Margreth Härdi-Caprez über ihre Eltern Gian und Greti Caprez-Roffler (1994): „Im Sommer 1944 geschah das Selt­same: Die gleiche Behörde, die neun Jahre zuvor Gretis Kirchgemeinde als Strafmassnahme das Kirchenvermö­gen fortgenommen hatte, fragte Gian und Greti Caprez an, ob sie die neuge­schaffene Stelle der Pastoration in den kantonalen Anstalten miteinander übernehmen wollten! So zogen sie im September nach Chur in ein wunder­schönes Privat-Haus am Calunaweg. Dieses Haus war ihnen sechs Jahre lang Heim und Zuflucht, wenn ihre Herzen schwer geworden waren ob all den vielen dunklen Schicksalen, die ihnen bei ihren Begegnungen in Spitä­lern, psychiatrischen Kliniken und Ge­fängnissen anvertraut worden waren. In der Nacht vom 20. auf den 21. De­zember 1942 kam der kleine Christ-Josias auf die Welt. Seine Mutter hatte bis fast zuletzt mit ihm zusammen in all die Dunkelheiten hineingehen müs­sen, und dann war es doch so ein Son­nenkind.“

Rückblick auf das Leben von

Greti Caprez-Roffler
Pfarrerin
geb. 17. August 1906 – gest. 19. März 1994 und

Gian Caprez-Roffler
dipl. Bauing. ETH und Pfarrer
geb. 5. Mai 1905 – gest. 12. April 1994

Von Margreth Härdi-Caprez

Gian Caprez – Kindheit und Jugend

Wären Gians Eltern abergläubisch gewesen, so hätten sie die Fünf für eine Unglückszahl gehalten, denn er war am 5. Tag des 5. Monats des 5. Jahres des kaum begonnenen 20. Jahrhunderts geboren. Nicht dass sie darin ein Unglück gesehen hätten, dass ihnen ein Kind geboren wurde, hatten sie doch eben ihren ersten Sohn hergeben müssen. Aber ihr zweites, Johann Rudolf getauftes und Gianin genanntes, war ein Sorgenkind. Es hatte alle nur erdenklichen Kinder­krankheiten durchgemacht, war mit sechs Jahren so schwach, dass es in einem Wägeli herumgefahren werden musste, und es wurde in einer kriti­schen Nacht von einem Ärztekonsi­lium aufgegeben. Gianin durfte aber wieder genesen und wurde anschliessend zur Erholung nach Lugano ge­schickt. Sein Vater brachte ihn in ein Kinderheim, liess ihn im paradiesi­schen Garten spielen und war plötzlich verschwunden. Mit List hatte man ihn eingeliefert, und er starb in der Folge fast vor Heimweh. Nach unendlich langer Zeit stand der Vater wieder da und holte ihn heim nach Pontresina. Lugano musste dem Knaben gut getan haben, denn ganze drei Jahre fehlte ihm nichts mehr. Dann meldete sich eine neue Krankheit: Ein böses Ge­lenkrheuma warf ihn viele Wochen nieder und verursachte eine grosse Herzerweiterung, die ihm Zeit seines Lebens anhänglich blieb.

Als Schulbub war Gian zu allerlei Streichen bereit. Seinen Eltern blieb zum Glück mancher Kummer erspart, da vieles nicht ans Licht kam, was die Knaben angestellt hatten, und auch vor Gians jüngerer Schwester, Elisa­beth, blieben die Bubenstücke geheim. Einiges davon sei hier aufgezählt: Der mutigen Knaben schönste Rennbahn war das flache Blechdach des drei­stöckigen Hauses im Carlihof. Und der galt als der Kühnste, der die äusserste Bahn nahe dem Dachkänel benutzte oder wer im Schuss zwischen Dachkänel und Kamin durchzuspringen wagte. Noch eine andere Mutprobe gab es dort oben in luftiger Höhe zu be­stehen: vornübergebeugt die unter dem Dachkänel durchgeleitete Stark­stromleitung rasch zu berühren, so dass es einem nichts machte. Wie sehr es gezwickt, hat niemand erfahren. Ein anderes Lausbubenstück: Da Gians Vater ihn das Katzen- und Ra­benschiessen gelehrt, da er ihn auch in die Kunst des Revolverschiessens ein­geführt und da er als Baumeister über Dynamit und Zündkapseln verfügte, waren sie auch auf diesem Gebiet hei­misch. Wie manche Explosion mit Dy­namit, wie mancher Zigeunerbraten mit Revolverschüssen und wie viele Schreckschüsse direkt hinter dem Rücken eines Polizisten hatten ihre so langen und langweiligen Ferien ver­kürzen helfen! Ob sein Vater wohl et­was davon geahnt hatte? Eines Tages machte er seinem Sohn das Angebot, im väterlichen Baugeschäft mitzuhel­fen. So wurde er Maurerhandlanger und verdiente 5 Rappen pro Stunde, monatlich in einem schönen gelben Zahltagstäschchen ausbezahlt.

Der Vater nahm seinen Sohn viel mit in die Berge und pflanzte ihm damit eine unauslöschbare Liebe und Sehn­sucht für die Alpen ins Herz. Wie oft zog Gian über Bergkämme, durchklet­terte exponierte Felswände oder ba­lancierte über einen schmalen Grat! Sein grösster Ehrgeiz galt dem Ski­sport. Es war ihm ganz selbstverständlich, dass er in allen Disziplinen erster sein musste. In der dritten Sekundarklasse gewann er die von Mrs Renton gestiftete silberne Medaille, die Frei­mitgliedschaft des Skiclubs Bernina, einen Kombinationsbecher und den Wanderbecher für den besten Pontresiner Springer. Das ist beileibe nicht Aufschnitt, denn sein scharfer Konkurrent auf der Berninaschanze war der nachmalige Schweizermeister im Ski­sprung, Christian Meisser von Da­vos. Welches Gefühl, so angestaunt und unübertroffen dazustehen! Heute springt jeder Primarschüler weiter. Wie ist doch alles «eitel und Haschen nach Wind»!

1921 trat Gian in die 4. technische Klasse der Kantonsschule Chur ein. Die Kantonsschulzeit diente ihm gewissermassen zur Klärung: Er wurde brav und gesittet, lernte gute Manie­ren und wurde seiner Schwester, die er früher oft bis aufs Blut geärgert hat­te, ein liebenswürdiger Bruder und seinen Eltern doch noch ein sogenann­ter hoffnungsvoller Sohn. Dann kamen wiederschwere Krankheiten über ihn, die ihn an den Rand des Grabes brach­ten. Im Juni 1924 war alles überstan­den: Krankheit, Matura und Matura­ball. Ein neuer Lebensabschnitt be­gann.

Im Herbst 1924 fand sich die ganze Maturaklasse wieder in Zürich an der Eidgenössischen Technischen Hoch­schule. Gian wählte das Ingenieurstu­dium: Acht Semester Vorlesungen voll strenger Arbeit mit Übungen und Vor­examen, ein neuntes Semester als Staatsexamen. Eine Zeit mit fast mili­tärisch strengem Aufbau und Diszi­plin. Eine wundervolle Zeit, voll Licht und Schatten, voll Spannung und Ent­spannung. Trotz allem kam die Gesel­ligkeit nie zu kurz. Im Akademischen Ingenieur-Verein erlebte er ein Zu­sammensein und Zusammenarbeiten, wie er es später an der Universität nicht mehr fand. Die Ferien waren je­weils ausgefüllt mit Examensvorberei­tungen und Militärdienst. Ende 1928 schloss er das Studium an der ETH mit dem Diplom als Bauingenieur ab. Nun folgten fünf Jahre Praxis als Bauinge­nieur. Im Sommer 1929 war er stu­dienhalber in Paris, als ihm ein Tele­gramm mit einem verlockenden Stellenangebot zugeflogen kam: «Assi­stent an der Technischen Hochschule von São Paulo in Brasilien, Gehalt 1000 Milreis, Reise bezahlt, kable Ant­wort!» Eine halbe Stunde später tele­grafierte er die Annahme. Dann ging es Schlag auf Schlag: Mitteilung an Braut und Eltern, Packen, Militärdis­pens, Hochzeitsvorbereitung und Hei­rat mit der Theologiekandidatin Greti Roffler.

Greti Roffler – Kindheit und Jugend

Im August 1906 gingen Gretis Eltern zu zweit in die Ferien nach St. Anto­nien, zu dritt kehrten sie wieder zu­rück, denn ihr erstes Kind, Greti, war am 17. August im sogenannten Hüscher­gada zur Welt gekommen. Eine alte Base amtete als Hebamme. Der frischgebackene Vater war damals Lehrer an der Kantonsschule in Chur. Als die Tochter fünf Jahre alt war, kehrte der Vater wieder ins Land­pfarramt zurück, und die Familie zog ins Pfarrhaus nach Igis. Hier wuchs Greti zusammen mit zwei jüngeren Schwestern und einem Bruder auf. Sie verbrachte eine glückliche Jugend. Viel fröhliches Spiel verband sie mit den Dorfkindern. Aber die andern hü­teten sich, ihr, dem Pfarrerskind, Schmutz oder Rohheit zuzutragen. Auch lebte Greti vielfach in einer Welt für sich, beständig neue Geschichten erfindend, deren Heldenfiguren dann mit der Träumenden identisch waren. Der Eintritt in die Schule riss sie aus diesem Paradies, denn sie hatte einen Lehrer, der Tatzen austeilte und Schü­ler und Schülerinnen an den Haaren aus den Bänken herausriss. Darum war es für Greti ein Geschenk, am Schluss der ersten Klasse in die dritte versetzt zu werden und damit den Leh­rer wechseln zu können.

Als Sekundarschülerin erlebte sie etwas für sie sehr Wichtiges: An einem Landsgemeindesonntag ging sie auf den Festplatz und verweilte auf der Wiese, wo die Männer für die Wahlen zusammengekommen waren. Bald lockte die Chilbi, die mit der Landsge­meinde verbunden war. Greti hatte von den Eltern eine kleine Geldsumme bekommen. Nun werweisste ihr be­gehrliches Herz hin und her: «So- und sovielmal kann ich mit der Reitschule fahren, aber dort von den wunder­schönen künstlichen Blumen an jenem Stand hätte ich allzu gern einige ge­kauft.» Und plötzlich geriet sie in einen Bann. Eine Stimme flüsterte ihr zu, lockend und schmeichelnd: «Geh hin und kauf dir eine, aber nimm drei! Das merkt niemand!» Kaum vernommen, war es auch geschehen. Sie begab sich wieder auf die Wiese. Plötzlich fiel der Bann von ihr ab. Die ganze Erkenntnis der Tat kam über sie. Und sie fiel in tiefste Verzweiflung. Eilends ging sie ein zweites Mal hinüber zur Chilbi, um wieder gutzumachen. Aber der Stand mit den Blumen war wie vom Erd­boden verschwunden, und sie stand allein mit ihrer Verzweiflung. Was sollte, was konnte sie nun tun? Nun, da sie nicht mehr gutmachen konnte, blieb ihr nur mehr die Reue. Sie lief dorthin, wo sie noch Hilfe und Zuflucht erhoffte: zur Mutter. Diese nahm ihre Tochter zwar in die Arme und liess sie auch ausschluchzen, aber sie war so überrascht von der Sachlage, dass sie ihr auf die Beichte antwortete: «Hof­fentlich hat es niemand gesehen!» Da­bei hatte die Schluchzende in diesem Augenblick das wichtigste und grösste Erlebnis eines Menschen: die Erkennt­nis von Schuld und Reue. Ihre Mutter hätte davon sprechen dürfen, dass sie nun nicht als Schuldige stehen bleiben müsse, sondern dass sie miteinander zum himmlischen Vater gehen, ihm die Schuld bringen und von ihm Verge­bung und völlige Befreiung empfangen dürften.

Gretis Vater hatte seine älteste Tochter zum Besuch der Kantons­schule bewogen im Blick auf ein späte­res Theologiestudium. Ihr wurde die­ses Ziel immer fraglicher. Es schien ihr, der Geist der Churer Kantons­schule sei allem Religiösen gegenüber rein negativ. 1925 bestand sie die Ma­tura, in völliger Ungewissheit, welches Studium für sie in Frage komme. Ma­thematik und alte Sprachen waren ihre Stärke. Dazu kam, dass der Deutschlehrer ihren letzten Vortrag mit den Worten quittiert hatte: «Ler­nen Sie ja nie einen Beruf, bei dem Sie ein einziges Wort öffentlich sagen müssen!» So entschied sie sich für das Studium der alten Sprachen. Aber ihr lebenswarmes und lebenshungriges Herz verlangte nach mehr. Deshalb sattelte sie zum Theologiestudium über. Allerdings nicht ohne dass sie immer wieder von Zweifeln geplagt wurde, sie würde nie auf einer Kanzel stehen können. Dazu kam noch eine Schwierigkeit: Sie hatte ihren Lebens­kameraden gefunden. Würden Ehe und der Beruf einer Theologin sich vereinen lassen? Sie hatte dafür keine Vorbilder.

1928 bestand sie das Propädeutikum vor der Zürcher Fakultät und in Chur. Im September 1929 folgte die Heirat mit Ingenieur Gian Caprez.

Das Ehepaar Gian und Greti Caprez-Roffler

Am Tage nach der Hochzeit fuhr das frischvermählte Paar mit der Eisen­bahn quer durch Frankreich, und bald sahen sie hinter ihrem Ozeandampfer «Massilia» die letzte graue Küste Por­tugals verschwinden. Es folgten drei­zehn Tage und Nächte mit Wasser und Himmel und einem Schiff, das in schneller Fahrt die Wogen durch­schnitt. Am vierzehnten Tag tauchte eine neue Welt auf: Rio de Janeiro mit seiner ganz einzigartigen Küstenfor­mation. Einen Tag später schon legten sie in Santos an und fuhren mit der Eisenbahn durch die subtropischen Bananen- und Ananasfelder Brasi­liens. Sie mieteten zwei möblierte Zim­mer im Zentrum der Millionenstadt São Paulo. Ihre Vermieterin verstand nur ein einziges deutsches Wort; «Glück», und die beiden Mieter nur wenige Brocken Portugiesisch. Nach einem halben Jahr konnten sie sich schon ganz ordentlich unterhalten. Während Gian ein überaus nettes Ver­hältnis unter seinen Mitarbeitern im Laboratorium fand und in seiner Ar­beit in aller Freiheit verfügen durfte, sass seine Frau zu Hause über theolo­gischen Büchern. Ihr Tagesprogramm begann mit einer Stunde Hebräisch, dann folgten Griechisch und alles, was zum theologischen Schluss­examen ge­hörte. Denn das hatten sie sich ausbe­dungen: Greti sollte im folgenden Jahr wieder zurückfahren in die Schweiz, um dort ihr Schlussexamen abzule­gen. Gian wurde damals durch diese theologische Arbeit weder berührt noch angeregt. Sie arbeiteten schön eines neben dem andern, genossen miteinander die Freizeit und ein Jahr voll mannigfaltigster Erlebnisse im fremden Land. Gegen Ende des folgen­den Jahres kehrte Greti wie vereinbart nach Zürich zurück und legte dort ihr theologisches Schlussexamen ab.

Inzwischen brach in Brasilien die Revolution aus. São Paulo wurde zum Ziel der Aufständischen. Nach zwei Monaten fiel die Stadt. Die Hochschule war heil davongekommen, sie gehörte sogar zu den Siegern. Der Direktor war selber Revolutionär. Taumel und Siegesparaden im ganzen Land. Gian und sein Schweizerkollege nahmen einen Monat Ferien, fuhren nach Rio de Janeiro und erlebten den Zauber dieser Tropenstadt.

Anfangs 1931 telegrafierte seine Frau, dass ihnen ein Knäblein ge­schenkt worden war. Nun zog es den stolzen Vater mit tausend Fäden in die Schweiz zurück. Die Frage, ob seine Frau mit dem Kindlein zu ihm zurück­kehren oder ob er in die Schweiz heim­fahren sollte, hatten sie so entschie­den, dass er reisen würde, obwohl ihm seine Stellung sehr zusagte und ihm das Gehalt im Laufe des vergangenen Jahres fast um das Doppelte erhöht worden war.

Im März 1931 betrat Gian in Spa­nien wieder europäischen Boden. Schliesslich kam er aus dem tropischen Hochsommer heim in das tief­verschneite Furna. Dort oben, im Hau­se des Grossvaters Roffler, fanden sie sich nach langer Trennung. Der kleine Sohn Gian Andrea lag im Überseekörbchen, bereit, zum Vater zu fah­ren, wenn dieser nicht zurückgekom­men wäre.

Noch sahen sie keine bestimmten Ziele. Aber es ergab sich nun eines nach dem andern. Greti wurde im Sommer 1931 zur Pfarrerin von Furna gewählt. Anfangs Oktober trat sie ihr Amt an. Die Gemeinde ersuchte dar­aufhin den Kantonalen Kirchenrat um Bestätigung der Wahl. Ein Sturm brach los, nicht nur beim Kirchenrat und in der Synode, sondern im ganzen «Blätterwald» Graubündens und weit über die Grenzen des Kantons hinaus. Die Gemeinde stand zu ihrer Pfarrerin, denn «wir wohnen schon so nahe dem Himmel, dass es uns vollkommen genügt, wenn uns ein Femininum den Weg dazu weist». Nach einem Jahr stand sogar der Standesbuchhalter des Kantons in der Furner Pfarrstube und verlangte von der Gemeinde als Strafmassnahme die Herausgabe des ganzen Kirchenvermögens, während er der Pfarrerin heimlich bekannte, dass er eine göttliche Freude an den Furnern habe.

Wohl hatte dieser Schritt der Über­nahme des Pfarramtes im Bergdorf das schwere Opfer einer Trennung der Familie verlangt, denn Gian arbeitete zunächst in Pontresina, dann in Zü­rich. Die Reise nach Furna war weit. Am Samstagabend punkt Mitternacht entstieg er in Furna-Station dem Post­auto, das damals zu solch später Stun­de das Tal bediente, und langte dann nachts um halb zwei Uhr bei Frau und Kind an. Aber mehr als ein halbes Jahr verlangte Gott dieses Opfer nicht von ihnen. Gians Arbeit gestaltete sich so, dass er seinen Standort oft wechseln musste und immer mehr Arbeit in Furna selbständig verrichten konnte.

Greti wollte alle ihre Aufgaben, das Gemeindepfarramt, die Sorge um den kleinen Sohn und den Haushalt, mög­lichst perfekt ausüben. Deshalb wurde ihr die Verantwortung manchmal fast zu schwer. An wievielen Sonntagen lag sie dann morgens, wenn die Kirchen­glocken riefen und sie auf die Kanzel steigen sollte, auf den Knien und bat Gott, das Amt von ihr zu nehmen! Denn immer noch schien es ihr eine zu grosse und zu erhabene Aufgabe, als dass sie als schwacher und armseliger Mensch ihr hätte genügen können. In diese Zeit fiel die Geburt des zweiten Kindes, Elsbeth Cilgia.

Und nun folgte ein weiterer Einschnitt in ihrem Zusammenleben. Die theologische Arbeit seiner Frau, der Kontakt mit der tapferen Bergbauern­gemeinde und der Einblick in die Ma­chenschaften eines modernen techni­schen Unternehmens liessen im Inge­nieur den Entschluss zum Theologie­studium reifen. Eines Tages sass Gian über einem lateinischen Lehrbuch und begann: laudo, laudas, laudat … An dem Tag, an welchem er zur Immatri­kulation nach Zürich fuhr, trat eine letzte Versuchung an ihn heran: Die Dornier-Werke am Bodensee offerier­ten ihm die Stelle in ihrer Materialprüfungsanstalt. Eine Unterredung mit. dem Direktor ergab, dass es sich hauptsächlich um die Konstruktion von Bomben- und Jagdflugzeugen für die Wiederaufrüstung Deutschlands handeln würde. Hier sagte er seinem technischen Beruf ab und ging über zum Theologiestudium. Zunächst musste er allerdings die Ergänzungs­maturität in Latein, Griechisch und Hebräisch ablegen. Ein Jahr später begann das eigentliche Studium der Theologie. Da der Pfarrermangel nicht mehr bestand und Furna wohl Aus­sicht hatte, einen neuen Seelsorger zu finden und da die Familie nicht noch einmal eine Trennung auf sich neh­men wollte, siedelte sie nach Zürich über, in der Hoffnung, nach dem Stu­dium wieder irgend­wo zusammen an­fangen, gemeinsam in der Arbeit ste­hen zu dürfen.

In Zürich erlebten die beiden den Segen der Oxfordgruppe. Durch diese lernten sie, was man an der Universi­tät nicht lernen konnte: hilfreiche Seelsorge und gemeinsames Gebet.

Im Dezember 1937 wurde ihnen ein drittes Kind geschenkt: Christina Turitea. Und im Juli 1938 zog die nun fünf­köpfige Familie nach Flerden. Flerden, Urmein und Tschappina hatten Gian Caprez zu ihrem Seelsorger ge­wählt. Da er aber erst im Oktober mit dem Studium fertig war, bekam Greti vom Kantonalen Kirchenrat die Er­laubnis zur Provision dieser drei Kirchgemeinden. Die Geburt ihres vierten Kindes, Margreth Ursula, fiel in die Heinzenberger Zeit.

Im Sommer 1944 geschah das Selt­same: Die gleiche Behörde, die neun Jahre zuvor Gretis Kirchgemeinde als Strafmassnahme das Kirchenvermö­gen fortgenommen hatte, fragte Gian und Greti Caprez an, ob sie die neuge­schaffene Stelle der Pastoration in den kantonalen Anstalten miteinander übernehmen wollten! So zogen sie im September nach Chur in ein wunder­schönes Privat-Haus am Calunaweg. Dieses Haus war ihnen sechs Jahre lang Heim und Zuflucht, wenn ihre Herzen schwer geworden waren ob all den vielen dunklen Schicksalen, die ihnen bei ihren Begegnungen in Spitä­lern, psychiatrischen Kliniken und Ge­fängnissen anvertraut worden waren. In der Nacht vom 20. auf den 21. De­zember 1942 kam der kleine Christ-Josias auf die Welt. Seine Mutter hatte bis fast zuletzt mit ihm zusammen in all die Dunkelheiten hineingehen müs­sen, und dann war es doch so ein Son­nenkind.

Allmählich wurde Greti die Arbeit zu viel. Sie gab im Herbst 1945 ihr Amt an eine Nachfolgerin weiter, und kurz darauf gesellte sich das sechste Kind, Gaudenz Curdin, zur Pfarrfamilie.

Im Frühling 1947 folgte Gian einem Ruf nach Kilchberg und zog mit seiner Familie in das grosse Landpfarrhaus nahe der Stadt Zürich. Die «herunter­gekommenen Bündner» fühlten sich nach anfänglichem Heimweh sehr wohl in der «schönsten Gemeinde am Zürichsee». Da Gians Kollege Gretis theologische Mitarbeit in seiner Ge­meinde nicht duldete, fand sie umso­mehr Zeit und Möglichkeiten zu Predigtstellvertretungen und Vorträgen in vielen Gemeinden. In der Wohnge­meinde organisierte sie Mütterabende und führte den Weltgebetstag der Frauen ein. Zusammen mit ihrem Gat­ten übernahm sie die Pastoration im Sanatorium. Im übrigen aber war Gian neben seinem Kollegen der Pfarrer von Kilchberg. Er wurde von den Leu­ten sehr geschätzt, weil in allem, was er in Worte fasste, sein Mitgehen zu verspüren war. So zeugten Taufen, Konfirmationen und Hochzeiten von seiner Mitfreude, Trauerfeiern von seiner Mittrauer. Menschen aller Al­tersgruppen fanden mit ihren Anlie­gen bei ihm Gehör. Intuition und Phan­tasie befähigten ihn. Vorschläge und Lösungen zu finden. Auch gingen von ihm verschiedene Impulse zu sinnvol­len Neuerungen im kirchlichen Ge­meindeleben aus. Die Jungen lagen ihm besonders am Herzen; denn aus Erfahrung wusste er um ihre innere Unsicherheit auch bei scheinbar selbstsicherem Auftreten. Er begegne­te ihnen mit viel Verständnis, Geduld und Liebe. Während Jahren leitete er die Junge Kirche und organisierte La­ger im Engadin, um den jungen Stadtmenschen die Unversehrtheit und Schönheit der Bergwelt näherzubrin­gen. Berufstätige Männer und Frauen, Ehepaare, Alleinstehende kamen zu ihm und suchten bei ihm Rat. Alte Leu­te und Kranke, die er besuchte, ermu­tigte er, nicht aufzugeben und Zuver­sicht zu bewahren. Um ihnen in der Vorweihnachtszeit ein Gefühl der Zu­gehörig­keit und der Freude zu vermit­teln, führte er das Adventssingen ein. Auch der schöne Brauch der Christ­nachtfeier geht auf seine Anregung zurück.

Als Schüler Emil Brunners fühlte er sich ganz selbstverständlich der öku­menischen Bewegung verpflichtet. Es gelang ihm denn auch, Brücken zwi­schen den Protestanten und Katholi­ken zu schlagen und ihr Zusammen­wirken zu fördern. In Abendmahl und Eucharistie sah er nichts unüberwind­lich Trennendes zwischen den beiden Konfessionen.

Am 28. November 1954 wurde aus Kilchberg der erste reformierte Got­tesdienst der Schweiz ausgestrahlt. Der Prediger hiess Gian Caprez. Am 24. August 1958 wurden Greti und Gian zum Familiengottesdienst der SAFFA gerufen. Auch dieser wurde vom Fernsehen übertragen.

1963 war es endlich soweit: Greti Caprez wurde zusammen mit elf Theologinnen, die einmal an der Zürcher Theologischen Fakultät abgeschlos­sen hatten, im Grossmünster ordi­niert. Die viereinhalbjährige Enkel­tochter sass mit dabei im Festgottes­dienst. Der Kirchenhistoriker, Prof. Blanke, stellte erfreut fest: «Das ist ein Novum in der Kirchengeschichte, dass eine Grossmutter ordiniert wird.» 1965 wurde dann in einer Volksab­stimmung auch in Graubünden die Frau zum Pfarramt in den evange­lisch-reformierten Kirchgemeinden zugelassen.

Vier Jahre vor Gians Pensionierung kam die Frage an das Pfarrehepaar, ob sie nicht miteinander das verwaiste Rheinwald übernehmen würden. Splügen suchte seit drei Jahren einen Pfarrer, Nufenen seit zwei Jahren. Zu­erst dünkte es Gian, er könnte den Ab­schied von Kilchberg nicht überleben. So sehr fühlte er sich mit seiner Ge­meinde verbunden. Er suchte nach Hindernissen von aussen. Darum stell­ten sie an den Evangelischen Kirchen­rat Graubünden zwei Bedingungen: Greti sollte diesmal als selbständige Pfarrerin einer Gemeinde anerkannt werden, und Gian und Greti sollten sich jeden zweiten Sonntag im Kanzel­dienst gegenseitig vertreten dürfen. Beides gab es bisher in Graubünden nicht. Der Kirchenrat akzeptierte die Bedingungen. Gian wurde in Sufers, Splügen und Medels und Greti in Nufe­nen und Hinterrhein gewählt. Nun erst wurde die Wahl nach Graubünden in Kilchberg ruchbar. Die Kilchberger wollten ihren Pfarrer nicht ziehen las­sen und gaben ihm zu bedenken, dass es unverantwortlich sei, mit seinem dreifachen Herzfehler in die Höhe zu zügeln. Dieser Hindernisgrund leuchtete ein und war Gian sehr willkom­men. Der Herzspezialist jedoch er­laubte den Wechsel ins Rheinwald. So wurde auf den 15. Juni 1966 der Umzug festgelegt. Am 12. Juni kam der Bericht vom Kirchenrat Graubünden, dass die schon akzeptierten Bedingun­gen unerfüllbar seien. Gian forderte seine Gattin auf, die Zügelkisten wie­der auszupacken. Aber dazu war es jetzt zu spät. Der Umzug ins Rhein­wald fand statt, und wenig später – nach langem Gespräch – akzeptierte der Kirchenrat die Bedingungen des Pfarrehepaares erneut.

Am 1. Juli 1968 wurde Gian an der Synode zu Landquart in den Evangeli­schen Kirchenrat Graubünden ge­wählt. Das war für ihn eine unverhoff­te Anerkennung. Er führte sein Amt mit Freude auch nach der Pensionie­rung noch aus.

Vier Jahre nach dem Einzug ins Rheinwald, gut einen Monat nach Er­reichung der Pensionsaltersgrenze, nahmen sie Abschied von ihren Kirch­gemeinden und zogen nach Furna ins Haus von Gretis Grosseltern, wie von Anfang an vorgesehen. Es waren vier schöne Jahre im Rhein­wald, und es war für beide wertvoll, noch einmal in anders gearteten Gemeinden arbeiten zu dürfen. Auch Gian bereute den Wegzug von Kilchberg nachträglich nicht mehr. Im Gegenteil: Auf der Wegfahrt von Splügen nach Furna hielt er sein Auto in der Viamala an, nahm seine Frau in die Arme und dankte ihr, dass sie ihn ins Rheinwald gelockt hatte.

Dann begann der Ruhestand in Furna. Das heisst: Nach einem halben Jahr verwaiste diese Kirchgemeinde, und das pensionierte Pfarrehepaar übernahm auf Drängen der Leute hin gemeinsam das Pfarramt. So schloss sich der Kreis der pfarramtlichen Tä­tigkeit: angefangen 1931 in Furna, be­schlossen 1972 in Furna.

Ein schwerer Schlag war für Gian und Greti. als am 19. Dezember 1982- dem vierten Adventssonntag- ihr älte­ster Sohn in einer Lawine verunglück­te. Es dauerte acht Monate, bis er ge­funden wurde und auf dem Friedhof in Pontresina im Grabe seiner Grosseltern beigesetzt werden konnte.

Mit Gians Herz wurde es schlimmer. Die geringste Steigung bereitete ihm Mühe. Eine Operation im Kantonsspi­tal Zürich drängte sich auf. Nach die­sem schweren Eingriff schlug das Herz wieder, dass es eine Freude war. Gian konnte wandern und Treppen steigen ohne die geringsten Beschwerden. Schwierig wurde es für ihn erneut, als er plötzlich das Augenlicht fast voll­ständig verlor. Auch bei Greti traten etliche Altersbeschwerden auf. Sie schaffte es nicht mehr, allein das Haus und den Garten zu besorgen. So ent­schlossen sie sich 1987 schweren Her­zens, Furna zu verlassen und ins Al­tersheim nach Chur zu ziehen. Sie leb­ten sich bald gut ein in der Stadt, und es wurden sechseinhalb glückliche Jahre in der sonnigen Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung im Rigahaus. Nebst den Kindern, Enkeln und Urenkeln ka­men viele Freunde und ehemalige Ge­meindeglieder zu Besuch und liessen sie spüren, wie sehr sie geschätzt wa­ren. Der Gesundheitszustand beider verschlimmerte sich zusehends. Es war schliesslich eine Erlösung, als Greti am 19. März 1994 sterben durf­te. Gian wurde nur 24 Tage später, am 12. April, vom himmlischen Vater heimgerufen.

Quelle: Bündner Jahrbuch. Zeitschrift für Kunst, Kultur und Geschichte Graubündens 37 (1995), S. 158-162.

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