Eberhard Jüngel, Wie ich mich geändert habe (1997): „Die Theologie muss vom Evangelium her versu­chen, so etwas wie eine Kategorientafel des Bösen zu entwer­fen, nicht um uns vom Bösen faszinieren zu lassen, sondern um es mit dem ihm gebührenden scharfen schrägen Seitenblick an seinen Platz zu verweisen. Man kann das Böse nur bekämp­fen, wenn man es durch strenges Denken auf den Begriff bringt, um es daraufhin durch tapferes Handeln in seine Grenzen zu verweisen. Dass damit noch nicht das Himmelreich auf Erden beginnt, das ist wohl wahr. Aber es wäre damit immerhin ver­hindert, dass die Erde zur Hölle wird.“

Wie ich mich geändert habe (1997)

Von Eberhard Jüngel

Meine Damen und Herren! Sie sehen mich einigermaßen bleich, und zwar nicht nur, weil die Nacht kurz war. Sie sehen mich einigermaßen bleich, weil ich mich in der Tat rela­tiv wenig, ja fast nicht geändert habe. Ich bin der verwegenen Meinung, daß meine Lehrer noch immer etwas mehr zu sagen haben als ich und daß das Potential ihrer Theologie noch nicht ausgeschöpft ist. Deshalb kann ich, obwohl sich nicht geändert zu haben ein Tadel und Unveränderlichkeit (immutabilitas) nicht einmal für Gott ein Kompliment zu sein scheint, nicht gut Re­chenschaft geben über mich betreffende Änderungen. Aber es gibt eine Reihe von unvergeßlichen Situationen, Begegnungen, Erfahrungen, die mich erkennbar beeinflußt und geprägt haben und ohne die ich, wenn mich nicht alles täuscht, heute nicht der wäre, der ich nun einmal bin. Und von ihnen soll, wenn Sie mir trotz der Fehlanzeige in puncto Selbstveränderung noch zuhö­ren wollen, jetzt die Rede sein.

Dabei beschränke ich mich auf meine theologische Exi­stenz. Sie ist zwar weitgehend mit meinem täglichen Leben identisch. Doch auch im Leben eines Theologen gibt es mehr als das, was von öffentlichem Interesse ist. Daß ich z.B. im Laufe der Zeit ein einigermaßen passabler Koch geworden bin, hat zwar eine ausgesprochen politische Ursache, die aber, solange sie unter den Folgen meiner Kochkunst nicht zu lei­den haben, nicht einmal meine Gäste interessieren dürfte. Die sich in Europa immer mehr durchsetzende Auffassung, daß alles im Leben eines Menschen von allgemeinem Interesse sei und deshalb öffentlicher Berichterstattung zugänglich zu sein habe, halte ich für eine – vermutlich aus dem das Privat­leben des Christenmenschen ausspionierenden Calvinismus hervorgegangene – gefährliche Verkennung der personalen Würde des Menschen, der nun einmal mehr ist als das, was über ihn publiziert zu werden verdient. Individuum est ineffabile. Gott sei Dank!

Das Ereignis oder vielmehr die Kette von Ereignissen, die mich in letzter Zeit stärker als alles andere bewegt hat, ist ein eminent politisches Geschehen, ist der Zusammenbruch des »real existierenden Sozialismus«. Ich wurde durch diese auch in die Geschichte Deutschlands tief eingreifenden Vorgänge gewahr, wie bleibend mich die einstigen Erfahrungen in der DDR geprägt haben. Folglich muß ich bei dem Versuch, mei­ne theologische Existenz auf ihre Identität hin zu mustern, wohl oder übel auf diese meine Anfänge zurückkommen.

In meinem Elternhaus war »Religion« nicht gefragt, und mein Wunsch, Theologie zu studieren, stieß auf die besorgte Verwun­derung meiner Mutter und die entschiedene Ablehnung meines Vaters. Daß ich dennoch bei meiner Absicht blieb und sie schließ­lich realisierte, kann zwar auch aus der zweifellos pubertären Opposition des Sohnes gegen die väterliche Autorität erklärt wer­den. Aber doch nicht nur! Es gab eine tiefer reichende Erfahrung, die für meine Entscheidung ausschlaggebend war und von der ich bis zum heutigen Tag bestimmt werde. Und das war die Ent­deckung der evangelischen Kirche als des einzigen mir damals zugänglichen Ortes innerhalb der stalinistischen Gesellschaft, an dem man ungestraft die Wahrheit hören und sagen konnte. Vielleicht galt das auch noch für das Kabarett, zumindest für ein be­sonders mutiges und besonders hinterlistiges. Das Kabarett und die Kirche haben in der sozialistischen Gesellschaft ja so etwas wie eine Narrenrolle gespielt. Und der Narr ist eben mitunter der einzige, der in einer verlogenen Gesellschaft auf närrische Weise Wahrheit zu sagen vermag. Welch eine befreiende Erfahrung war das angesichts der in der Schule herrschenden ideologisch-poli­tischen Tyrannei! Freunde wurden verhaftet, ich selber wurde mehrfach vom Staatssicherheitsdienst verhört und vor Gericht gebracht – nur weil wir zu sagen wagten, was wir dachten. Un­mittelbar vor dem Arbeiteraufstand 1953 wurde ich einen Tag vor dem Abitur als »Feind der Republik« vom Gymnasium entfernt. Die Mitschüler wurden aufgefordert, jeden Kontakt mit uns sofort abzubrechen. Als ich die Aula der Magdeburger Humboldt-Schule, in der freilich nun ein ganz anderer Geist als der hum­boldtsche herrschte, verließ, wendeten sich die aufrechten unter den Lehrerinnen und Lehrern in hilflosem Schweigen ab – eine symbolträchtige Szene, in der mir blitzartig die Wahrheit der ci­ceronischen Sentenz aufging, die uns dieselben Lehrer eingebläut hatten, nämlich: cum tacent, clamant: indem sie schweigen, kla­gen sie. In der christlichen Kirche jedoch war man so frei, das bedrückende Schweigen und den sich immer stärker bemerkbar machenden Zwang zur Lüge zu durchbrechen. Hier wagte man es, die Wahrheit des Evangeliums zu bezeugen, und zwar kon­kret in der politischen Situation so zu bezeugen, daß die befrei­ende Kraft dieser Wahrheit auch sehr weltlich, auch sehr poli­tisch erfahrbar wurde. Ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen (Joh 8,32). Dieser Satz des Neu­en Testamentes ist mir seitdem einer der liebsten.

Wenn man nun heute das ganze System von damals wie ein zusammengebrochenes Kartenhaus vor sich sieht und das alles zu analysieren beginnt und fragt, woran denn dieser »real exi­stierende Sozialismus« letztlich gescheitert ist, dann sollte man als entscheidende Ursache dessen objektive Verlogenheit ernst nehmen. Weit entfernt, einem prinzipiellen Antisozialismus das Wort zu reden, kann ich doch nicht die Augen davor verschlie­ßen, wie verlogen die sozialistischen Ideale machtpolitisch ins Werk gesetzt worden waren. Über die sozialistischen Ideale läßt sich reden. Doch dazu gehört auch die Möglichkeit der Wider­rede. Und eben diese war nicht gestattet. Das von der Partei beanspruchte und mit Staatsgewalt durchgesetzte Wahrheits­monopol richtete sich gegen die Wahrheit selbst und erzeugte eine Pervertierung des Denkens, der auch die Täter zum Opfer fallen mußten. Der Zwang, mit der Öffentlichkeit zugleich auch sich selbst zu belügen, beherrschte alle Bereiche des gesell­schaftlichen Lebens – bis in die ökonomischen Entscheidun­gen hinein. Und es mußte deshalb wie eine Revolution wirken, als Gorbatschow »Glasnost«, Klarheit, Durchsicht, Wahrheit zu fordern begann.

Was das alles mit meinem theologischen Denken zu tun hat? Nun auf jeden Fall soviel, daß ich aufgrund jener Erfahrungen mit der Kirche, in denen mir diese als Institution befreiender Wahrheit begegnet war – väterliches Veto hin, väterliches Veto her –, Theologe wurde und dies bis heute nicht ernsthaft bereut habe. Als meine lieben Kollegen Johann Baptist Metz und Jür­gen Moltmann und meine – sit venia verbo – Freund-Feindin oder Feind-Freundin Doro­thee Sölle später das Unternehmen einer »politischen Theologie« starteten und zu großer Wirkung brachten, bestand ich aufgrund jener Erfahrungen darauf, daß die politische Relevanz des christlichen Glaubens zuerst und zuletzt in dessen Wahrheitsfähigkeit und Wahrheitsverpflich­tung besteht. Die der Kirche aufgegebene politische Tat hat vor allem das Ziel, der Wahrheit zum Recht zu verhelfen.

Weitergehende Postulate habe ich im europäischen Kontext deshalb zunächst mit einer gewissen Zurückhaltung verfolgt, weil ich in einer Programmatik, die jeden Christen auf eine und nur eine ganz bestimmte politische Option theologisch verpflichten oder gar die sozialistische Revolution zum theologischen Prinzip erheben wollte, eine erneute politische Ent­mündigung witterte, sozusagen eine Klerikalisierung der Gesellschaft von links. Andererseits begegneten mir die An­hänger der »politischen Theologie« in den konkreten Fällen des wirklichen Lebens mitunter viel zu abstrakt: Sie schienen mir Konkretheit in Gestalt von allerlei Aktionismus eher zu simu­lieren. So stellte sich mir die Sache jedenfalls zunächst einmal im europäischen Kontext dar. Doch die Bedeutung, die die »Theologie der Befreiung« im Kontext der skandalösen sozia­len Ungerechtigkeit in der sogenannten Dritten Welt und im Kontext des südafrikanischen Rassismus gewann, belehrte mich eines besseren. Die unermeßliche Scham, die ich als Weißer in südafrikanischen townships empfand, hat mich vollends davon überzeugt, daß es auch den Christen erlaubt und sogar geboten sein kann, dem System des Unrechts und der Ungerechtigkeit nicht nur mit Gedanken und Worten, sondern auch mit Werken, also notfalls auch mit Gewalt, entgegenzuwirken. Dazu muß der Glaubende sich allerdings in eigener, in individueller Ver­antwortung entschließen. Zur Gewalt darf man theologisch nicht von anderen genötigt werden, sondern das muß dann eine urei­gene freie Entscheidung sein.

Irritiert hat mich allerdings in diesem Zusammenhang, daß so etwas wie eine Theologie der Befreiung für die unterdrück­ten Menschen in der Welt des »real existierenden Sozialismus« offensichtlich nicht in Betracht gezogen worden war. Daß man sich auch am Sitz des Weltkirchenrats in Genf, wo man doch das Unrecht in anderen Weltgegenden so tapfer beim Namen nannte und sogar Widerstandsbewegungen tatkräftig unterstütz­te, gegenüber den Verhältnissen z.B. in Rumänien bis zuletzt blind stellte, ist ein ökumenischer Skandal, der aufgrund der Diplomatie gegenüber den orthodoxen Kirchen zwar erklärlich, aber nicht verzeihlich ist. Und man kann nur hoffen, daß dieser dunkle Schatten nicht die unbestreitbaren hohen Verdienste der Ökumene verdunkeln wird.

So wenig mich die politischen Verwirklichungen des Mar­xismus beeindrucken konnten, so sehr stellte doch nun der Athe­ismus, auf den die marxistische Theorie ihre Anhänger verpflich­tete, eine mich bis heute beschäftigende Herausforderung dar. Schon dies ist nachdenkenswert, daß sich die Menschen in der DDR von der atheistischen Option des Marxismus offensicht­lich eher beeindrucken ließen als von seiner machtpolitischen und ökonomischen Gestalt. Wurde hier unter politischem Druck nur noch zutage gebracht, wofür der Boden längst schon berei­tet war? Die große Zahl der keiner Religionsgemeinschaft an­gehörenden Deutschen jenseits der Elbe spricht jedenfalls für sich. Doch auch ganz unabhängig von aller Statistik: Die Be­gegnung mit dem Atheismus hat mein Denken von Beginn mei­ner Lehrtätigkeit an nachhaltig provoziert.

Apropos Lehrtätigkeit: Zum theologischen Hochschullehrer bin ich buchstäblich über Nacht durch den Bau der Berliner Mauer geworden. Als Erich Honecker im Auftrag Walter Ul­brichts die Berliner Mauer hochzog und damit die deutsche Spaltung regelrecht zementierte, waren die in Ostberlin woh­nenden Studenten der Kirchlichen Hochschule von ihren in Westberlin residierenden Professoren abgeschnitten. Um den dadurch entstandenen Notstand zu beheben, berief mich der spätere Bischof Kurt Scharf in das theologische Lehramt. Ich war erst wenige Wochen zuvor zum Doktor der Theologie pro­moviert worden und folglich denkbar schlecht vorbereitet. Freund Hermisson ging es nicht anders, und auch dem derzeiti­gen Magdeburger Bischof, Freund Demke, ist dasselbe wider­fahren. Es begann die Zeit harter Lukubrationen. Was waren das für Nachtarbeiten! Oft wußte ich abends noch nicht, was ich am nächsten Morgen vortragen würde. Doch nicht nur Kreuzberger Nächte, auch akademische Nächte sind lang. Die Theologie, die auf diese Weise entstand, würde man heute wohl »kontextuell« nennen. Sie war es insofern, als ich mich fragte, wie die Rede von Gott in der atheistisch geprägten Situation ihre Wahrheit erweisen kann. Den Atheismus einfach zu ver­teufeln oder als Pseudoreligion zu entlarven, erschien mir zu billig. Ich fühlte mich vielmehr verpflichtet, den Atheismus besser zu verstehen, als dieser sich selbst verstand, und ver­suchte, ihm theologisch auf den Grund zu gehen. Darin weiß ich mich mit Frau Sölle nach wie vor einig, daß das dunkle Wort vom Tode Gottes ein genuin theologisches Wort ist. Da­bei wurde mir bald deutlich, daß sich im Ostblock nur auf äußerst intolerante Weise manifestierte, was in sehr viel sublimerer Weise die moderne und postmoderne Welt überhaupt bestimmte. Bei genauerem Zusehen erkannte ich, daß nicht ein­mal Religion und Atheismus sich gegenseitig ausschließen müssen. Der atheistische Grundzug des Zeitalters scheint also etwas anderes zu sein als die von Bonhoeffer diagnostizierte Religionslosigkeit. Hatte nicht Schleiermacher schon bemerkt, »daß eine Religion ohne Gott besser sein kann als eine andere mit Gott«? Die in den letzten Jahren neu erwachte Religiosität – in Europa handelt es sich ja weithin um eine religio vagans, um eine vagabundierende Form von Religion – sollte also nicht in vorschneller Apologetik als Überwindung des Atheismus gefeiert werden. Mir geht es jedenfalls darum, im Atheismus ein Wahrheitsmoment zu entdecken, das zumindest genau so stark ist wie das der theistisch verfaßten Metaphysik. Es ver­steht sich von daher, daß ich der alten und neuesten theologischen Apologetik, die den Atheismus als defizienten Modus des Menschseins denunziert, nur mit entschiedener Ablehnung zu begegnen vermag. Einmal ganz abgesehen davon, daß mein Bruder, der ein veritabler Atheist und nicht nur älter, sondern auch stärker ist als ich, mir wohl auch heute noch eine gehörige Tracht Prügel androhen würde, wenn ich ihm defizientes Menschsein attestieren würde. Was gibt uns das Recht, im Athei­sten einen weniger menschlichen Menschen zu vermuten als in einem frommen Juden oder Christen oder Muslim oder Buddhisten? Auf dem Boden solcher apologetischen religiösen Pro­paganda kann die Verkündigung der Rechtfertigung des Gott­losen kaum gedeihen. Wer der Überwindung der Gottlosigkeit durch Gott das Wort zu reden hat, tut vielmehr gut daran, im Atheisten eine besonders ausgereifte Gestalt des homo humanus ernst zu nehmen. Und daß die menschliche Gottlosigkeit dadurch überwunden wurde, daß sich in der Person Jesu Chri­sti Gott selbst für uns dem Tod ausgesetzt hat – dem Tod, der der Sünde Sold ist (Röm 6,23) –, das ist das Zentrum der Theo­logie, die zu vertreten ich mich berufen weiß.

Nun noch einige Bemerkungen zu den Lehrern, die mich geprägt haben. Da war ein Philosoph, der mich in Logik und Logistik unterrichtete, Gerhard Stammler. Da war mein neutestamentlicher Lehrer und Doktorvater Ernst Fuchs, der mich mit Rudolf Bultmann zusammenbrachte und zum Studium der Texte Heideggers anregte. In einem »illegal« außerhalb der DDR verbrachten Semester hörte ich – zwischen Zürich, Basel und Freiburg hin und her pendelnd – dann in Freiburg Heidegger selbst. Er war damals »unterwegs zur Sprache«. Gegen Ende seines Lebens habe ich ihn noch einmal besucht und am Ende eines langen Gespräches ganz ungeniert gefragt, ob es nicht die Bestimmung des Denkens sei, unterwegs zu Gott zu sein. Heidegger antwortete: »Gott – das ist das Denkwürdigste. Aber da versagt die Sprache …« Nun, diesen Eindruck hatte ich ganz und gar nicht. Hatte mich doch damals in Zürich Gerhard Ebeling in das Denken Luthers eingeführt, während Karl Barth in Basel mich mit seinem eigenen Denken vertraut machte. Und Luthers Bemühen um einen neuen modus loquendi theologicus, aber auch Barths breit dahinfließende, eher an einer Über­argumentation leidende Theologie erweckten nicht gerade den Eindruck einer versagenden Sprache. Barth hielt mich übrigens zunächst für eine Art Spion der Bultmann-Schule und begeg­nete mir wochenlang mit unverhohlener Skepsis. Doch als ich in einer unvergeßlichen Sitzung seiner Sozietät nicht nur seiner Bultmannkritik mit der Verwegenheit des Jünglings leiden­schaftlich zu widersprechen wagte, sondern zugleich einen Abschnitt aus Barths Anthropologie zu seiner Zufriedenheit in­terpretierte, wurde ich noch spätabends zu einem weiteren Dis­put bei einer Flasche Wein eingeladen. Und wenige Tage spä­ter stand die ganze Kirchliche Dogmatik vor der Tür meiner Studentenbude – mit der Widmung »Eberhard Jüngel auf den Weg in Gottes geliebte Ostzone«.

Dort, in der DDR, habe ich dann einige Jahre später, als ich nun selbst dogmatische Vorlesungen zu halten hatte und mich nach hilfreicher Anleitung umsah, mich erneut in dieses opus magnum meines großen Lehrers vertieft. Und siehe, hier be­gegnete mir innerhalb einer immer kurzatmiger werdenden theo­logischen Diskussion der lange Atem eines Denkens, das sei­ner Sache etwas zutraute. Barths Theologie war autochthon. Von ihr konnte man lernen, daß die sachliche Konzentration auf die in der Bibel bezeugte Wahrheit die beste Voraussetzung ist, um der gegenwärtigen Welt geistlich und weltlich das Ihre zu geben und um des Himmels willen der Erde die Treue zu halten. Mir eröffnete sich ein neuer Umgang mit der Überliefe­rung, der gegenüber respektlose Kritik genau so wenig in Be­tracht kam wie kritikloser Respekt. Und dadurch stellte sich nicht zuletzt auch eine ökumenische Weite ein, ohne die ich mir eine zukünftige Theologie schlechterdings nicht vorstellen kann. Vor allem aber wurde ich angeregt, Gott vom Ereignis seiner Offenbarung, das heißt vom Ereignis seines Zur-Welt-Kommens her zu denken: mithin also als einen Gott, der uns immer tiefer noch in die Welt hinein­führt – als einen Gott, dem nichts Menschliches fremd ist und der der Menschheit in der Person Jesu näher gekommen ist, als die Menschheit sich sel­ber nahe zu sein vermag.

Dieses augustinische »interior intimo meo« gewann eine Art Schlüsselfunktion für mein theologisches Denken, hat mir auch die Tür zur Mystik aufgetan, zu einer strengen Mystik. Ich ge­stehe freilich, daß ich im Unterschied zu anderen hier Sitzen­den durch diese Tür eigentlich immer nur geschaut habe und nicht eigens durch sie hindurchgeschritten bin. Aber das kann ja noch kommen. Vielleicht ändere ich mich in dieser Hinsicht dann doch noch.

Eine Art Parole zum Schluß! Was hat Theologie zu leisten? Die Antwort, schlagwortartig formuliert, ist zugleich der rote Faden, der sich durch meine theologische Existenz zieht. Theo­logie hat Aufklärung zu leisten. Freilich Aufklärung nicht im Lichte der Vernunft, aber auch nicht als Feindin des Lichtes der Vernunft, sondern Aufklärung im Lichte des Evangeliums. Und das so, daß es zum kritischen Dialog mit der Vernunft kommt. Und wie Theologie Aufklärung im Lichte des Evangeliums zu leisten hat, so hat sie, mit einem alten Wort zu reden, die ge­fährdeten Phänomene zu retten: σῴζειν τὰ φαινόμενα. In die­sem Sinne gilt es, der Schöpfung das Ihre zu geben.

Dazu gehört nach meinem Urteil, daß der Auftrag, sich die Erde untertan zu machen (Gen 1,28), nicht einfach preisgege­ben wird, wohl aber so wahrgenommen wird, daß es wirklich um ein Dominium terrae geht, während wir jenen Auftrag so wahrgenommen haben, daß aus dem Dominium ein Imperium geworden ist. Herrschen muß der Mensch weiterhin, wenn die Welt nicht kaputt gehen soll. Sie geht jedenfalls genau so schnell kaputt, wenn wir aufhören zu herrschen wie wenn wir in rück­sichtsloser Selbstverwirklichung gewaltsam herrschen. Was wir brauchen, ist ein Herrschen, das sich selbst zu beherrschen ver­mag. Wenn das glückt, dann entstehen vielleicht auch in unse­rer noch unerlösten Welt Gleichnisse des Himmelreiches. Dazu wäre es meines Erachtens nötig, daß die Theologie mit der Philosophie gemeinsam so etwas wie eine Kategorientafel des Bösen entwirft. Ernst Bloch hatte in unserer Tübinger theologischen Arbeitsgemeinschaft einmal bewegt darüber Klage geführt, daß uns eine Kategorientafel des Bösen nicht zur Ver­fügung steht. Die Theologie muß vom Evangelium her versu­chen, so etwas wie eine Kategorientafel des Bösen zu entwer­fen, nicht um uns vom Bösen faszinieren zu lassen, sondern um es mit dem ihm gebührenden scharfen schrägen Seitenblick an seinen Platz zu verweisen. Man kann das Böse nur bekämp­fen, wenn man es durch strenges Denken auf den Begriff bringt, um es daraufhin durch tapferes Handeln in seine Grenzen zu verweisen. Daß damit noch nicht das Himmelreich auf Erden beginnt, das ist wohl wahr. Aber es wäre damit immerhin ver­hindert, daß die Erde zur Hölle wird. Und in diese Richtung uns zu verändern, daß die Erde zur Hölle wird, da sei Gott vor: der Gott, der Hölle, Tod und Teufel für immer überwunden und ein Leben in Freiheit und in Frieden verheißen hat. Leben in Freiheit und Frieden, was ist das anders als gelingendes Zu­sammenleben mit Gott? Den Glauben an diesen Gott und die Hoffnung auf solches Zusammenleben denkend zu verantwor­ten – das ist nach meiner Einsicht die Aufgabe eines ordentli­chen Theologen. Ich bemühte mich und bemühe mich noch immer, ein solcher zu sein. Und das mit Vergnügen.

Quelle: Jürgen Moltmann (Hrsg.), Wie ich mich geändert habe, Gütersloh: Chr. Kaiser, 1997, S. 11-21.

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