Von Karl Barth
Bonn, den 25. Juni 1932.
Sehr verehrter Herr Pastor!
„Karl Barth muß Offene Briefe schreiben“, so begann neulich das Ihnen und mir so ganz besonders wohlgewogene und von uns beiden so ganz besonders hochgeschätzte Berliner Protestantenblatt eine seiner erquickenden Mitteilungen. Wirklich es geht nicht anders, heute muß ich auch Ihnen einen kleinen Offenen Brief schreiben. Wobei ich doch froh bin, bei Ihnen anders als bei den beiden Streitbaren in Göttingen von vornherein auf ein freundliches und ernsthaftes Verstehenwollen rechnen zu dürfen.
Ich bin aufrichtig bekümmert wegen der Antwort, die Sie in Nr. 25 der Reformierten Kirchenzeitung (in Sachen der „Pfarrerin“ im allgemeinen und des im fernen Graubünden spielenden Falles Caprez im besonderen) der Darlegung von Gertrud Herrmann haben folgen lassen.
Fräulein Herrmann hatte zu erwägen gegeben, ob es nicht gefährlich sein möchte, die Haltung und Entscheidung Anderer (in diesem Fall: der predigenden Frauen im allgemeinen und jener renitenten Graubündnerin im besonderen), wie Sie es zuvor getan hatten, eindeutig als Ungehorsam gegen Gott zu qualifizieren und anzuklagen? Ob bei der Berufung auf die dieses Urteil angeblich fordernde „Schöpfungsordnung“ nicht eher eine bestimmte sehr menschliche Idee vom Wesen des Menschen bzw. der Frau, gemeint sein möchte als das Gebot Gottes? Ob man das Urteil: Ungehorsam! da und dort nicht besser Gott überlassen sollte? — Auf diese Frage haben Sie schroff mit der Wiederholung Ihres Urteils geantwortet. Wir befänden uns heute in keiner außerordentlichen Lage. Für einen nicht „theologisch“ verbildeten Bibelleser sei im Blick auf die bekannten Paulusstellen die predigende Frau in der christlichen Gemeinde eine „verbotene Erscheinung“. Frau Caprez habe, indem sie in Widerspruch zu Kirchenbehörde und Volksabstimmung und in räumlicher Trennung von ihrem Manne ihr Pfarramt in Furna verwalte, „mit einer nur bei Frauen zu findenden Hartnäckigkeit“ ihrem eigenen Wunsche gehorcht und Gottes Ordnung übertreten. Solches Tun verstünden Sie nicht und hielten sich nach wie vor für berechtigt oder verpflichtet, es Ungehorsam gegen Gott zu nennen. — Verehrter Herr Pastor! Wenn ich von Theologie auch nur das Geringste verstehe, so hat Fräulein Herrmann mit ihren Fragen recht gehabt und hätten Sie ihr nicht so antworten dürfen.
Ich muß die Ihnen gestellte Frage in aller Form wiederholen und weiter fragen: Seit wann ist der „theologisch“ unverbildete Bibelleser der Richter, bei dem wir uns, wo der Sinn der Schrift uns strittig erscheint, die Entscheidung zu holen hätten? Sollte er der Schrift gegenüber wirklich ein weniger großer Tor sein als der verbildete? Sollte aber — ich weiß ja, was Sie meinen — ein in gutem Sinne „unverbildetes“ Bibellesen wirklich darin bestehen, daß man aus den immer konkreten Weisungen der Schrift eine Anzahl (quo iure? nach welchem Gesichtspunkt?) auswählt, sie als allgemeine Wahrheiten auffaßt und behandelt und zu einem System der Gebote Gottes zusammenstellt? Kommt es wirklich auf diesem Wege zur Erkenntnis und Anerkenntnis der wirklichen Gebote Gottes und zum Gehorsam gegen sie? Ist die Schrift nicht immer noch ein wenig reicher und vielsagender als unsere noch so klug ausgewählten Schriftsysteme? Darf man, indem man 1. Korinther 14, 34 und 1. Timotheus 2,11f. ernstlich bedenkt, 1. Korinther 11,5 und Apostelgeschichte 2,17.18 nicht ebenso ernstlich bedenken wollen? Sollte Renitenz gegen eine Kirchenbehörde nicht mindestens auch zu den Dingen gehören, die nach der Schrift gelegentlich höchst geboten sein können? Welche Bibelstellen wollten Sie, wenn es darauf ankäme, als göttliches Verbot der Renitenz gegen eine Volksabstimmung anführen und welche als Verbot eines räumlichen Getrenntlebens von Mann und Frau? Und ist es Ihnen andererseits nicht erinnerlich, mit welcher strammen biblischen Begründung einst die Theologen der amerikanischen Südstaaten die Notwendigkeit und Rechtmäßigkeit der Sklaverei zu verteidigen wußten? Aber was findet man denn, wenn man in der Bibel überhaupt in dieser Weise Systeme allgemeiner Wahrheit, paragraphierte Gesetze für gestern, heute und morgen, für sich selbst und jedermann gefunden zu haben meint? Wirklich die Gebote Gottes? Und nicht tatsächlich doch bloß eine in die Bibel hineingetragene, höchst eigene, vielleicht sehr respektable, sehr erwägenswerte, aber doch menschliche Idee von Lebensgestaltung? Ist uns die Schrift dazu gegeben? Lassen wir sie so wirklich den Meister sein, dem wir gehorsam sind? Müßte nicht alle Beachtung und alle Verkündigung der immer konkreten Weisungen der Schrift darauf zielen, uns (wir können doch dem Worte Gottes nur dienen, wir können uns doch seiner nicht bemächtigen wollen!) zum Hören dessen zu erziehen, was Gott durch diese Weisungen uns in der Zeit unserer Not und in der Not unserer Zeit sagen will? Dürfen wir das, was Gott uns sagen will auf Grund dessen, was wir uns an Hand einer Anzahl von uns selbst ausgewählter Bibelstellen selbst gesagt haben, vorwegnehmen? Ist Gott nicht auch und gerade indem er durch die Schrift mit uns redet, ein freier und freibleibender Gebieter? Sind seine Gedanken nicht immer wieder höher als unsere Gedanken, auch als unsere noch so wohlerwogenen Schriftgedanken? Ist es also nicht immer eine „außergewöhnliche Lage“, in der sich der Mensch befindet, wenn ihm Gott gebietend oder verbietend gegenübertritt? Wer wird also des Menschen Richter sein, wer wird über seinen Gehorsam oder Ungehorsam zu befinden haben? Er selber gewiß nicht, aber wir andern, unserem eigenen Herrn stehend und fallend (Römer 14,4), sicher auch nicht! Wir mögen uns über ihn wundern, wir mögen ihn nach bestem Wissen und Gewissen mahnen, beraten, warnen angesichts der Haltung, die wir ihn einnehmen sehen, wir mögen seiner Entscheidung, wenn es unseres Amtes ist, aus ernster Überzeugung energisch entgegentreten. Oder wir mögen uns seines Tuns freuen, ihm unsere Teilnahme und Zustimmung aussprechen, ihm unsere Unterstützung und Förderung zuteil werden lassen. Aber wie könnten wir uns anmaßen, das Geheimnis aufdecken zu wollen, ob er Gott, ob er der Schrift gehorsam oder ungehorsam ist?
Seit bald 11 Jahren habe ich nun manche Theologiestudentin in einiger Nähe an mir vorbeiziehen sehen und bin mit mehr als einer von ihnen auch nachher in Fühlung geblieben; ich lese auch die „Mitteilungen des Verbandes evangelischer Theologinnen Deutschlands“, aus denen einigermaßen ersichtlich ist, von was und in welcher Art diese Mädchen und Frauen bewegt sind. Nicht alles, was ich gesehen und gelesen habe ist mir unbedenklich. Wie sollte es schon anders sein! Aber im ganzen machen mir unsere Theologinnen den Eindruck von Menschen, denen es nicht nur mit ihrer Arbeit mindestens ebenso ernst ist wie ihren männlichen Kollegen, sondern die sich auch des besonderen Ernstes der Problematik gerade ihrer Stellung bewußt sind, die, wenn sie gerade diese Arbeit tun, wenn sie sich auch an der Verkündigung der Kirche beteiligen möchten, nicht persönlichen Wünschen, sondern einem Auftrag zu folgen meinen und folgen wollen. Mehr kann ich nicht sagen: nichts Besseres, aber auch nichts Schlechteres. Ob diese Mädchen und Frauen Gott gehorsam oder ungehorsam sind, wie sollte ich — und, verehrter Herr Pastor, wie sollten Sie darüber entscheiden können? Wiederum kenne ich Frau Caprez nicht, habe auch die Akten ihres Falles nicht gelesen. Es gibt in meiner schweizerischen Heimat (unter Männern und Frauen) viele harte Köpfe und in Graubünden nach Ausweis der Geschichte dieses Landes vielleicht noch besonders. Ich könnte mir also wohl vorstellen und ich will es einmal so annehmen: daß ich meinen ebenfalls etwas harten Kopf in dieser Sache ganz bedenklich schütteln müßte, und daß ich der Maßnahme der bündnerischen Kirchenbehörde nur zustimmen könnte. Aber selbst, wenn ich alles wüßte und dann das Verhalten von Frau Caprez noch so scharf kritisieren müßte: zum Urteil, daß dort jemand im Ungehorsam gegen Gott stehe, würde es auf keinen Fall langen, und ich kann auch mit dem besten Willen und bei allem Respekt vor Ihrer wohlgegründeten Überzeugung nicht einsehen, wie man in Vlotho wissen will, daß in Furna das Gebot Gottes übertreten wird.
Sollte es nicht dem Ernst der Erkenntnis der Gebote Gottes, um den es doch uns beiden geht, dienlich sein, wenn man — sofern man nicht die Vollmacht eines Propheten oder Apostels, eines Kirchenvaters oder Reformators für sich in Anspruch nehmen kann — die eigene Überzeugung (auch seine biblisch begründete Überzeugung) und das uns durch die Schrift gegebene, aber auch immer wieder aus der Schrift zu erwartende Gebot Gottes selbst deutlich auseinander hielte? Dies ist es, was ich Sie in diesem Offenen Brief fragen wollte.
In aufrichtiger Verbundenheit mit freundlichem Gruß
Ihr
(gez.) Karl Barth.
Quelle: Reformierte Kirchenzeitung 82, Nr. 28, 10. Juli 1932, S. 220f.