Schreiben des Vormundschaftsrichters Dr. Lothar Kreyssig wider die nationalsozialistische „Euthanasie“-Aktion T4 an Reichsjustizminister Franz Gürtner[1]
Brandenburg/Havel, 8. Juli 1940
An den
Herrn Minister der Justiz
Berlin
Als Vormundschaftsrichter in Brandenburg/Havel berichte ich folgendes:
Vor etwa zwei Wochen wurde mir von einem Bekannten berichtet, es werde erzählt, daß neuerdings zahlreiche geisteskranke Insassen von Heil- und Pflegeanstalten durch die SS nach Süddeutschland gebracht und dort in einer Anstalt vom Leben zum Tode gebracht würden. Im Ablauf von etwa zwei Monaten bis heute habe ich mehrere Aktenstücke vorgelegt bekommen, in welchen Vormünder und Pfleger von Geisteskranken berichten, daß sie von einer Anstalt in Hartheim/Oberdonau die Nachricht erhalten hätten, ihr Pflegling sei dort verstorben. Die verwahrende Anstalt habe von »einem Kriegskommissar« oder vom »Kriegsminister« die Anweisung erhalten, den Kranken zur Verlegung in eine andere Anstalt herauszugeben, den Angehörigen aber nichts mitzuteilen. Diese würden von der aufnehmenden Anstalt benachrichtigt werden. Hierin stimmen fast alle Berichte überein. In der Angabe des Leidens, dem der Kranke in Hartheim erlegen sei, weichen sie voneinander durchaus ab. Auch ist der Inhalt der an die Angehörigen oder gesetzlichen Vertreter gegebenen Nachrichten verschieden ausführlich. Alle stimmen dagegen wieder in der Bemerkung überein, daß wegen der im Kriege herrschenden Seuchengefahr der Verstorbene sofort habe eingeäschert werden müssen. In einem Falle handelt es sich um einen wegen Geistesschwäche entmündigten Querulanten, der mehrfach bestraft war. In einem anderen Falle war der Kranke auf Kosten von Verwandten untergebracht. Hier hat der Bruder des Verstorbenen das ihm gesandte Schreiben beigefügt. Es enthält den Satz, daß es aller ärztlichen Kunst nicht gelungen sei, den Kranken am Leben zu erhalten.
Nach anderen Akten sind Anzeichen vorhanden, daß auf ähnliche Weise Kranke auch in sonstige Anstalten verbracht und dort gestorben sind.
Es ist mir kaum mehr zweifelhaft, daß die schubweise aus den Unterbringungsorten abtransportierten Kranken in der genannten Anstalt getötet worden sind. Trifft es zu, so ist zu vermuten, daß es weiterhin geschieht. Ich möchte auch nicht durch eigene Erörterungen vorgreifen. Ich berichte daher, obwohl ich bisher nur Beweisanzeichen habe.
Ich setze im folgenden voraus, daß meine Vermutung zutrifft, d. h., daß man gewisse in Anstaltspflege befindliche Geisteskranke ohne Wissen der Angehörigen, der gesetzlichen Vertreter und der Vormundschafts-gerichte, ohne die Gewähr eines geordneten Rechtsganges und ohne gesetzliche Grundlage zu Tode bringt.
Ich weiß, daß es eine große Anzahl Wesen gibt, die nur noch der äußeren Erscheinlichkeit nach etwas Menschliches haben, im übrigen aber von Geburt an oder durch spätere Zerstörung ihrer geistigen Fähigkeiten ein fast tierhaftes Dasein führen, nach aller menschlichen und ärztlichen Erfahrung nie geheilt werden, in Anstalten versorgt werden müssen, wertvolle Menschenkräfte in großer Zahl nutzlos beanspruchen und dem Volk ungeheure Summen kosten. Die Frage nach dem Sinn solchen Lebens rührt an die tiefsten Daseinsfragen überhaupt. Sie führt unmittelbar auf die Frage nach Gott. So ist auch meine Stellung zu ihr und – denke ich – vieler anderer Deutscher und deutscher Richter durch meinen christlichen Glauben bestimmt. Von dort her ist die »Vernichtung lebensunwerten Lebens« überhaupt ein schwerer Gewissensanstoß. Leben ist ein Geheimnis Gottes. Sein Sinn ist weder im Blick auf das Einzelwesen noch in dessen Bezogenheit auf die völkische Gemeinschaft zu begreifen. Wahr und weiterhelfend ist nur, was Gott uns darüber sagt. Es ist darum eine ungeheuerliche Empörung und Anmaßung des Menschen, Leben beenden zu dürfen, weil er mit seiner beschränkten Vernunft es nicht oder nicht mehr als sinnvoll begreift. Ebenso wie das Vorhandensein solchen hinfälligen Lebens ist es eine von Gott gegebene Tatsache, daß es allewege genug Menschen gegeben hat, die fähig waren, solches Leben zu lieben und zu betreuen, wie denn rechte Liebe ihre Größe und den Abglanz ihrer göttlichen Herkunft gerade dort hat, wo sie nicht nach Sinn und Wert fragt. Es ist vermessen, zu beurteilen oder sich darüber hinwegzusetzen, was wohl »lebensunwertes Leben« für die ewige Bestimmung der Menschen bedeutet, die damit nach den Ordnungen Gottes als Eltern oder Angehörige oder Ärzte oder Berufspfleger verbunden sind.
Ich weiß ferner, daß trotzdem mit einer Denkweise gerechnet werden muß, welche das Problem als sittliches oder rechtliches ohne Rücksicht auf die Glaubensfrage beurteilen will. Auch sie muß den Maßnahmen aus Gewissensgründen widersprechen, weil die Rechtsgewähr fehlt. Man lese nach, was etwa Binding zusammen mit Hoche in der Schrift »Die Vernichtung des lebensunwerten Lebens« über die Notwendigkeit verfahrensmäßiger Rechtsgarantien meint. Zur Zeit ist nicht bekannt, welches die Voraussetzungen für den Todesentscheid sind. Sicher ist nur, daß hier bei grundsätzlicher Bejahung der rechtlichen und sittlichen Möglichkeit die Hauptschwierigkeit liegt. Was ist normal? Was ist heilbar? Was ist diagnostisch mit Sicherheit feststellbar? Was ist im Blick auf den unnützen Auf-wand für die Gemeinschaft noch tragbar? Wer es zu wissen glaubt, der wüßte noch nicht, was der andere darüber meint. Im rechtsgeordneten Verfahren würde dabei helfen, daß der betroffene Angehörige einen begründeten Antrag zugestellt bekäme. Er würde weiter dazu gehört werden. Es müßte ein Gutachten vorliegen, zu dem er Stellung nehmen könnte. Er würde einen Spruch bekommen, aus dessen Gründen ihn das Verantwortungsbewußtsein der Entscheidenden anspräche. Er würde ein Rechtsmittel dagegen haben, um alles vorbringen und durch ein neues Gutachten unterstreichen zu können, was etwa jetzt noch verkannt sein könnte. Und möchte die letzte Entscheidung für ihn nicht minder schwer zu tragen und sogar gewissensanstößlich sein, so würde sich doch alles damit verbinden, was am Rechtsfrieden versöhnlich ist.
Alles das fehlt jetzt. Wer jetzt das Unglück hat, einen nahen Angehörigen in eine Anstalt für Geisteskranke einliefern zu müssen, wird in eine kaum begreifliche Herzensnot gebracht. Er, der von Rechtskunde und Psychiatrie unberührte, einfache Volksgenosse, weiß gar nichts von den Gesichts-punkten, nach welchen sein Angehöriger für die Beseitigung u. U. gar nicht in Betracht kommt. Er weiß nur, daß man damit rechnen muß, eines Tages aus Hartheim die Nachricht vom unerwarteten Ableben des Angehörigen und die Aufforderung zu bekommen, daß man über die Urne verfüge. Noch schlimmer muß der Seelenzustand unter den Anstaltsinsassen sich gestalten. Insbesondere ist m. E. gar nicht abzusehen, welch ungeheuerliche Folgen der dadurch geschaffene seelische Druck für die Kranken haben muß, die nur wenig gestört, aber natürlich psychisch oder nervös oder geistig besonders anfällig sind. Russische Emigranten berichten ergreifend über die Seelenlage von Gefangenen in Kerkern, wo täglich um dieselbe Stunde der Henker eine Anzahl Gefangene aufruft, die ihm folgen müssen, um erschossen zu werden. Nicht ob es geschieht, ist entscheidend und macht den unbeschreiblichen seelischen Druck aus, – die Entscheidung zum Tode kann im Gegenteil fast befreiend empfunden werden, weil es wenigstens Entscheidung ist – sondern daß es möglich und unberechenbar, weil in einem Zustand von Rechtlosigkeit dem Gutdünken und der Willkür anheimgegeben ist. Das darf man bedenken, wenn man sich die Lage von Anstaltsinsassen – aber auch ihrer Angehörigen – vorstellen will.
Die Anstalt Hartheim nennt in jedem Bericht eine natürliche Todesursache, in dem einen Fall mit dem Zusatz, daß alle ärztliche Kunst nicht vermocht habe, den Kranken am Leben zu erhalten. Jeder aber weiß wie ich, daß die Tötung Geisteskranker demnächst als eine alltägliche Wirklichkeit ebenso bekannt sein wird, wie etwa die Existenz der Konzentrationslager. Das kann gar nicht anders sein.
Recht ist, was dem Volke nützt. Im Namen dieser furchtbaren, von allen Hütern des Rechtes in Deutschland noch immer unwidersprochenen Lehre sind ganze Gebiete des Gemeinschaftslebens vom Rechte ausgenommen, vollkommen z. B. die Konzentrationslager, vollkommen nun auch die Heil- und Pflegeanstalten. Was beides in der Wirkung aufeinander bedeutet, wird man abwarten müssen. Denn der Gedanke drängt sich auf, ob es denn gerecht sei, die in ihrem Irrsinn unschuldigen Volksschädlinge zu Tode zu bringen, die hartnäckig-boshaften aber mit großen Kosten zu verwahren und zu füttern.
Das bürgerliche Recht besagt nichts darüber, daß es der Genehmigung des Vormundschaftsrichters bedürfe, wenn ein unter Vormundschaft oder Pflegschaft und damit unter seiner richterlichen Obhut stehender Geisteskranker ohne Gesetz und Rechtsspruch vom Leben zum Tode gebracht werden solle. Trotzdem glaube ich, daß »der Obervormund«, wie die volksverbundene Sprechweise den Vormundschaftsrichter nennt, unzweifelhaft die richterliche Pflicht hat, für das Recht einzutreten. Das will ich tun. Mir scheint auch, daß mir das niemand abnehmen kann. Zuvor ist es aber meine Pflicht, mir Aufklärung und Rat bei meiner vorgesetzten Dienstbehörde zu holen. Darum bitte ich.
gez. Kreyssig,
Amtsgerichtsrat.
Quelle: Ernst Klee (Hrsg.), Dokumente zur „Euthanasie“, Frankfurt a.M.: S. Fischer, 1985, S. 201-204.
[1] Der Bericht wurde über den Dienstweg vom Berliner Kammergerichtspräsidenten Heinrich Hölscher (1875-1945) an Reichsjustizminister Franz Gürtner weitergeleitet. Er ist nicht in Kreyssigs Personalakte enthalten, sondern findet sich in den Akten des Oberkonsistorial-Präsidenten von Magdeburg. Nach dem Krieg wurde er erstmals abgedruckt in: Die Innere Mission, Monatsblatt des Central-Ausschusses für die Innere Mission der deutschen evangelischen Kirche, Jahrgang 37, Heft 5/6 (1947), S. 40-43.
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