischen mit der allgemein-geisteswissenschaftlichen Forschung ist für Hirsch bedingt durch seine theologische Grundeinstellung und ist demnach nur deren folgerichtige Entfaltung. Diese Grundeinstellung ist die unbedingte Wahrhaftigkeit, die eine Selbstgenügsamkeit theologischen Denkens unmöglich macht und jede Sicherheit innerhalb eines christlichen oder kirchlichen Eigenbereichs zerstört. Hirsch ist zu dieser Wahrhaftigkeit erzogen worden gerade durch die mit der streng lutherisch-orthodoxen Passionsfrömmigkeit des Elternhauses anhebende Durchbildung seines Gottesverhältnisses mit dem Verhältnis zum leidenden und von den Mächten traditioneller Frömmigkeit gekreuzigten Christus. So sind bei ihm persönliche Frömmigkeit und radikalste wissenschaftliche Kritik niemals Gegensätze gewesen oder auch nur Geistesmächte, die in seinem Denken unabhängig nebeneinander bestimmend gewesen wären, sondern sie entspringen aus dem einen und gleichen Grund, dem unmittelbar-persönlichen Gottesverhältnis. Hirsch selber schreibt, er gehöre zu den Theologen, welche gerade durch eine kritische, vor keiner Frage zurückscheuende Theologie für den christlichen Glauben gerettet worden seien. Dementsprechend sind der klarste wissenschaftliche Ausdruck für die Grundeigentümlichkeit der theologischen Arbeit Hirschs seine Schriften zur Geschichte Jesu und des Urchristentums. Hirsch verbindet in seinen Arbeiten zur Frühgeschichte des Evangeliums eine konsequente Anwendung der im 19. Jahrhundert von Ranke entwickelten historischen Methode auf die Geschichte Jesu mit der durch die Begegnung mit diesem Jesus in der glaubenden Subjektivität entbundenen Erkenntnisvollmacht. Formal knüpft er dabei — unter ständiger Selbstkontrolle besonders an den synoptischen Arbeiten Wellhausens — an der Literarkritik H. J. Holtzmanns an und versucht, dessen Zweiquellentheorie zu einem geschlossenen Ganzen fortzubilden. Eine nennenswerte Wirkung auf die Fachforschung ist den neutestamentlichen Arbeiten Hirschs bisher versagt geblieben. Der Grund dafür dürfte in der jahrzehntelangen Vorherrschaft der „formgeschichtlichen Schule“ zu suchen sein, die mit ihrer Bevorzugung rein philologischer, analytischer Methoden und ihrer Gehemmtheit gegenüber geschichtlichen Fragestellungen die „subobjektive“, auf das geschichtlich Individuelle gerichtete Art echten geschichtlichen Erkennens nicht mehr versteht.
Aus dem Ineinander von wissenschaftlicher Bemühung und persönlicher Glaubensbeziehung im Verhältnis zur Gestalt Jesu wird auch die Eigenart Hirschs als Prediger und Seelsorger am ehesten verständlich. Hirsch hat stets Zugang gefunden sowohl zu echter Frömmigkeit altgläubiger Art als auch zum ehrlichen Unglauben. Für ihn ist die wesensmäßige Aufrichtigkeit des Menschen, die der ihn in Frage stellenden Wahrheit stillhält, der alleinige Zugang zum Evangelium. Daraus ergibt sich einerseits, daß, wie Hirsch selber schreibt, ein Unterschied zwischen dem Weg vom Nicht- Christ-Sein zum Christ-Sein und dem Weg vom Christ-Sein tiefer ins Christ-Sein hinein für ihn nicht besteht, und andrerseits, daß der persönliche Glaubensakt stets von überlehrmäßiger Art ist und sich, wenn er echt ist, im anderen Menschen auch unter fremdartiger Ausdrucksgestalt wiedererkennt. Hirsch hat für die Konfirmanden seiner badischen Gemeinde einen Katechismus geschrieben, der unter Festhalten der altgläubigen Ausdruckswelt die evangelischen Lehrstücke auf eine einfachste Form bringt und streng auf die Rechtfertigung allein aus Gnaden bezieht. In seinen Predigten als Universitätsprediger („Der Wille des Herrn“, 1925; „Das Evangelium“, 1929; sowie zahlreiche Einzeldrucke) gibt Hirsch eine von der glaubenden Subjektivität des Predigers getragene meditative Durchdringung und Vergegenwärtigung der Texte. In diese Richtung zielt auch seine Predigtlehre; in der „Predigerfibel“ warnt Hirsch den Prediger insbesondere vor einer falschen Objektivität, welche meint, den christlichen Glaubensinhalt weitergeben oder auch nur besitzen zu können, ohne daß dieser die Subjektivität des Predigers durchbildet und mit ihr zu einem unscheidbaren Ganzen verschmilzt. Im weiteren Sinne darf man zu der seelsorgerlichen Wirksamkeit Hirschs auch seine Romanschriftstellerei zählen, die nach einem Vorläufer („Herzgespinste“, 1932) ihn nach seiner Erblindung 1945 zunächst fast ausschließlich beschäftigt hat. In den Jahren 1952—64 hat er (im Verlag Kaufmann, Lahr) 11 Bände Romane und Erzählungen erscheinen lassen. Hirsch will hier — in gezieltem Gegensatz zu dem Pseudonihilismus der sogenannten modernen Literatur und dem Verfall der Erzählkunst dort — Gestalten geben, die in aller Gebrochenheit menschlicher Schicksalswege dennoch beispielhaft die unaufhebbare Gottbezogenheit des menschlichen Daseins gerade in seiner von der Reflexion nicht durchdringbaren Vielfalt und Zufälligkeit darstellen.
Die Hirschs gesamter theologischer Arbeit zugrundeliegende Frage nach der richtigen Bestimmung des Verhältnisses vom Christlichen zum Menschlichen bedingt auch seine starke Neigung zur Klärung der ethischen Fragen. Hirsch hat das Ethos niemals wie die Theologie des 19. Jahrhunderts und die „dialektische“ Theologie als eine Einzelerscheinung innerhalb der menschlichen Kultur verstehen können, welche dann nur mit der gesamten Kultur zum Evangelium in — positive oder negative — Beziehung träte, sondern er versteht das Ethos als die Grenzlinie, an der menschliches Dasein unentrinnlich vom Jenseitigen berührt wird und das Diesseitig-Menschliche seine wesensmäßige Unabschließbarkeit erfährt. Damit ist für Hirsch das Ethos auch Voraussetzung für das Verständnis des Evangeliums. Ethos und Evangelium stehen in Wechselbeziehung zueinander, und zwar so, daß einerseits das Evangelium die letzte Tiefe der ethischen Antinomien aufdeckt und andrerseits mit seiner Zielung menschlichen Daseins auf die verborgene Gottesliebe den auch unter dem Evangelium bestehen bleibenden ethischen Antinomien ihre existenzzerreißende Macht nimmt. Eine diesem Ansatz gerecht werdende ethische Grundlegung, die eine personalistische anstelle der herkömmlichen Gesetzesethik setzt, hat Hirsch zuerst 1931 in „Schöpfung und Sünde“ versucht, in dem ethischen Teil des „Leitfadens zur christlichen Lehre“ weiter ausgebaut und in vollendeter Klarheit in „Ethos und Evangelium“ abschließend dargestellt.
Die bisher erwähnten Arbeiten Hirschs sind in gewisser Weise nur Parerga zu seinem eigentlichen Lebenswerk, nämlich zu seinen Leistungen auf dem Gebiet der Kirchengeschichte. Freilich kann man die Kirchengeschichte bei Hirsch keineswegs von dem Gesamtentwurf seiner Theologie absondern. Hirsch hat niemals die vom Ursprung her geschichtliche Wesensart christlichen Glaubens aus dem Auge verloren; er hat aber auch im wesentlichen solche kirchengeschichtlichen Arbeiten an den Tag gegeben, welche die großen, in unmittelbarem Bezug zu den wesentlichen Glaubensfragen stehenden Themen zu Inhalt haben. Die historische Einzelforschung ist für Hirsch zwar Voraussetzung, nicht aber Zweck und Ziel seiner kirchengeschichtlichen Forschung gewesen. Begonnen hat Hirsch als Holl-Schüler mit Arbeiten zur Reformationsgeschichte. Sein erstes umfangreiches Buch, das über Osiander, versucht durch Herausarbeiten einer von Melanchthon sich abhebenden Linie der Wirkungen Luthers auf seine Nachfolger im Schnittpunkt gleichsam dieser Linien den Ort der Theologie Luthers selber zu bestimmen. (Diese Methode wird man auch in Hirschs Arbeiten zur Geschichte Jesu wiedererkennen.) Trotz dieser Anfänge ist Hirsch zum eigentlichen „Lutherforscher“ nicht geworden. Immerhin haben kleinere Aufsätze zur reformatorischen Theologie — stets auf geistesgeschichtlich bedeutsame Einzelfragen gerichtet — Hirschs theologische Wirksamkeit ständig begleitet. Die wichtigsten dieser Aufsätze sind — ergänzt durch eine Monographie über Luthers Gewissenbegriff — in den zwei Bänden der „Lutherstudien“ gesammelt. Die kirchengeschichtliche Hauptarbeit Hirschs richtet sich auf die im 17., 18. und 19. Jahrhundert das Christentum ergreifende „Umformungskrise“, die alle bis dahin geltenden Gestalten christlichen Glaubens und Denkens eingeschmolzen hat und die Entscheidungsfrage stellt, ob eine von Grund auf neue Gestalt christlichen Glaubens gefunden oder ob ein in Wahrhaftigkeit gegründetes Verhältnis zum christlichen Glauben in Zukunft unmöglich wird. Auch in dieser „Geschichte der neuern evangelischen Theologie“ sondert Hirsch die theologische Entwicklung nicht aus, sondern stellt sie dar „im Zusammenhang mit den allgemeinen Bewegungen des europäischen Denkens“. Gipfelnd in der Darstellung des deutschen Idealismus und Sören Kierkegaards steht so das Ganze dieses Lebenswerks als „eine ernste Gewissensfrage und ein fast drohendes Mahnmal der Wahrhaftigkeit vor der theologischen und kirchlichen Generation von heute“.
Innerhalb der Arbeit Hirschs an der neuern Theologiegeschichte fällt besonderes Gewicht auf seine Beschäftigung mit Sören Kierkegaard. Schon durch Holl ist Hirsch auf Kierkegaard aufmerksam geworden. Unter kritischer Anlehnung an die dänische Kierkegaardforschung besonders Eduard Geismars und in betontem Gegensatz zu dem Kierkegaardverständnis der „dialektischen“ Theologie entstanden die umfassenden „Kierkegaard- Studien“. Gekrönt hat Hirsch seine Arbeit an Kierkegaard mit der 1950 beginnenden Neuübersetzung und Kommentierung des größten Teils der „Gesammelten Werke“ (19 Bände, 1950/61). Nach Hirschs eigener Aussage hat der Umgang mit Kierkegaard ihn seit 1921 theologisch mit am stärksten durchgeformt.
Besonders an Hirschs Kierkegaard-Arbeit wird das Ineinander sachlich gerichteter Forschungsarbeit und Durchbildung des persönlichen Glaubensverständnisses eindrucksvoll sichtbar. Indessen gilt dies mehr oder weniger von Hirschs gesamtem kirchengeschichtlichen Werk. Deshalb ist nicht überraschend, daß Hirsch im Jahre 1936 die Professur für Systematische Theologie in Göttingen übernehmen und bereits 1938 sein systematisches Hauptwerk, den „Leitfaden zur christlichen Lehre“ veröffentlichen konnte. Der „Leitfaden“ gibt eine in der formalen Geschlossenheit sich an Schleiermachers Glaubenslehre bildende, Kierkegaards Existentialdialektik des Glaubens mit unbedingter Offenheit für die Umbildung des abendländischen Wahrheitsbewußtseins verknüpfende Darstellung der christlichen Lehre, die ihre Mitte hat in der Lehre von Jesus, dem Wort Gottes als Licht im Gewissen, Friede im Gewissen und Berufung im Gewissen. In seinem Alterswerk hat Hirsch als Erblindeter die Hauptthemen seines „Leitfadens“ noch einmal aufgenommen und hat versucht, auf die Grundfragen christlichen Glaubens und Lebens vom Ballast schulmäßiger Begrifflichkeit freie, aber von der Vollmacht des Gesamtwerks getragene Antworten zu geben.
Innerhalb der jüngsten Theologiegeschichte steht Hirsch mit fast seinem gesamten vielverzweigten Lebenswerk im wesentlichen als Außenseiter und Randgestalt da. Zwar ist sein gewissermaßen unterirdischer Einfluß in vielen von seinem Gesamtentwurf ablösbaren Einzelfragen sehr stark; jedoch dürfte die eigentliche Wirkung Hirschs auf die Theologie — es sei denn, daß die evangelische Theologie sich selbst aufgibt — noch bevorstehen.
Quelle: Hans Jürgen Schultz (Hrsg.), Tendenzen der Theologie im 20. Jahrhundert. Eine Geschichte in Porträts, Stuttgart: Kreuz-Verlag 21967, S. 435-441.