Eberhard Jüngel, Wege und Aporien der evangelischen Kirchen in der DDR (1993): „Eine Kooperation mit dem Staatssicherheitsdienst unter den Zielsetzungen des Staatssicherheitsdienstes konnte für eine theologisch verantwortungsbewusste Kirche unter keinen Umständen in Betracht kommen. Galt doch für den Staatssicherheitsdienst in gesteigertem Maße, was Georg Lukacs für die kommunistische Ethik generell behauptet hatte: nämlich, dass sie die Aner­kennung der Notwendigkeit, Böses zu tun, zur höchsten Pflicht mache, und dass die Erfüllung dieser Pflicht das größte Opfer sei, das die Revolution ihren Anhängern abverlange. Der Kirche konnte dergleichen nur als verwerflicher Aberglaube erscheinen. Dennoch ist es zu höchst problematischen, zum Teil auch verwerflichen Kontakten mit dem Staatssicherheitsdienst gekommen.“

Wege und Aporien der evangelischen Kirchen in der DDR (1993)

Von Eberhard Jüngel

Herr Landtagspräsident, Herr Ministerpräsident, Herr Vorsitzender, meine Damen und Herren!

Kirchengeschichte ist zwar nicht zuerst und vor allem, sie ist aber immer auch politische Geschichte. In der neuesten deutschen Geschichte ist jedoch auch umgekehrt die politische Geschichte Deutschlands zu einem nicht unwesentlichen Teil mit der Kirchen­geschichte verwoben. Das gilt jedenfalls für die Geschichte der Evangelischen Kirche in der DDR, die zwar nicht im selben Maße wie etwa der polnische Katholizismus für die Geschichte Polens bedeutungsvoll war, deren Kenntnis aber für das Verständnis der politischen Nachkriegsgeschichte Deutschlands sehr viel weniger entbehrlich ist als die Kenntnis der westdeutschen Kirchen­geschichte. Ich habe die Aufgabe, hier in aller Kürze und sehr grob die Wege und Aporien der Evangelischen Kirche in der DDR darzustellen. Das soll in drei Schritten geschehen: Zuerst gilt es, auf die Komplexität dieser Geschichte aufmerksam zu machen, dann sollen die wichtigsten, weil weichenstellenden Ereignisse innerhalb dieser Geschichte zur Sprache gebracht werden, und schließlich soll die Funktion der evangelischen Kirche als Gegenöffentlichkeit in einer entmündigten und geknebelten Öffentlichkeit bedacht werden.

I.

Die Wege, aber auch die Ausweglosigkeiten der evangelischen Kirche im Osten Deutschlands fangen da an, wo die nationalsozialistische Herrschaft endete. „Die religiösen Einrichtungen sollen respektiert werden“ – mit dieser Bestimmung des Potsdamer Abkommens war der Kirche die Möglichkeit gegeben, ihre bisherige institutionelle Gestalt aufrechtzuerhalten und ihre Geschichte mehr oder weniger kontinuierlich fortzusetzen. Daß sich diese Möglichkeit nicht ohne weiteres realisieren ließ, hatte innerkirchliche, hatte theologische Gründe. War es doch unter der nationalsozialistischen Diktatur auch in der evangelischen Kirche nicht nur zu opportunistischer Anpassung, sondern in Gestalt der Häresie der Deutschen Christen zu einer auch von vielen Kirchenleitungen mitvollzogenen ideologischen Gleichschaltung mit dem Nationalsozialismus gekommen, so daß am Ende des Zweiten Weltkrieges nur wenige sogenannte „intakte Landeskirchen“ existierten – im Gebiet der sowjetischen Besatzungszone keine einzige. In diesen Landeskirchen drängte 1945 die „Bekennende Kirche“, die während des Dritten Reiches der Entstellung der evangelischen Christenheit zu einer ideologisch und politisch gleichgeschalteten Größe entgegenzuwirken versucht hatte, auf eine Ablösung der kompromittierten Kirchenleitungen. Man konnte sich dabei auf die 1934 von der Bekenntnissynode in Barmen verabschiedete „Theologische Erklärung“ berufen, die in ihrer fünften These die falsche Lehre verworfen hatte, „als solle und könne der Staat über seinen besonderen Auftrag hinaus die einzige und totale Ordnung menschlichen Lebens werden und also auch die Bestimmung der Kirche erfüllen“, und „als solle und könne sich die Kirche über ihren besonderen Auftrag hinaus staatliche Art, staatliche Aufgaben und staatliche Würde aneignen und damit selber zu einem Organ des Staates werden“. Insofern und insoweit die evangelische Kirche dieser falschen Lehre verfallen war, war ihre Erneuerung 1945 das Gebot der Stunde.

Für die gebotene Erneuerung erschien es darüber hinaus unerläßlich, im Blick auf die vergangenen zwölf Jahre die Schuld des deutschen Volkes und mit ihr auch die Schuld der Kirche zur Sprache zu bringen. Dieser Aufgabe hat sich die evangelische Kirche nicht entzogen. Als der Vorläufige Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland im Oktober 1945 in Stuttgart mit Vertretern der Ökumene zusammentraf und von diesen um ein entsprechendes Wort gebeten wurde, entstand das sogenannte „Stuttgarter Schuldbekenntnis“, in dem von einer „Solidarität der Schuld“ die Rede ist und sodann erklärt wird: „Wohl haben wir lange Jahre hindurch im Namen Jesu Christi gegen den Geist gekämpft, der im nationalsozialistischen Gewaltregiment seinen furchtbaren Ausdruck gefunden hat; aber wir klagen uns an, daß wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben.“

Zwei Jahre später hat dann der Bruderrat der Evangelischen Kirche in Deutsch­land in Gestalt eines „Darmstädter Wortes“ das Stuttgarter Schuldbekenntnis erneuert, radikalisiert und konkretisiert, insofern nun die Irrwege auch der Kirche präzise benannt wurden. Vor allem die Kirchen im Osten Deutschlands haben sich später darauf berufen, daß es nun als Irrweg bezeichnet wurde, „gegenüber notwendig gewordenen Neuerungen im gesellschaftlichen Leben der Menschen“ eine sogenannte „christliche Front“ aufgerichtet zu haben. „Das Bündnis der Kirche“, so heißt es da, „mit den das Alte und Herkömmliche konservierenden Mächten hat sich schwer an uns gerächt […] Wir sind in die Irre gegangen, als wir übersahen, daß der ökonomische Materialismus der marxistischen Lehre die Kirche an den Auftrag und die Verheißung der Gemeinde für das Leben und Zusammenleben der Menschen im Diesseits hätte gemahnen müssen.“

Die Wege und wohl auch die Aporien der Evangelischen Kirche in der DDR lassen sich besser verstehen, wenn man diese längst vor der Gründung der DDR formulierten Sätze vor Augen hat. Und man tut wohl auch gut daran, sich dessen zu erinnern, daß selbst die CDU auf ihrer ersten „Reichstagung“ im Dezember 1945 in Bad Godesberg ausdrücklich „einen Sozialismus aus christlicher Verantwortung“ zu vertreten beanspruchte. Ein Satz, den man sich heute ab und zu in Erinnerung rufen sollte! Es brauchte allerdings geraume Zeit, bis die Kirche in der DDR eine ähnliche Sprache zu sprechen begann wie das Darmstädter Wort. Zunächst war die Reaktion in den Kirchen der sowjetischen Besatzungszone eher kritisch. Von einigen Kirchenvertretern wurde dieser Erklärung des Reichsbruderrates sogar eine typisch westliche Perspektive nachgesagt, die für die Christen in der sowjetischen Besatzungs­zone nicht nachvollziehbar sei.

Der Vorgang macht deutlich, wie differenziert die Geschichte der evangelischen Kirche im östlichen Teil Deutschlands wahrgenommen zu werden verlangt. Angesichts der in der Regel nur allzu undifferenzierten derzeitigen Darstellung in den Medien muß man sogar eigens daran erinnern, daß die Geschichte der evangelischen Kirche in der DDR keineswegs erst mit der organisatorischen Trennung der ostdeutschen Landeskirchen von der EKD 1969 beginnt. Ein Eindruck, der allerdings bereits von nicht wenigen Re­präsentanten des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR mit erweckt wurde. Nein, es gab mehrere gleichgewichtige Abschnitte in dieser Geschichte, wenn es nicht sogar mehrere Geschichten innerhalb der einen Geschichte gab, sozusagen mehrere Strömungen innerhalb desselben Geschichtsstromes. Ich nenne einige Namen, die für jene unterschiedlichen Strömungen repräsentativ sind. Da ist Otto Dibelius, der das totalitäre Regierungssystem der DDR nicht als „Obrigkeit“ im Sinne von Röm. 13 verstanden wissen wollte. Er konnte in diesem politischen System nur ein „Regime“ erblicken, das er „um Gottes und um des Herrn Jesus Christus willen überwunden sehen“ wollte. Da sind Siegfried Ringhandt und Johannes Hamel, die theologisch, politisch und kirchenpolitisch in einem unübersehbaren Gegensatz zu Dibelius standen und doch jedwede Anpassung oder Gleichschaltung sowohl der Kirche als auch der einzelnen Christen genauso verwarfen wie einen prinzipiellen theologischen Widerstand gegen das totalitäre sozialistische Regime, dem es jedoch im konkreten Fall unerschrocken zu widerstehen galt. Beide Theolo­gen hielt das Regime denn auch bezeichnenderweise für zumindest genauso gefährliche Gegner wie Otto Dibelius. Da ist Moritz Mitzenheim, der von der DDR-Regierung privilegierte und drei Tage nach dem Bau der Berliner Mauer mit dem „Vaterländischen Verdienstorden in Gold“ ausgezeichnete Gesprächspartner unter den Bischöfen, die sich ihrerseits immer wieder veranlaßt sahen, den damaligen Thüringer Landesbischof vor Sonderabsprachen mit der Regierung zu warnen. Heute ist aktenkundig, daß der den Thüringer Landesbischof je länger je mehr beeinflussende Oberkirchenrat Gerhard Lotz intensiv mit dem Staatssicherheitsdienst kooperierte. Da ist der unbestechliche, aber realistische Hans Joachim Fränkel, der, als die Rede von der „Kirche im Sozialismus“ kirchlich approbiert worden war, unmißverständlich präzisierte: Die Kirche in der DDR sei zwar „bewußt Kirche im Sozialismus, aber nicht unter ihm und in seinem Geist“. Und da ist Albrecht Schönherr, der Architekt und erste Vorsitzende des 1969 gegründeten, die organisatorische Einheit der Evangelischen Kirche in Deutschland beendenden Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR, der dem Staatssekretär für Kirchenfragen schon 1967 in Aussicht stellte, „daß er für die EKD ‚keinen Finger rühren werde‘“ und 1969 versicherte, auch in der Ökumene eine gegenüber der EKiD „neue, selbständige Linie“ zu vertreten. Die wenigen Namen, meine Damen und Herren, mögen genügen, um deutlich zu machen, daß die Geschichte der Evangelischen Kirche in der DDR komplexer ist, als sich darstellen läßt, und daß jede Analyse zwangsläufig vereinfachen muß. Solche Vereinfachung ist keineswegs schon eine Entstellung. Ein terrible simplificateur ist nur der, der die komplexe und überkomplexe Wirklichkeit mit schief gestellten Fragen auf allzu einfache und eben deshalb falsche Antworten reduziert.

II.

Einigermaßen deutlich lassen sich folgende Abschnitte in der Geschichte der Kirche der DDR unterscheiden:

  1. Die Zeit bis zur Gründung der DDR von 1945 bis 1949;
  2. die Zeit des offenen Kirchenkampfes von 1949 bis 1953;
  3. die Zeit bis zum Bau der Berliner Mauer 1953 bis 1961;
  4. die Zeit bis zur Aufnahme förmlicher Beziehungen zwischen Regierung und Kirchenbund von 1961 bis 1971;
  5. die Zeit wechselseitiger Stabilisierung und deren Scheitern von 1971 bis 1989.

Ich gehe nur ganz grob auf die weichenstellenden Ereignisse ein:

Während die sowjetische Besatzungsmacht gegenüber den Kirchen zunächst eine „relativ großzügige Haltung“ an den Tag legte und auch die SED zunächst eine ausgesprochen freundliche politische Strategie verfolgte, entwickelte sich mit der Umformung der SED von einer „Partei des schaffenden Volkes“ zur stalinistischen „Kampfpartei des Marxismus-Leninis­mus,“ zur „Partei neuen Typus“, ein ohne Vorbehalt so zu nennender Kirchenkampf. Zwar hatte die erste Verfassung der 1949 gegründeten DDR den Kirchen ein Höchstmaß an Freiheit, Selbständigkeit und Wirkungsmöglichkeit garantiert – bis hin zu dem Recht, „zu den Lebensfragen des Volkes von ihrem Standpunkt aus Stellung zu nehmen“. Wie im Grundgesetz der Bundesrepublik waren auch in der ersten DDR-Verfassung die Kirchenartikel denen der Weimarer Reichsverfassung nachgebildet worden, so daß das „Staatskirchenrecht in der DDR […] dem in der Bundesrepublik – in seiner Normgestalt – zwei Jahrzehnte lang glich wie ein Ei dem anderen“. Doch das „dynamische“ kommunistische Verfassungs­verständnis erlaubte es der Staatsmacht, die Rechtsnorm gegen ihren Wort­laut zu interpretieren oder einfach zu ignorieren. Verfassungsrechte konnten nirgends eingeklagt werden. Dem entsprach die völlige Instrumentalisierung des Staates zu einem bloßen „Staatsapparat“, der nach bolschewistischem Verständnis nichts anderes als „das wichtigste Instrument beim Aufbau des Sozialismus“ war. Dieser „Aufbau des Sozialismus“ und die für ihn notwen­dige „Diktatur des Proletariats“ unterlief den verfassungsmäßig garantierten großzügig bemessenen Freiraum der Kirchen in der DDR penetrant. Die evangelische Kirche bestand ihrerseits nicht nur auf ihren Rechten, sondern sie verstand sich zugleich als Anwalt aller Entrechteten. In diesem Sinne erklärte Präses Kurt Scharf auf einer Synode der EKU die Entschlossenheit der Kirche, „für die, deren Mund verstummt ist, unseren Mund auch vor der Öffentlichkeit zu öffnen“.

Besonders empfindlich wirkte sich der Aufbau des Sozialismus für die Kirche auf dem Bildungssektor aus. Daß die Schule ihre Aufgaben „auf der Grundlage des Marxismus-Leninis­mus“, und zwar „in allen Unterrichtsfächern“, also auch in der Mathematik, zu erfüllen hat – wie es eine Entschließung des Zentralkomitees der SED 1951 forderte –, führte zu einem Grundsatzkonflikt zwischen Staat und Kirche, der sich in einer vom Staatssicherheitsdienst gesteuerten massiven Behinderung der kirchlichen Jugend- und Studentenar­beit auswirkte. Schüler, Studenten und Studentenpfarrer wurden massiv unter Druck gesetzt – bis hin zur Verhaftung. Die „Junge Gemeinde“ wurde als „Verbrecherorganisation“ bezeichnet und bekämpft. Ich habe die damaligen Vorgänge am eigenen Leibe erfahren und werde den Tag nicht vergessen, an dem ich in der Aula der Magdeburger Humboldtschule vor der versammelten Lehrer- und Schülerschaft als „Feind der Republik“ gebrandmarkt und als solcher einen Tag vor dem Abitur aus dem Gymnasium ausgeschlossen wurde. Die Folge war dann, daß die Kirche ein Notabitur abnahm; derweil fand der Arbeiteraufstand statt, ich machte also zwei Abiture, übrigens mit sehr unterschiedlichen Noten, woraus man sieht, daß ein gerechtes Examen wohl erst am lieben Jüngsten Tag stattfinden wird. Die Repressalien, zu denen auch die Beschlagnahmung kirchlich-karitativer Einrichtungen gehörte, nahmen ein solches Ausmaß an, daß schließlich sogar der Kreml intervenierte. Der daraufhin am 10. Juni 1953 vor den evangelischen Bischöfen und einen Tag später öffentlich verkündete „Neue Kurs“ wurde indessen nicht lange durchgehalten. Der wenige Tage danach einsetzende Arbeiteraufstand ließ es am Ende auch der sowjetischen Besatzungsmacht geraten erscheinen, zum harten Kurs der Repression zurückzugehen. Dazu gehörte auch der als „innere Differenzierung“ bezeichnete Versuch, die verschiedenen Kirchenleitungen gegeneinander und die Pfarrer gegen die Kirchenleitungen auszuspielen.

Seit 1954 wurde durch die Wiedereinführung der Jugendweihe ein neuer Konflikt provoziert, dessen Langzeitwirkung gar nicht hoch genug veran­schlagt werden kann. Denn die erste theologisch kompromißlose Reaktion der Kirchen, Jugendliche, die sich der Jugendweihe unterzogen, nicht zur Konfirmation zuzulassen, ließ sich auf die Dauer nicht halten und mußte praktikableren Regelungen weichen. Diese Einsicht führte bei nicht wenigen Theologen und Kirchenleuten zu einer tiefen kirchenpolitischen Identitätskrise, die eine neue Selbsteinschätzung der Rolle der Kirche in der sozialistischen Gesellschaft vorbereiten half. Nachdem 1956 die in der Verfassung garan­tierte Erhebung der Kirchensteuer und 1958 die verfassungsmäßig garantierte Erteilung des Religionsunterrichtes in den Räumen der Schulen praktisch unmöglich gemacht wurde, zudem die atheistische Propaganda bis hin zur Verkündung von – den biblischen Dekalog parodierenden – „10 Geboten der sozialistischen Moral und Ethik“ verschärft wurde, kam es zu einer erneuten Krise zwischen Staat und Kirche. Erhebliche Bedeutung für deren Zuspitzung hatte die Tatsache, daß die Evangelische Kirche in Deutschland mit der Bundesregierung einen Militärseelsorgevertrag abgeschlossen hatte, der im März 1957 von der Synode der EKD ratifiziert wurde, wobei auch die überwie­gende Zahl der DDR-Synodalen diesem Vertrag zustimmte. Daß DDR-Bürger einem mit der Bonner Regierung abgeschlossenen Vertrag kirchenrechtliche Gesetzeskraft geben konnten, war für die ostdeutsche Regierung ein Ärgernis ersten Ranges. Der Sachverhalt erklärt sich aus der Tatsache, daß nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges alle evangelischen Landeskirchen sich als Evan­gelische Kirche in Deutschland eine äußere organisatorische Einheit gegeben hatten. Für die sichtbare Einheit des deutschen Protestantismus war es von entscheidender Bedeutung, daß diese EKD gemäß ihrer Grundordnung „auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens“ für „ein einheitliches Handeln“ aller Gliedkirchen zu sorgen hat, ja, daß „die gesamtkirchlichen Anliegen gegenüber den Inhabern öffentlicher Gewalt“ von ihr, und nur von ihr, zu vertreten sei. Dieser gesamtkirchliche „Alleinvertretungsanspruch“ der EKD gegenüber der öffentlichen Gewalt hatte zur Folge, daß die Gründung zweier deutscher Staaten zunächst nicht auf die Kirche durchschlug. Die DDR hatte dagegen auch so lange nichts einzuwenden, solange sie ihrerseits an der in Artikel 1 ihrer ersten Verfassung ausdrücklich bejahten Einheit Deutschlands festhielt. Doch das war 1957 längst nicht mehr der Fall. Mit dem Bau der Berliner Mauer hatte die Ostberliner Regierung dann endlich die Möglichkeit in der Hand, die organisatorische Einheit der Evangelischen Kirche in Deutschland empfindlich zu verletzen und die Kirchen in der DDR erheblich unter Druck zu setzen. Als die Konferenz der Kirchenleitungen in der DDR 1963 ihr Selbstverständnis in „Zehn Artikel[n] über Freiheit und Dienst der Kirche“ so formulierte, daß ihre Eigenständigkeit klar hervortrat – bis hin zum Eintreten „für gutes irdisches Recht“ in der DDR und „für den gesetzlichen Schutz der Wehrdienstverwei­gerer aus Glaubens- und Gewissensgründen“ –, da wurde diese kirchliche Wegweisung von den Politikern der DDR als „Instrument des kalten Krieges“ denunziert. Die Wegweisung sei mit der Tinte der westdeutschen Militärkirche geschrieben, konnte man in der „Neue[n] Zeit“ lesen. Als schließlich 1968 die neue DDR-Verfassung beschlossen wurde und diese von der Regierung im Sinne der Übereinstimmung von Staatsgrenzen und Kirchengrenzen inter­pretiert wurde, bedrohte man die an der gesamtdeutschen EKD festhaltenden Christen mit den Vorwürfen der Illegalität, ja des Verfassungsbruchs sowie mit entsprechenden Sanktionen. Damit drohte aber zugleich die der Kirche wesentliche Aufgabe, „die Botschaft der freien Gnade Gottes auszurichten an alles Volk“, wenn nicht unerfüllbar, so doch nur unter außerordentlichen Einschränkungen wahrnehmbar zu werden. Zugleich hatten sich auch die Kirchen der Einsicht zu stellen, daß die sozialistische DDR kein Provisorium, sondern ein Staat unter Staaten geworden war, mit dessen Existenz auf unabsehbare Zeit zu rechnen ist. Es ergab sich insofern aus der sehr weltlichen Bedrängnis eine geistliche Notwendigkeit, der veränderten politischen und rechtlichen Situation gerecht zu werden. Aus dieser gleichermaßen weltlichen und geistlichen Notlage heraus wurde der Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR geboren, der sich bewußt als „Kirche im Sozialismus“ verstand. Als Kirche, wie Bischof Schönherr interpretierte, in „dieser so geprägten Gesellschaft nicht neben ihr, nicht gegen sie“. Schon am 15. Februar 1968 hatten die Bischöfe der DDR in einem Brief an den Staatsratsvorsitzenden erklärt: „Als Staatsbürger eines sozialistischen Staates sehen wir uns vor die Aufgabe gestellt, den Sozialismus als eine Gestalt gerechteren Zusammenle­bens zu verwirklichen.“ Das war zweifellos eine Loyalitätserklärung, doch sie bot der Kirche die Möglichkeit, den real existierenden Sozialismus „mit der engagierten Hoffnung eines verbesserlichen Sozialismus’“ zu verbinden, wie es der Erfurter Propst Heino Falcke dann auf der Bundessynode in Dresden 1972 gefordert hat.

Die Ordnung des Bundes hat trotz der organisatorischen Trennung von der EKD die besondere Gemeinschaft mit der westdeutschen Christenheit nicht aufgegeben, sondern mit dem theologisch starken Begriff des Bekennens ausdrücklich bejaht. Dieses Bekenntnis zur besonderen – also über die ökumenische Verbundenheit hinausgehenden – Gemeinschaft der ganzen evangelischen Christenheit in Deutschland stieß noch während der Beratungen der Ordnungen – der vom Staatssicherheitsdienst gelenkte Oberkirchenrat Lotz versuchte, Einfluß zu nehmen – und erst recht nach deren Verabschiedung auf erhebliche Kritik, wurde aber niemals preisgegeben. Die Aufnahme förmlicher Beziehungen zwischen Regierung und Kirchenbund 1971 stellte dann eine regelrechte Wende der Kirchenpolitik dar. In den siebziger Jahren wurde „der mit der Staatsgründung eingeleitete Prozeß der Zurückdrängung der Kirchen aus der Gesellschaft gestoppt, ja zum Teil rückgängig gemacht“. Orientierungsstadium für das entspanntere Verhältnis von Staat und Kirche war das Gespräch des Staatsratsvorsitzenden Honecker mit dem Vorstand des Bundes der Evangelischen Kirchen am 6. März 1978. Seitdem gab es auf beiden Seiten so etwas wie eine Konfliktvermeidungsstrategie, wie Propst Falcke das nannte. Dieser fügte mit unüberhörbar kritischem Unterton hinzu, daß das ein „System wechselseitiger Stabilisierung“ war, in dem der Staat der Kirche einen „staatsfreien Raum eigenständigen Lebens und Wirkens“ einräumte und dafür von der Kirche erwartete, „daß sie sich loyalitätsverstärkend […] als Stabilisierungsfaktor bewährt“. In der Tat gab es, obwohl die ostdeutschen Kirchen sich in betonter Abhebung von den westdeutschen Kirchen als besonders staatsfern darstellten, eine zunehmende Affinität der Kirche zur sozialistischen Staatsmacht. Und es ist zu fragen, ob das Selbstverständnis der evangelischen Kirchen der DDR als einer „Kirche im Sozialismus“ nicht eine Pseudolegitimierung des real existierenden Sozialismus als eines demokratischen nolens volens begünstigt hat.

Paradoxerweise war es dann aber gerade die partielle Erfüllung jener staat­lichen Erwartungen, die der Kirche die politische Bedeutung einer Gegenöffentlichkeit zuwachsen ließ, die die staatskritischen Gruppen für ihre Proteste und „Konfliktinszenierungen“ so intensiv zu nutzen wußten, „daß das System wechselseitiger Stabilisierung […] arg ins Schlingern geriet“. Die Kirchen­leitungen waren darüber in der Regel alles andere als glücklich und waren sich übrigens auch in der Regel selber nicht ganz einig. Ich war Zeuge eines Streites zwischen einem Generalsuperintendenten und dem Propst des Berliner Konsistoriums über die Frage, ob man denn für politische Interessen die Kirchen öffnen dürfte; der Generalsuperintendent argumentierte: „Da kommen doch viele, die haben doch von Kirche noch nie etwas gehört, die kennen noch nicht einmal das Vaterunser.“ Und der Propst antwortete: „Tolle Gelegenheit, da lernen sie es endlich kennen, lassen wir sie rein.“ Die Kirchenleitungen also waren darüber in der Regel alles andere als glücklich und warnten „die Gruppen vor übertriebenen Aktionen und Demonstrationen“, gewährten ihnen aber dennoch Raum zur Entfaltung. Am Ende war es dann die von Moskau aus bestimmte politische Großwetterlage, die es den evangelischen Christen in der DDR ermöglichte, ihren Teil zu dem beizutragen, was als „friedliche Revolution“ in die deutsche Geschichte eingegangen ist. Daß die „Wende“ gewaltlos vollzogen werden konnte, war nicht zuletzt eine Folge der Tatsache, daß die evangelische Kirche sich und ihre gottesdienstlichen Veranstaltungen als die einzige Gegenöffentlichkeit zur geknebelten Öffentlichkeit erhalten konnte.

III.

Zur Gegenöffentlichkeit konnte die Kirche nur deshalb werden, weil sie selber vom Öffentlichkeitsanspruch des Evangeliums lebt. Man kann die Bedeutung des Öffentlichkeitscharakters des christlichen Glaubens in diesem Zusammenhang gar nicht hoch genug veranschlagen. Die kommu­nistische Strategie wollte die Rolle der Kirche bekanntlich, wie in Rußland, auf die Befriedigung privater religiöser Bedürfnisse durch gottesdienstliche Kulthandlungen reduzieren. Doch der christliche Gottesdienst ist mehr als eine religiöse Bedürfnisbefriedigungsanstalt, wird er doch durch das Evan­gelium konstituiert, das Gottes öffentliches Wort für alles Volk ist. Der Öffentlichkeitscharakter des Gottesdienstes zeigt sich übrigens nicht zuletzt in der Fürbitte, die die christliche Gemeinde den politisch Verfolgten, aber auch den Regierenden schuldet, die durch die gottesdienstliche Fürbitte unmißverständlich an ihre Verantwortung erinnert werden. Es ist übrigens zu fragen, seit wann und warum die namentlichen gottesdienstlichen Fürbitten für die zu Unrecht Verhafteten und politisch Verfolgten in der evangelischen Kirche der DDR eingestellt wurden – seit wann und warum? Weil aber schon der liturgische Gottesdienst seinem Wesen nach eine res publica ist, drängt der Öffentlichkeitscharakter des christlichen Glaubens notwendig über das kultische Geschehen hinaus, um sich als – wie das der Apostel Paulus nannte – „vernünftiger Gottesdienst“ im Alltag der Welt fortzusetzen und sich dennoch nicht dem „Schema dieser Welt“ gleichzuschalten.

Zum Schema der sozialistischen Welt gehörte eine entmündigte Öffentlichkeit. Die evangelische Kirche hat in ihr eine Gegenöffentlichkeit erzeugt, die man durchaus den fortgesetzten Ausgang des Bürgers aus einer aufgezwungenen Unmündigkeit nennen darf. Dabei erwies sich die volkskirchliche Organi­sationsform als überaus nützlich. Die evangelische Kirche war ja sozusagen flächendeckend in der ganzen DDR präsent. Trotz des erheblichen Pfarrerman­gels wurde versucht, die in jedem Ort bestehenden christlichen Gemeinden mit Geistlichen und Katecheten zu versorgen. Der theologische Nachwuchs wurde an sechs staatlichen Fakultäten und an drei Kirchlichen Hochschulen ausgebildet, wobei die völlig staatsunabhängigen Kirchlichen Hochschulen den Machthabern zumeist ein Dorn im Auge waren. Sie waren ein Ort uneingeschränkter geistiger Freiheit. Ich habe dort studiert, ich habe dort gelehrt, ich weiß, was ich sage: Das waren intellektuelle Oasen in einer ideologischen Wüste.

Auf die von der Regierung mehrfach angedeutete Bereitschaft, die Pfarrer staatlich zu besolden, sind die Kirchen niemals eingegangen. Für die sehr geringen Einkommen aller kirchlichen Mitarbeiter kam die Kirche selber auf, allerdings nicht ohne massive finanzielle Unterstützung durch die westdeut­schen Kirchen, die der valutahungrige Staat übrigens ausgesprochen gern sah. Es wäre zu untersuchen, welche Rolle diese finanzielle Unterstützung der DDR-Kirchen durch die westdeutschen Kirchen nicht nur faktisch, sondern auch für die Selbstwahrnehmung der „Kirche im Sozialismus“ gespielt hat. Doch trotz der Aufrechterhaltung der äußeren volkskirchlichen Struktur war gegen Ende der DDR der Anteil der Getauften an der Bevölkerung auf ein Drittel geschrumpft; und das waren keineswegs immer „praktizierende Christen“. Dennoch hat die evangelische Kirche in der DDR sich nicht ghet- toisieren lassen. Als „Kirche für andere“ ist sie in einer besonderen Bedeutung des Wortes „Volkskirche“ geblieben, die man etwas boshaft dahin definieren könnte, daß diese Volkskirche eine Kirche für ein Volk war, das nicht zur Kirche geht. Doch auf diese Weise war sie unübersehbar und unüberhörbar präsent.

Zur Gegenöffentlichkeit in einem eminenten Sinne wurde in den späten achtziger Jahren dann schließlich der auch von der katholischen Kirche mitver­antwortete „Konziliare Prozeß für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung“, der allen auf eine grundlegendere Reform des „real existierenden Sozialismus“ drängenden Kräften ein Forum bot. So war die Minderheitenkir­che tatsächlich für alle da. Sie war es sehr einfach und sehr elemantar dadurch, daß man in ihr die Wahrheit sagen konnte. Wer heute über die evangelische Kirche in der DDR urteilen will, der möge die Protokolle der Synoden lesen und sich fragen, wo sonst in der DDR, von einigen Theateraufführungen vielleicht abgesehen, ein vergleichbarer Mut zur Wahrheit zu finden war. Wahrheit war ja in der sozialistischen Diktatur der eigentliche „Klassenfeind“. Die Machthaber haben sie so sehr gefürchtet, daß sie nicht nur die Bevölkerung mit dem Terror der Lüge zu entmündigen versuchten, sondern je länger je mehr auch sich selbst belogen – bis hinein in die Dimension ökonomischer Daten und Zahlen. Doch auch die Ökonomie verträgt nur ein begrenztes Maß an Lügen. Wer zuviel lügt, richtet die Wirtschaft zugrunde. Der „real existierende Sozialismus“ war nicht nur eine permanente ideologische Lebenslüge, sondern auch ein permanenter ökonomischer Selbstbetrug. Selbstbetrug und Lebens­lüge gründeten in dem pseudoreligiösen Anspruch, aus dem alten Adam, der wir alle sind, einen neuen Menschen machen zu können, insofern der als Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse begriffene Mensch durch deren Veränderung ein neuer Mensch werden sollte.

Es gehörte notwendig zu dieser Lebenslüge, daß der Staat einen totalitären Zugriff auf alle Lebensbereiche beanspruchte, um den Bürger total abhängig zu machen.

Auch das Recht wurde zur Erreichung dieses Zieles konsequent zu einem bloßen Machtmittel funktionalisiert, so daß es in vielen Bereichen überhaupt kein verläßliches Recht gab. In einer Diktatur weiß keiner genau, was er wirklich darf, hat Richard Schröder einmal formuliert. Eben deshalb konnte die Wahrheit zu sagen außerordentlich gefährlich werden – und das nicht nur für den entmündigten Bürger, sondern eben auch für den entmündigenden Staat selbst.

Es ist ja denn auch der Mut zur Wahrheit gewesen – Gorbatschow nannte ihn Glasnost -, der das ganze totalitäre Lügengebäude zum Einsturz brachte. Im Johannesevangelium (8, 32) heißt es: „Die Wahrheit wird euch frei machen.“ Der Satz hat auch in weltlicher Hinsicht seine Gültigkeit. Um so bedrängender stellt sich die Frage, ob die Kirche zugunsten einer unchristlichen Überle­bensstrategie oder gar um billigerer Vorteile willen sich jenem politischen Halbdunkel anvertraut hat, in dem die Lüge regierte. Bei der Beantwortung dieser Frage ist zu berücksichtigen, daß die unerläßlichen Beziehungen der Kirche zum Staat in der sozialistischen Diktatur insofern ständig problema­tisiert wurden, als eine staatskirchenrechtliche Regelung dieser Beziehungen verweigert und durch jederzeit widerrufbare Gewohnheitsrechte ersetzt wurde. Dadurch entstand auf beiden Seiten ein hoher Verhandlungsbedarf, wobei sowohl die Aktivitäten gegen die Kirche wie auch die Verhandlungen mit ihr weitgehend vom Staatssicherheitsdienst gesteuert wurden. Dessen Ziel war neben der Beschaffung von Informationen die Beeinflussung kirchlicher Entscheidungsprozesse und die Zersetzung der kirchlichen Identität. Um diese Zielsetzung mußte die Kirche wissen. Um so weniger durfte sie sich selbst auf eine Zusammenarbeit mit dem Staatssicherheitsdienst einlassen. Nicht wenige Kirchenleitungen haben denn auch schon die Studenten der Kirchlichen Hoch­schulen und erst recht die Amtsträger schriftlich zur Dienstverschwiegenheit verpflichtet – über die mit der Ordination gesetzte Pflicht zur Wahrung des Beichtgeheimnisses hinaus. Vom Staatssicherheitsdienst verlangte Gespräche ließen sich zwar in bestimmten Konfliktfällen nicht vermeiden, doch dafür gab es geregelte innerkirchliche Zuständigkeiten.

Eine Kooperation mit dem Staatssicherheitsdienst unter den Zielsetzungen des Staatssicherheitsdienstes konnte für eine theologisch verantwortungsbewußte Kirche unter keinen Umständen in Betracht kommen. Galt doch für den Staatssicherheitsdienst in gesteigertem Maße, was Georg Lukacs für die kommunistische Ethik generell behauptet hatte: nämlich, daß sie die Aner­kennung der Notwendigkeit, Böses zu tun, zur höchsten Pflicht mache, und daß die Erfüllung dieser Pflicht das größte Opfer sei, das die Revolution ihren Anhängern abverlange. Der Kirche konnte dergleichen nur als verwerflicher Aberglaube erscheinen. Dennoch ist es zu höchst problematischen, zum Teil auch verwerflichen Kontakten mit dem Staatssicherheitsdienst gekommen. Dabei sind nicht so sehr die Fälle bedeutsam, in denen kirchliche Mitarbeiter zur Kooperation erpreßt wurden. Dergleichen Fälle, so bedrängend sie auch sind, hat die Kirche nicht selber zu verantworten. Eine höchst problematische Verantwortung hat die Kirche jedoch übernommen, als einzelne Amtsträger sich zu einem pragmatisch-politischen Umgang mit dem Staatsicherheitsdienst entschlossen, um diesen zugunsten kirchlicher und humanitärer Anliegen, aber auch – von westdeutschen Politikern dazu indirekt gar sehr ermuntert – für politische Brückenschläge zwischen Bonn und Ostberlin zu nutzen.

Zwar war vor allem im letzten Jahrzehnt der Staatsapparat der DDR gerade in besonders empfindlichen Problemlagen kaum mehr entscheidungsfähig, so daß es sich nahelegen konnte, den Staatssicherheitsdienst als die einzig wirk­lich effektive Entscheidungsinstanz zu bemühen. Doch erfolgversprechend konnte die Einschaltung des Staatssicherheitsdienstes nur sein, wenn diesem Verschwiegenheit zugesichert wurde. Das aber war nur dadurch zu erreichen, daß kirchliche Amtsträger im Alleingang handelten. Dabei setzte man sich zwangsläufig der Gefahr aus, den Eindruck eines Einverständnisses mit den Interessen und Zielen des Staatssicherheitsdienstes zu erwecken, zumal dann, wenn man die konspirativen Spielregeln der anderen Seite akzeptierte. Dem Selbstverständnis evangelischer Kirchenleitung widersprach das allerdings in hohem Maße. Es widersprach in hohem Maße dem theologischen Verständnis evangelischer Kirchenleitung, daß hochbrisante Verhandlungsaufgaben einzel­nen Personen überlassen wurden, ohne für deren eindeutige Beauftragung und für innerkirchliche Rechenschaftsablegung zu sorgen. Evangelische Kirchen­leitung vollzieht sich ja wesentlich, wenn ich ein bißchen lateinisch reden darf, als mutuum colloquium fratrum sororumque, als gegenseitiges Gespräch der Brüder und Schwestern, also in wechselseitiger Rechenschaftsablegung, mit dem Ziel eines größtmöglichen Einverständnisses.

Es ist deshalb primär gar nicht das Fehlverhalten einzelner Amtsträger zu beklagen, die sich auf die Schmutzarbeit des Kontaktes mit dem Staatssicherheitsdienst eingelassen haben. Sofern sie ihre geheimen Kontakte nicht aus Opportunismus oder um eigener Vorteile willen gepflegt haben, sind sie eher das Opfer einer Kirchenleitungspraxis, die sich emanzipierte von der theologischen Reflexion an dieser Stelle.

Das Problem kirchlicher Sicherheitskontakte war deren Personalisierung, ja Privatisierung.

Die evangelische Kirche hat das Zwielicht, in das durch das mehr oder weniger oder gar nicht nachvollziehbare Agieren einzelner kirchenleitender Personen nun die ganze Kirche geraten ist, mutig und ohne Larmoyanz aufzuklären.

Dazu gehört allerdings, alle Quellen zur Geltung zu bringen, also zum Beispiel auch die Akten über die Operativvorgänge, die Personen betreffen, über die zugleich IM-Akten vorliegen. Nur dann kann es zu angemessener Beurteilung des Verhaltens einzelner Personen kommen. Und dazu gehört ebenfalls eine Hermeneutik der Quellen, die den unterschiedlichen Wahrheitswert der Akten zu reflektieren hat. Es gibt genug Hinweise darauf, daß auch der Staatssicherheitsdienst ein Unternehmen war, das Erfolg melden mußte und deshalb Mißerfolge gern umdefinierte. Vollzieht die Kirche vorbehaltlos solche Aufklärungen im Lichte des Evangeliums, dann wird mit ihren Schwächen ganz von selbst auch ihre eigentliche Stärke offenbar. Halten wir fest, meine Damen und Herren: Die evangelische Kirche war auch im Sozialismus ein Ort, an dem man die Wahrheit sagen konnte. Weil sie dem Terror der Lüge, mit dem die sozialistische Diktatur ihren Totalitätsanspruch durchzusetzen versuchte, trotz aller unverkennbaren Schwächeanfälle und Aporien immer wieder den Mut zur Wahrheit entgegengesetzt hat, kann von einer sozialistischen Gleichschaltung oder auch nur Anpassung der Kirche keine Rede sein. Gewiß, es gab bedenkliche, ja verwerfliche Kooperationen kirchlicher Funktionäre mit dem Staatssicherheitsdienst. Es gab aber keine babylonische Gefangenschaft der Kirche im Sozialismus. Die Bindung an die befreiende Wahrheit des Evangeliums war stärker, Gott sei Dank! (Beifall)

Vortrag vor der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED- Diktatur in Deutschland“ am Dienstag, dem 14. Dezember 1993 in Erfurt im Thüringer Landtag.

Quelle: Materialien der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“, Band VI/1, herausgegeben vom Deutschen Bundestag, Baden-Baden 1995, S. 13-24.

Hier der Text als pdf.

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