Wenn du nicht sprichst, o Herr
Wenn du nicht sprichst, o Herr, wer soll dann sprechen?,
da diese Zeit so sehr des Worts bedarf!
Wer wird auch sonst den schweren Bann zerbrechen,
den eine Dunkelheit uns überwarf,
in der wir wie Gelähmte taumelnd stehen …
Wer soll die Zeichen, die geschehen, verstehen,
wenn du dein Wort aus unsrer Mitte nimmst?
Wie soll das Instrument noch einmal klar ertönen,
wenn du es nicht mit starken Händen stimmst?
Nur du vermagst aus diesem grenzenlosen Stöhnen
noch eine reine Melodie zu ziehn …
Wir sind zertreten, sind beschmutzt, bespien,
und die Gebete gingen alle fort
in Einsamkeiten, die wir nicht mehr wissen …
O dass wir flehend dich vom Himmel rissen!
Dich, deine Gnade – und dein klares Wort …
Christine Lavant (1915-1973)
Aus dem 1948 fertiggestellten, jedoch unveröffentlichten Gedichtband Die Nacht an den Tag.
Quelle: Christine Lavant, Werke in vier Bänden, Band 3: Gedichte aus dem Nachlass, herausgegeben von Klaus Amann und Doris Moser, Göttingen: Wallstein Verlag, 2017.