Johannes Hamel, Predigt über 1. Timotheus 2,1-6 (1955): „Macht Gottes Retterwillen nicht wieder klein und schäbig! Er hat die Leute im Zuchthaus in Naumburg ebenso lieb wie die, die sie verurteilt haben und bewachen! Er hat uns in der Kirche ebenso lieb wie alle übrigen Naumburger! Er hat die Russen lieb zusammen mit uns Deutschen, den Amerikanern, den Chinesen und alle übrigen Völker der Erde. Er hat die böse Schwiegermutter, wenn sie böse ist, ebenso in alle Ewigkeit lieb wie ihre Schwiegerkinder! Der Funktionär der Partei, den Kaufmann, den Arbeiter, den Volkspolizisten, den Kapitalisten – sie alle haben eine Würde, sie alle sind adlig: Gott ist für sie alle da als ihr guter und gnädiger Gott durch Jesus Christus, unsern Heiland.“

Predigt über 1. Timotheus 2,1-6 (1955)

Von Johannes Hamel

Liebe Brüder und Schwestern! Was würdet Ihr tun, wenn in diesem Augenblick draußen, vor der Kirchentür, Trompeten erschallten, so laut und kräftig, daß meine Worte nicht mehr verstanden werden könnten? Nicht wahr, Ihr würdet alle aufschrecken und gespannt hinhorchen: »Was kommt nun?« Der Küster würde vielleicht an die Tür laufen und öffnen. Und was würdet Ihr tun, wenn dann eine Stimme erschallte, verstärkt mit einem Riesenlautsprecher, so laut, daß sie in ganz Naumburg zu hören wäre? Nicht wahr, dann würdet Ihr hören, wie Ihr noch nie zugehört habt! Und was würdet Ihr tun, wenn dann diese gewaltige Stimme riefe: »Alles herhören! Wichtigste Meldung, wichtiger als alles andere, was Ihr in Naumburg gerade tut und redet! Es geht Euch alle an, es geht um Euer Leben!« Wir würden Kirche Kirche sein lassen und die Meldung hören, denn es geht ja um unser Leben!

Nun, das ist ein gedachter Fall. Aber täuscht Euch nicht: wenn die Bibel heute mit dem Sätzchen beginnt: »So ermahne ich nun, daß man vor allen Dingen …« dann wird uns heute, am 17.7.55, am Vortage der Genfer Konferenz, eine Meldung gemacht, in der es um unser Leben geht! Ihr hört zwar nur die Bibelworte, Ihr hört nur Worte eines Naumburger Pastors in Talar und Beffchen, Ihr sitzt auf den Kirchen­bänken und in 2 Stunden wieder zu Haus beim Mittagessen! Aber täuscht Euch nicht: was Ihr heute von Gott hört, das ist eine unerhörte Meldung, eine Botschaft, die über Euch und Eure Kinder entscheidet. Gott redet jetzt noch mit leiser Stimme, jetzt noch wirbt er um uns hier in Naumburg, ob wir ihn wohl hören. Er wird einmal mit den Toten und Lebenden, mit allen Völkern des Ostens und Westens laut reden. Heil denen, die ihn schon jetzt hören und ihm gehorchen, da er noch leise und freundlich mit uns spricht in der Situation des Juli 1955! Heil allen, denen heute diese Botschaft kein frommes Gerede, sondern das Brot wird, von dem sie heute und morgen leben!

Die Meldung hat drei kurze Sätze: Gott will alle Menschen retten! Betet darum für alle Menschen! Dann werdet Ihr für Gott und Men­schen leben und nicht umkommen!

Gott rettet, das ist sein Wille, alle Menschen! Da sind sie in Genf heute schon versammelt; die Russen und die Amerikaner, die Englän­der und die Franzosen, und wollen verhandeln über Frieden und Krieg und auch über uns Deutsche. Und um sie herum sitzen die Beobachter aus vielen Nationen, Deutsche auch aus der Deutschen Demokratischen Republik und der Bundesrepublik, feindliche Brüder, die sich in Presse und Radio kein gutes Wort mehr gönnen, die sich hassen und schmähen und beschimpfen. Und hinter ihnen unsichtbar die vielen Millionen Menschen, erwartungsvoll oder auch hoffnungslos, leichtsin­nig oder besorgt, teilnehmend oder auch gleichgültig – miteinander, nebeneinander und viele gegeneinander! Unter ihnen zwei Völker, die nicht an dem letzten Völkermorden der Welt schuld sind, die in den letzten Jahren hineingerissen worden sind in den Krieg der großen Mächte, die Millionen ihrer Landsleute in den letzten vier Jahren verloren haben und die nun zerteilt sind in je zwei Staaten. Vergessen wir sie heute nicht: die koreanischen und indonesischen Väter und Mütter, die ihre Kinder sterben sahen! Auch sie gehören zu den Menschen, die Gott retten will! Und dann wir Deutschen, die so ganz anders dran sind! Wißt Ihr’s noch? Vergeßt das ja nicht, wie vor 20 Jahren Menschen unter uns, gleicher Sprache und gleicher deutscher Geschichte, auch hier in Naumburg auf einmal keine Menschen mehr waren, sondern »nur« noch Juden? Wir denken nicht mehr gern daran, aber Ihr erinnert Euch doch noch, wie Deutsche ihre Wohnungen plünderten und zerstörten, wie sie die Männer in einer Nacht in ganz Deutschland, in unser aller geliebtem Vaterland, in die Vernich­tungslager schleppten und Frauen und Kinder hilflos und schutzlos zurückblieben! Denkt Ihr noch daran, wie sie dann mit dem Judenstern gebrandmarkt wurden und man ihnen scheu aus dem Weg ging? Wie sie dann nach und nach von den Straßen verschwanden, nach Osten deportiert, und wie einer dem anderen zuraunte: »Die kommen nicht wieder«! Es waren doch keine Menschen, sondern »bloß Juden«! Denkt Ihr auch noch daran, wie 1941 und in den folgenden Jahren nicht nur Juden für die Deutschen keine Menschen mehr waren, sondern wie in den Kriegsgefangenenlagern Millionen Soldaten, die sich unserer Wehrmacht ergeben hatten, damit sie gefangen, aber nicht ermordet wurden, an Hunger und Seuchen dahinstarben? Man sagte uns: »Das sind ja keine Menschen mehr!« Und dann bekamen wir’s genau heimgezahlt, was wir getan hatten: nun waren wir keine Menschen mehr wie die andern, sondern eben bloß noch Deutsche! Und nun sagt Gott zu uns allen, die sich gegenseitig nicht mehr als Menschen behandelt haben und behandeln: Ich will sie alle, alle retten! Sie sollen nicht als die Verfluchten sterben, die anderen Menschen fluchen! Sie sollen nicht in alle Ewigkeit verderben unter meinem Zorn, mit einem Herzen voller Feindschaft gegen ihren Schöpfer! Sie sollen nicht mit der geballten Faust gegen Herrn und Gott in die Hölle fahren! Gott will, daß wir vor ihm leben, jetzt und in alle Ewigkeit! Er hat das gesagt, er hat das beschworen, er hat darüber ein für alle Mal entschieden, für jeden Menschen entschieden. Er hat einen Mittler geschickt, der hat es gesagt und bezeugt und ist dafür ans Kreuz geschlagen und hingerichtet unter dem Hohn und dem Fluchen dieser Menschen. Gott ist Mensch geworden, damit alle Menschen Gott gehören und Gott ehren. So hoch schätzt Gott uns alle ein, daß Er sich seinen Sohn vom Herzen riß und ihn preisgab, uns den Fluchenden und Verfluchten, die wie Tiere, nein, schlimmer als Tiere übereinander herfallen! Wir alle, in allen fünf Erdteilen mit allen verschiedenen Ideologien, die wir uns zurechtmachen, wir alle, sind von dem Einen freigekauft. Wir waren Sklaven, die einem bösen Besitzer gehörten, der uns allen Böses befahl und tun ließ! Wir waren Leibeigene, die stumpf und blind diesem unheimlichen Herrn folgten, gequält und wieder quälend, verfangen in Lüge und Unrecht! Nun aber will Gott – er hat das gesagt, er hat das durch den Tod Jesu Christi beschworen -, daß alle Menschen die Wahrheit erkennen. Durch Wahrheit freie Leute! Das will Gott mit allen Menschen! Menschen, die ihre Lügen lassen und Gott fürchten. Menschen, die sich ihr böses Herz nicht verhüllen, sondern die den guten Gott loben, der uns böse Menschen gerettet hat vor uns selbst, vom Bösen, aus dem Tode!

Und nun macht keine Vorbehalte! Denkt jetzt nicht heimlich im Herzen: »Aber alle will Gott doch nicht retten! Alle haben das wohl nicht nötig!« Oder: »Alle sind’s ja wohl nicht wert!« Macht Gottes Retterwillen nicht wieder klein und schäbig! Er hat die Leute im Zuchthaus in Naumburg ebenso lieb wie die, die sie verurteilt haben und bewachen! Er hat uns in der Kirche ebenso lieb wie alle übrigen Naumburger! Er hat die Russen lieb zusammen mit uns Deutschen, den Amerikanern, den Chinesen und alle übrigen Völker der Erde. Er hat die böse Schwiegermutter, wenn sie böse ist, ebenso in alle Ewigkeit lieb wie ihre Schwiegerkinder! Der Funktionär der Partei, den Kaufmann, den Arbeiter, den Volkspolizisten, den Kapitalisten – sie alle haben eine Würde, sie alle sind adlig: Gott ist für sie alle da als ihr guter und gnädiger Gott durch Jesus Christus, unsern Heiland. Und auch die Staatsmänner in Genf gehören dazu! Alle Vertreter der Nationen dort, auch die deutschen Politiker aus Ost und West! So sind sie alle in Wirklichkeit dran: verfluchte Menschenkinder, die Gott von allem Fluch freigekauft hat. Menschen alle, über denen die Sonne aufgegangen ist, ob sie es wissen oder noch nicht wissen. Menschen sie alle, denen Gott ein neues Leben schenken will. Das ist die Wahrheit, die alle erkennen sollen!

Darum betet für sie alle! Was sollen wir denn miteinander anfangen, wenn wir das gehört und verstanden haben? Daß wir uns einander Böses antun, daß wir gleichgültig aneinander vorbeilaufen, bis Zank im Kleinen und Krieg im Großen ausbricht, das kennen wir alle in Naumburg zur Genüge! Daß wir uns gegenseitig hassen und mißtrauen, daß wir uns schikanieren, verleumden, bedrücken, anlügen – das geschieht täglich unter uns, in den Häusern, den Fabriken, den Büros, in Läden und Amtsstuben, in Schulen und vor Gericht. Davon sind die Zeitungen täglich bis zum Rande voll! Betet für alle, für einander! Beten ist: von Gott große Dinge er­warten und Gott das sagen. Beten heißt aber auch: von Gott große Dinge bekommen und Ihm danken. Für andere beten heißt: Die anderen in Gottes Tun mit hineinnehmen und die anderen, keinen einzigen anderen, da draußen lassen, wo Haß und Feindschaft, Groll und Murren regieren. Wer gehört hat, daß Gott keinen da draußen lassen will, wo sein Zorn und sein Fluch ihr Werk tun müssen, der gönnt den anderen, allen anderen, einen Platz in seinem Beten. Es sind doch Mütter unter Euch, die für ihre Kinder beten: »Behüte sie, Gott!« Gott will aber keine parteiischen Gebete, er will doch uns alle. Darum vergeßt nicht, die Ihr so gern vergeßt! Wenn wir treu für Menschen beten, dann vergessen wir auch nicht, was wir an ihnen zu tun haben! Undenkbar, daß ich für ein altes Rentnerpaar mit geringer Rente bete und vergesse mein Portemonnaie aufzutun! Undenkbar, daß ich für die bete, die mir Böses antun, und tue ihnen wieder Böses statt Gutes! Undenkbar, daß wir für Verhaftete und Gefangene beten und helfen nicht, wo wir können! Wenn wir für unsere Kollegen am Arbeitsplatz, für unsere Flurnachbarn, mit denen wir uns bisher gezankt haben, für politische Funktionäre, für alle beten, die uns begegnen, dann bekommen wir sie neu aus Gottes Hand, wie sie wirklich sind: Menschen, mit denen Gott Gutes und nicht Böses vorhat!

Und vergeßt dabei um Gottes willen Eure Minister, Euren Präsiden­ten, Eure Bürgermeisterin, Euren Stadtrat nicht! Betet für Eure Polizisten und Richter, betet für die Männer in Genf jetzt! Extra auf solche Leute weist die Bibel heute hin. Offenbar, weil die Christenheit gern vergißt, daß sie auch diese Menschen der Macht mit hineinneh­men muß in den Raum, wo Gott uns gut ist. Wenn uns die Machthaber so wert sind – Gott hält sie seiner Liebe für wert -, daß wir ihre Namen vor Gott nennen, dann gehen wir menschlich und nicht un­menschlich mit ihnen um! Freilich verständlich, wenn wir zwar für unsere Kinder beten, aber die Machthaber vergessen! In den ersten Jahrzehnten der Christenheit regierten dunkle Gesellen in Rom: Caligula, Nero, Domitian, Männer mit blutigen Händen, voller Unrecht und Gewalttat, denen ihre Untertanen nichts galten, die mit Menschen spielten, als wenn sie Murmeln wären! Welch ein Unterschied zwischen diesen dunklen Gestalten und dem kleinen Kind, über das sich die Mutter voller Freuden beugt und für das sie die Hände faltet! Aber: die Männer der Macht haben unsere Fürbitte fast noch nötiger als unsere Kinder! Macht will zu Unrecht verführen! Der Mächtige verachtet leicht die andern, kleinen Menschlein in seinem Staat! Den Machthabern wird geschmeichelt, als ob sie keine sündigen Menschen wären, Verfluchte, die Gott retten will. Hinter Mächtigen redet man gern im Geheimen schlecht her! Wenn Mächtige ihre Macht verlieren, dann wollen sich viele an ihnen rächen! Ihr sollt es anders machen, sagt uns heute die Bibel! Gerade im Blick auf die dunklen Gestalten der damaligen römischen Kaiser! Auch für sie ist Gott ihr Gott, auch für sie ist Christus gestorben, auch ihnen gilt die Freudenbotschaft der Errettung! Auch sie sollen Menschen für Gott werden, denn Gott ist Gott auch für sie!

Was sollen wir denn für die Männer in Genf heute und in dieser Woche beten? Wünsche haben wir eine ganze Menge: wir möchten wieder ein freies und einiges Vaterland haben, ohne Besatzungstrup­pen, so wie es die Österreicher, will’s Gott, bald bekommen. Das sind Wünsche. Aber vergessen wir doch nicht: Wünsche, noch viel dringendere, noch viel brennendere Wünsche und Bitten haben noch viele andere außer uns Deutschen! Da wollen die 360 Millionen Inder Frieden in der Welt haben, damit sie in Ruhe endlich, endlich ihren Staat und seine Wirtschaft aufbauen können und damit nicht mehr ein großer Teil ihrer Kinder abends hungrig zu Bett gehen muß! Da sind die Koreaner, deren Land auch zerteilt ist, die aber nur einen Waf­fenstillstand haben, der sich jederzeit wieder in einen blutigen Krieg verwandeln kann! Da fürchten sich Hunderte von Millionen vor einem neuen Krieg, der für sie ebenso schrecklich wäre wie für uns. Da haben andere Völker die Sorge, wie wir Deutschen uns dann benehmen würden, wenn wir bald frei und einig würden. Viele trauen uns nicht! Haben sie nicht allerlei Grund dazu? Vergessen wir sie doch nicht: unsere großen und unsere vielen kleinen Nachbarn, die von uns Böses und nichts Gutes in den Kriegsjahren erfuhren, haben auch ihre bestimmten Wünsche, Sorgen und Befürchtungen!

Sollen wir Gott unsere Wünsche vortragen? Gewiß, wenn wir jetzt miteinander und hoffentlich in dieser Woche noch oft beten, dann wollen wir Gott auch all das Leid und den Jammer klagen, unter dem wir seufzen und der uns fast zu schwer wird. Aber wir können das nur tun, wenn wir vorher gebeten haben, von ganzem Herzen und noch viel inniger, daß Gottes Heiliger Geist die Staatsmänner in Genf, ihre Berater und Mitarbeiter nicht allein lassen möge, sondern ihnen etwas enthüllen möge von seinem Heiligen Willen, damit sie nicht böse und verstockt, sondern demütig und willig miteinander sprechen. Denn Gottes Gnadensonne ist auch über ihnen aufgegangen! Auch sie sollen gerettet werden aus Fluch, Zorn und Sünde! Und über der Fürbitte für die Männer in Genf hinaus laßt uns in Zukunft nicht vergessen: unsere Regierung, alle ihre Glieder und wer sonst noch etwas bei uns zu sagen hat, sollen uns so hoch stehen, so ganz und gar unter Gottes Gewalt und Güte, daß wir für sie beten. Für sie beten heißt nicht ihnen schmeicheln, sie verehren, sie anbeten. Das gerade nicht! Wenn die Gemeinde sich sammelt, um Person und Werk aller Menschen, auch der Machthaber vor Gott zu bringen, dann veranstaltet sie keine politische Demonstration, sondern wenn Ihr für Präsident Pieck und Ministerpräsident Grotewohl betet, dann stellt Ihr Euch mit ihnen unter den allein wahren Herren und bittet für Euch und für sie, daß wir nicht miteinander umkommen in unseren Sünden, sondern daß Gott Gnade geben und sich die Regierenden und Regierten bekehren, ehe es zu spät ist! In Euer Abendgebet gehören auch die Männer hinein, die das schwere Geschäft bekommen haben, Macht auszuüben, und die dabei zum Bösen und Schlechten in tausendfacher Weise versucht sind. Gerade sie dürfen wir nicht allein lassen in unseren Gebeten! Gott will sie auch nicht allein lassen unter seinem Fluch und Zorn!

Wenn Ihr so betet für die Menschen, werdet Ihr für Gott und für die Menschen leben und nicht umkommen! Liebe Brüder und Schwestern! Gehetzte und gejagte, hetzende und jagende Menschen gibt es genug bei uns! Menschen, die allen mißtrauen, Menschen, die sich fürchten und dauernd auf dem Sprung sind zu fliehen vor dem Tod, vor Krankheiten, vor dem Schicksal, vor anderen Menschen – die gibt’s genug! Viele Menschen, die einer brodelnden Masse in einem Atommeiler gleichen – wer weiß, wann er in die Luft geht! Es schwelt und gärt unter uns Menschen, es wird eine üble Suppe gekocht aus Haß und Erbitterung, Verlogenheit und Täuschung, Bedrückung und Gewalttat, Neid und Zank, Enttäuschung und Gier! Unruheherde, aus denen einmal ein Meer von Blut und Tränen ausbrechen wird – die gibt es genug! Menschen dieser Unruhe werden sterben in ihren Sünden, werden bleiben unter Gottes Zorn, laufen hinein in ihr eigenes Verderben. Täuschen wir uns nicht: wenn wir nicht für alle Menschen beten, dann werden wir hineingerissen werden in diese Unruhe, in dieses Brodeln und Gären, das unter dem Fluch steht. Wer aber viel für andere betet, der braucht sich nicht über andere zu beklagen, gegen andere zu murren, sich über andere zu erbittern! Betet für alle, sagt die Bibel heute, denn so werdet Ihr davor bewahrt bleiben, Ruhelose und Unruhestifter zu sein oder zu bleiben. Wenn wir Gott für alle Men­schen anrufen, dann können wir nicht gegen die Menschen sein, auch gegen unsere ärgsten Feinde nicht, auch wenn sie uns Böses um Böses antun! Menschen der Ruhe werdet Ihr dann sein, Menschen des wirklichen Friedens, von denen Frieden ausgeht und nicht neues Gehetze und Geschimpfe! Menschen, die Gott vortragen, was sie bei anderen beschwert, und ihn bitten, daß er sie zurechtbringt, Menschen, die darum nicht dauernd zu kritisieren brauchen. So werdet Ihr Gott zugewandt leben, leben von der Güte des Herrn. So werdet Ihr dankbar erkennen, wieviel Gutes Gott Euch täglich und reichlich gibt, auch durch Vermittlung Euerer gegenwärtigen Machthaber! So werdet Ihr das Danken lernen, daß Gott so groß und so gut ist. Ihr werdet Menschen sein, die in Gott einen Halt haben und dämm Halt für andere sein können. Ihr werdet Euch, wenn Ihr so betet, freuen an Gottes großen Taten und darum für andere erfreulich sein. Die Christenheit soll wahrhaftig nicht die Unruhe dieser Welt um eine weitere vermehren. Wenn sie inständig für alle die bittet, für die Christus gestorben ist, für alle nämlich, dann wird sie davor bewahrt sein, in sich verkrümmt zu werden, ungenießbar für jeden normalen Menschen, ungenießbar aber auch für Gott.

Gehalten am 17. Juli 1955, 6. Sonntag nach Trinitatis, in St. Othmar in Naumburg/Saale.

Quelle: Johannes Hamel, Seid nüchtern und wachet. Göttinger Predigthefte 4/5, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1958, S. 33-39.

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