Karl Barth, Die evangelische Kirche in Deutschland nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches (1945): „Dass einige deutsche Professoren — darunter leider mindestens zwei Theologieprofessoren — bis auf diesen Tag an Hitler festhalten, daß «in des Waldes finstern Gründen und in Höhlen tief versteckt» einige Werwölflein und andere Unverbesserliche immer noch über Plänen zur Erneuerung seines Reiches brüten, dass das Ende dieser Sache sich, wie es scheint, besonders unter den Kriegsgefangenen noch nicht überall durchgesprochen zu haben scheint, dass der Vergleich zwischen der Bitterkeit von jetzt und der von einst bei manchen unmutigen deut­schen Beurteilern gelegentlich zugunsten des «einst» ausfal­len mag — das Alles sind keine ernsten Beweise dagegen, dass das Dritte Reich heute wirklich zusammengebrochen ist: äußerlich nicht nur, sondern auch innerlich.“

Die evangelische Kirche in Deutschland nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches (1945)

Von Karl Barth

Das Dritte Reich des Nationalsozialismus ist zusammen­gebrochen: wie vorher das Reich der Hohenzollern, wie einst der Kirchenstaat in Italien, wie einst das Königtum und dann das Erste und das Zweite Kaiserreich der Fran­zosen, wie einst die alte Eidgenossenschaft — nur nach sehr viel kürzerer Dauer als alle diese Gebilde und nur daß seine Lebensunwürdigkeit und Lebensunfähigkeit die aller dieser Gebilde um ein Vielfaches übertroffen hat. Das Dritte Reich ist nicht mehr. Der Abscheu vor ihm wird als eine dauernde Erinnerung und der Wille, ihm keine Wiederkunft zu ge­statten, wird als eisernes Prinzip in die künftige Weltpoli­tik, wie immer diese sich im übrigen gestalten möge, über­gehen. Man kann aber auch ruhig sagen, daß die Deutschen selbst mit dieser Sache fertig sind. Wir erinnern uns Alle an die Wälder von Händen, zum Hitlergruß erhoben, wie wir sie im Kino und in den Illustrierten so oft gesehen, und an die Meute, deren Heilrufe wir im Radio hören mußten. Wo sind heute die Menschen, die damals ihre Hände und ihre Stimmen erhoben? Aber die bekannte und mit so viel Entrüstung und Gelächter aufgenommene Tatsache, daß die Alliierten in Deutschland nun tatsächlich fast niemand gefunden haben, der sich als Nazi bekennen wollte, beruht nicht nur auf Kneiferei und Täuschung. Der Nationalsozia­lismus war der böse Traum des deutschen Volkes. Es hat ihn heute ausgeträumt. Man kann und muß ihm vorwerfen, daß es gerade dieses bösen Traumes fähig war. Und es ist unvermeidlich, daß es für das, was es, in diesem bösen Traum befangen, angerichtet hat, einstehen, büßen und be­zahlen muß. Es hat aber keinen Sinn, damit zu rechnen, daß der Nationalsozialismus im deutschen Volk noch heute eine Realität sein könnte. Das allgemeine Erwachen und Nüchternwerden begann draußen lange vor der Katastrophe die­ses Frühjahrs, teilweise schon lange vor Stalingrad. Und viele, viele Deutsche sind überhaupt nie eingeschlafen, um diesen Traum zu träumen. Er ist heute bestimmt auch im Ganzen ausgeträumt. Daß einige deutsche Professoren — darunter leider mindestens zwei Theologieprofessoren — bis auf diesen Tag an Hitler festhalten, daß «in des Waldes finstern Gründen und in Höhlen tief versteckt» einige Werwölflein und andere Unverbesserliche immer noch über Plänen zur Erneuerung seines Reiches brüten, daß das Ende dieser Sache sich, wie es scheint, besonders unter den Kriegsgefangenen noch nicht überall durchgesprochen zu haben scheint, daß der Vergleich zwischen der Bitterkeit von jetzt und der von einst bei manchen unmutigen deut­schen Beurteilern gelegentlich zugunsten des «einst» ausfal­len mag — das Alles sind keine ernsten Beweise dagegen, daß das Dritte Reich heute wirklich zusammengebrochen ist: äußerlich nicht nur, sondern auch innerlich.

Eine ganz andere Frage ist aber zunächst die, ob mit dem Dritten Reich auch das wirklich und endgültig zusam­mengebrochen ist, was äußerlich und innerlich der Unter­grund war, aus dem es folgerichtig und notwendig hervor­ging: ich meine die Gestalt und die Idee eines deutschen Staates, dessen Einheit nach innen auf ein beherrschtes, statt auf ein freies Volk, nach außen aber auf die mili­tärische Drohung begründet war. Was die Gestalt dieses Staates betrifft, so ist sie freilich vorläufig mit der des Dritten Reiches zusammen vernichtet worden. Die offene Frage ist aber die, ob heute mit seiner Gestalt auch seine Idee so überwunden ist, daß sie nicht in irgend einer Zu­kunft aufs neue Gestalt gewinnen und dann wohl auch folgerichtig und notwendig irgend einen anderen, ebenso unerfreulichen Schlangenkopf hervorbringen könnte wie den, der nun in Gestalt des Dritten Reiches seine Zeit gehabt hat und endlich abgeschlagen worden ist. Daß man Hitler nun sogar in Tübingen von der Kanzel herunter eine «Satans­brut» genannt hat, ist schön und recht. Hitler ist tot. Neh­men wir an, er sei es. Aber was hülfe das der Welt und den Deutschen selbst, wenn diese etwa nicht begreifen sollten, daß mit Hitler auch Friedrich und Bismarck, auch Fichte und Treitschke tot sind, wenn sie etwa unter allen Zeichen des Verdrusses und des ehrlichsten Entsetzens über Hitler doch nur auf einen neuen Staat der Herrschaft nach innen, der Drohung nach außen hoffen und zielen, wenn sie statt auf 1848 aufs neue auf ein 1866 und 1870 zurückkommen wollen sollten? Der eigentlich gefährliche deutsche Feind war und ist nicht das Dritte Reich. Das war nur der Schlan­genkopf, die spektakuläre Erscheinung dieses Feindes, die heute von außen zusammengeschlagen, von innen als böser Traum ausgeträumt wurde. Der eigentlich gefährliche deutsche Feind war und ist der Geist, die Gesinnung und Haltung derer, die als sogen. «Deutschnationale» nach dem letzten Krieg unter dem Pathos einer deutschen Befreiungs­bewegung allen Autoritarismus und Imperialismus, allen Kapitalismus und Militarismus der vorangegangenen Zeit jetzt erst — in der Opposition gegen Versailles und gegen die allzu schwache Gründung von Weimar — zu vollen Ehren gebracht, die alles Gute, das den Regelungen von 1919 immerhin nicht ganz abging, systematisch sabotiert und die schließlich — betrogene Betrüger freilich — das deutsche Volk dem Mann ausgeliefert haben, der es nun, indem er es zur Weltgefahr machte, in den Abgrund geführt hat. Ob die Deutschen — vom Nationalsozialismus nicht nur, sondern von diesem deutschen Nationalismus so geheilt sind, daß das Nachwachsen eines ähnlichen Schlangenkopfes auch innerlich, auch von ihnen selbst aus, unmöglich ist, das ist die eine Frage, die heute, nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches, noch offen ist. Denn sie ist damit nicht beantwortet, daß die Gestalt jenes Staates der Herrschaft und der Drohung heute von außen vorläufig zerschlagen ist. Eine Idee kann man nämlich nicht, und nicht einmal vor­läufig, von außen zerschlagen. Mit Potsdam ist Potsdam nur äußerlich und also nicht wirklich zu überwinden.

Und wieder eine andere Frage ist die, ob mit dem Drit­ten Reich nun eigentlich wirklich auch das, was wir bis jetzt als deutsches Volk, deutsche Menschlichkeit, deutsches Wesen, deutsche Kultur gekannt haben, zusammengebrochen, irreal geworden ist. Ich habe vor den Trümmern des Goethehauses in Frankfurt gestanden. Eine Tafel mit den Worten «Historisches Monument» in englischer Sprache zeigt ge­rade noch an, daß dort einmal etwas gewesen ist. Nur noch gewesen? Die Frage stellt sich sehr ernstlich. Was immer deutsch ist und heißt, hat heute im Verständnis, in der Achtung, in der Würdigung, in der Schätzung der übrigen Welt einen Sturz sondergleichen erlitten. Indem es mit dem Nationalsozialismus sich kompromittiert hat, ist es durch ihn in einer fast hoffnungslosen Weise kompromit­tiert worden. Die Gleichsetzung von deutsch und national­sozialistisch, die ja zuerst in Deutschland selbst entdeckt, bejaht oder doch schweigend anerkannt worden ist, hat sich in den Ohren der ganzen Welt festgesetzt. Es gibt Millionen und Millionen von nicht-deutschen Zeitgenossen, die für ihr ganzes Leben jedem Deutschen nur noch mit tiefstem Mißtrauen begegnen oder ihm auch sofort den Rücken kehren werden. Der lange genug mühsam unterdrückte Volkszorn hat sich ja auch bei uns bereits auf diesen Weg begeben. Wobei wir alemannischen Schweizer es übrigens erleben könnten, daß wir unsern Teil an diesem Wertsturz alles Deutschen noch mitzutragen haben werden! Wird es für die Deutschen, die die gegenwärtige Krisis überleben werden, eine andere Existenz als die einer Art geduldeter Parias überhaupt je wieder geben können? Es sind die Deutschen selbst, und zwar die einsichtigsten und besten unter ihnen zuerst, die sich heute diese Frage stellen. Das westliche Deutschland ist schwer krank, das Östliche eine einzige blu­tende Wunde. Es ist heute entsetzlich schwer, ein Deutscher zu sein, in Deutschland zu leben, sein Brot, seine Wohnung, sein Holz für den Winter zu finden, sich selbst und seinen Kindern irgend einen Weg in die Zukunft zu bahnen. Um nicht zu reden von der Teilnahme an allem Höheren, das zum Leben gehört. Wo soll man heute draußen anknüpfen, wo Alles zerrissen ist, wie aufbauen, wo es vor lauter Trüm­mern keinen Boden gibt? Wer kann den Anderen helfen, wo Alle leere oder fast leere Hände haben? Und wie kön­nen die alten Worte und Werte wieder Kraft und Licht bekommen, nachdem sie sie durch den Mißbrauch, der mit ihnen allen getrieben wurde, so gänzlich verloren haben? Wie und an was soll man sich aufrichten, wo nun eben alle Deutschen und wo Alles, was Alle sind, sagen und tun, indem es und weil es deutsch ist, von außen von jener Mauer von Mißtrauen und Ablehnung umgeben ist? Die Frage ist gestellt: Soll es wirklich kein Deutschland und keine Deutschen mehr geben? Nur noch deutsche Bücher und deutsche Musik, nur noch ein paar Ansichten aus der deutschen Vergangenheit zu gelegentlicher ästhetischer oder neugieriger Kenntnisnahme, aber keine deutsche Gegenwart mehr und keine deutsche Zukunft?

Auf diese beiden Fragen ist dann, so ernst sie beide sind, eine positive gute Antwort zu geben, wenn es in Deutschland auch nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches eine evangelische Kirche gibt — nicht nur ein Gebilde, das evangelisch heißt und das so etwas wie evan­gelisch zu sein scheint, sondern eine dem Evangelium wirk­lich dankbare und dem Evangelium wirklich verpflichtete Kirche. Ich bemerke vorweg, daß die Alliierten den christ­lichen Kirchen in Deutschland bis jetzt durchweg ein außer­gewöhnliches Maß von Freiheit und positiver Förderung zu­teil werden ließen. Auch die evangelische Kirche hat äußer­lich jede Chance, eine große Möglichkeit. Sie brauchte jetzt nur zu sein, was sie heißt und was sie zu sein scheint 1 Eine solche evangelische Kirche in Deutschland würde minde­stens ein Gegengewicht sein gegen die furchtbare Möglich­keit, daß dort, nachdem man mit dem Nationalsozialismus fertig ist, im Grunde doch alles auf den alten, nämlich auf den deutschnationalen Wegen, die 1933 schließlich dorthin geführt haben, weitergehen könnte. Und sie würde minde­stens ein Gegengewicht sein gegen die andere furchtbare Möglichkeit, daß das deutsche Volk von der Welt fallen gelassen und dann auch sich selbst fallen lassen könnte und daran innerlich und äußerlich zugrunde gehen müßte. Eine evangelische Kirche in Deutschland wäre jedenfalls eine Hoffnung, die sich als solche sowohl dem deutschen Volk als der übrigen Welt aufdrängen müßte. Es gibt wohl auch andere Faktoren, im Blick auf die man es wagen könnte, heute, trotz des Ernstes jener beiden Fragen, für Deutsch­land zu hoffen. Ich denke an die Existenz einer freiheitlich demokratisch gesinnten Minderheit im deutschen Volk, die sich als stille Opposition unter dem nationalsozialistischen Regime behauptet und bewährt hat, und die nun vielleicht zum Zuge kommen wird. Und ich denke an die, vernünftigen und humanen Regungen und Anregungen notorisch immer wieder zugängliche, öffentliche Meinung in den angelsächsi­schen Völkern und an die durchaus offene Diskussion der deutschen Frage sogar in der französischen Presse. Man könnte auch auf die Lebenskraft älterer und schließlich nach wie vor Respekt erzwingender deutscher Traditionen, man könnte natürlich auch auf die Existenz der katholischen Kirche in Deutschland und auf ihren Einfluß in der übri­gen Welt verweisen. Ich möchte diese anderen Faktoren nicht gering schätzen. Aber ich weiß nicht, wie man im Blick allein auf diese anderen Faktoren für das heutige Deutschland guter, gewisser, freudiger Hoffnung sein dürfte. Um solcher Hoffnung zu sein, müßte man neben und vor allem anderen mit der Existenz einer ihres Namens werten, einer lebendigen evangelischen Kirche in Deutschland rech­nen dürfen. Sie würde ein Garant sein dagegen, daß das Nachwachsen eines neuen Schlangenkopfes aus dem alten Untergrund nun wirklich nicht mehr zu befürchten ist, ein Garant auch dafür, daß die Geschichte des deutschen Volkes noch nicht zu Ende ist. Sie wäre nämlich als Stätte der An­betung im Geist und in der Wahrheit ein Garant dafür, daß Gott dieses Volk nicht verstoßen und verlassen hat.

Zu der Frage, ob man mit diesem Garanten, mit einer evangelischen Kirche in Deutschland nach dem Zusammen­bruch des Dritten Reiches rechnen darf und dann auch muß, möchte ich hier einen Beitrag geben.

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Wir kehren dazu zunächst in Gedanken noch einmal zu­rück in die zwölf Jahre der Hitlerzeit. Es war in dieser Zeit bekanntlich nicht so, daß ein deutscher Widerstand gegen das Dritte Reich nach außen sichtbar und faktisch wirksam wurde. Die Deutschen haben sich nicht selbst befreit. Es blieb ihnen nur übrig, sich zuletzt von außen befreien zu lassen. Die große Enttäuschung über diese Tatsache, die uns Alle durch jene zwölf Jahre hindurch begleitet hat, darf uns aber nicht hindern, zu anerkennen, daß deutscher Wider­stand faktisch geleistet wurde, nur daß es offenbar, nachdem sich das System einmal durchgesetzt hatte, nicht im Bereich des Menschenmöglichen lag, ihm jene Sichtbarkeit und Wirk­samkeit zu geben. Zu den Elementen dieses deutschen Wi­derstandes gehörte zweifellos auch die evangelische Kirche.

Auch sie hat das Aufkommen, den Triumph und die Schrecken des Nationalsozialismus nicht verhindern können. Sie hat in ihren schwächeren Teilen mit ihm paktiert und in ihren schlimmeren Teilen sogar mit ihm gemeinsame Sache gemacht. Sie war aber faktisch — das gilt sogar von den unseligen «Deutschen Christen» — ein Fremdkörper in sei­nem Leibe, den er sich gerne ganz anders assimiliert hätte, als es ihm je möglich war, den er, hätte er es gekonnt, am liebsten ganz ausgestoßen und zunichte gemacht hätte. Ir­gendwie mußte sich jeder plagen oder doch bedrängen lassen und dann wohl auch gelegentlich protestieren und bekennen, der bei vielleicht größter Einsichtslosigkeit und Nachgiebig­keit auch nur ein bißchen ernsthaft als evangelischer Christ oder gar als Pfarrer in diesem Reich existieren wollte. Es war wohl auch unter den schlimmsten Umständen nicht möglich, die Kirche Luthers restlos zu einem Instrument des totalen Unrechtsstaates zu machen. Sie hat aber darüber hinaus auch bewußten und aktiven Widerstand geleistet. Wir reden von der «bekennenden» Kirche, d. h. von denjenigen Glie­dern, Gemeinden und Gemeindeteilen der evangelischen Kirche, die die Kapitulation gegenüber bestimmten Forde­rungen des Systems darum ablehnten, weil sie sie mit dem christlichen Bekenntnis und darum mit ihrem Gewissen nicht vereinbaren konnten.

Man hat ihnen seither vorgeworfen, ihr Widerspruch sei zu wenig umfassend gewesen, es sei das System als solches und im Ganzen und nicht nur einzelne seiner Forderungen, das sie, als mit ihrem Bekenntnis und Gewissen unvereinbar, hätten ablehnen müssen. Der Vorwurf ist nicht unrichtig: sie kämpften für die Freiheit der Kirche und ihrer Verkün­digung; es war ihnen aber verborgen, daß es zugleich die Freiheit des Volkes und die Gerechtigkeit im Lande war, die auf dem Spiel standen. Aber andere als solche Teil­kämpfe hat es damals überhaupt nicht gegeben. War es den anderen Widerstandsgruppen bewußt, daß der Kampf der bekennenden Kirche von rechtswegen auch der ihrige sein mußte? Und wenn der von der bekennenden Kirche ge­wählte Kampfplatz zugegebenermaßen zu schmal war, so darf man doch nicht übersehen, daß sie ihn jedenfalls vom ersten Anfang an bezogen, daß sie daselbst ernstlich gestrit­ten und gelitten und daß sie ihn bis zum bitteren Ende be­hauptet hat.

Sofort am Anfang des Hitlerregimes kam ja die For­derung der Einführung der Ariergesetze und des Führer­prinzips auch auf dem Gebiet der Kirche, sofort erhob sich — und erhob sich sehr gebieterisch und drohend — eine falsche Theologie, die den Glauben an Gottes Gnade und den Glauben an das deutsche Volkstum miteinander verwir­ren wollte, sofort war aber auch der Widerspruch dagegen auf dem Plan. Als «Bekennen» empfand und verstand man diesen Widerspruch lange bevor er in der Bekenntniserklä­rung von Barmen Ende Mai 1934 seinen schriftlichen Nie­derschlag gefunden hatte. Barmen und also das «Bekennt­nis» fixierte nur, worauf es dem Dritten Reich gegenüber nach gemeinsamer Einsicht entscheidend ankam: Jesus Chri­stus Gottes alleinige Offenbarung, sein Anspruch auf das ganze menschliche Leben, die Selbständigkeit des Auftrags der Kirche, ihre Regierung durch den Dienst am Wort, der besondere Sinn der staatlichen Rechtsordnung, Gottes freie Gnade als Inhalt der christlichen Botschaft. Jeder Satz in diesem Bekenntnis war die Antithese zu bestimmten Auf­stellungen und Forderungen der «Deutschen Christen» und damit des auch die Kirche für sich beanspruchenden Natio­nalsozialismus. Jeder Satz sagte, daß die evangelische Kirche nicht gesonnen sei, sich diesen Anspruch‘ gefallen zu lassen. Und diese Sätze blieben nicht auf dem Papier stehen; sie sind in den folgenden Jahren, soweit die Einsicht und der Mut reichten, «exerziert» worden. Die «Bruderräte» in den Gemeinden, Provinzen und Ländern, ein «Reichsbruderrat» als deren oberste Zusammenfassung, taten das Mögliche, um die Wachsamkeit und Entschlußkraft der Kirche gegenüber den von der Gegenseite her immer neu auftauchenden Ver­suchungen, Zumutungen und Drohungen nicht einschlafen zu lassen. Sie bildeten da, wo die «Deutschen Christen» sich des offiziellen Kirchenapparates bemächtigt hatten, inoffi­zielle Gegenorgane, die sich insbesondere um eine sach­gemäße Ausbildung und Prüfung der künftigen Pfarrer be­müht, die sich aber auch in Kanzelerklärungen, in Aus­schreibung besonderer Kollekten und ähnlichen kirchenpoli­tischen Akten bemerkbar gemacht haben. Sie haben 1936 ein Memorandum an Hitler gerichtet, in welchem nun im­merhin auch die allgemeine Rechtsfrage, die gefälschten Volksabstimmungen, die Konzentrationslager, das Gebaren der Gestapo offen zur Sprache gebracht wurden. Als das Dritte Reich 1938 dem Krieg entgegensteuerte, hat die be­kennende Kirche für den Frieden gebetet, und sie hat es während des Krieges immerhin dahin gebracht, daß, soweit ihr Einfluß reichte, in der evangelischen Kirche nicht für den deutschen Sieg gebetet worden ist. Wo es bekennende Kirche gab, da ist in der ganzen Zeit auch für die verfolg­ten Juden das Menschenmögliche getan worden. Es ist klar, daß das Alles die bekennende Kirche mit den Behörden und mit der Gestapo in immer neue Konflikte gebracht hat. Dauernde Bespitzelungen und Denunziationen, Redeverbote, Besoldungssperren, Absetzungen, Ortsverweisungen, kürzere und längere Gefängnis- und Lagerstrafen gehörten für ihre aktiven und führenden Glieder zum täglichen Brot, und eine Reihe von Toten (von dem für jenes Memorandum an Hitler verantwortlichen Juristen Weißler bis zu dem Theo­logen Dietrich Bonhoeffer) zeigt die schlimmere Drohung, unter der sie alle standen. Unsere Brüder in Deutschland haben eine Zeit hinter sich, für deren Härte wir hier sicher nicht immer die nötige Phantasie und dann auch die gebo­tene Teilnahme aufgebracht haben. Und es scheint mir wohl angebracht, hier einmal ausdrücklich dessen zu gedenken, was insbesondere auch so manche tapfere deutsche Pfarr­frauen und andere Frauen in diesen Jahren durchgemacht und geleistet haben. Es geht nicht darum, irgend jemand zu heroisieren. Es war nach dem Urteil eines besonnenen Beur­teilers gewiß nur (mit Zinzendorf zu reden) «das Nötigste an Heldenmut», was in diesem Kampf aufgebracht wurde. Es darf und muß aber bezeugt werden, daß es wenigstens an diesem Nötigsten nicht gefehlt hat.

Und man vergesse nicht, daß vielleicht der beste Teil gerade des aktiven und bewußten Widerstandes und also des Lebensbeweises, den die evangelische Kirche in der Hitler­zeit geleitet hat, nicht einmal in dem bestand, was ich jetzt als ihren Kampf nach außen in kürzesten Worten beschrie­ben habe. Das Beste war vielmehr das, daß sie gerade da, wo sie dem Kampf nach außen nicht aus wich und im eng­sten Zusammenhang mit diesem Kampf als Gemeinschaft unter dem Wort Gottes, als Gemeinschaft des Glaubens, der Liebe und der Hoffnung, in der Ausrichtung auf sein Reich weiterleben, und zwar in einer Intensität und Freudigkeit weiterleben durfte, die von allen Beteiligten als ein Geschenk empfunden wurde, um deswillen man alles Ungemach des Kirchenkampfes und später dann auch des Krieges gerne auf! sich nahm. Ich habe draußen mehr als einen Menschen getroffen, der mir gesagt hat, daß er sich in jener ganzen Zeit nie gewünscht habe, seine Situation mit einer wie etwa der unsrigen vertauschen zu können. Daß das Wort «Gemeinde» eine Realität bezeichnet, daß es nicht peinlich und auch nicht nur schön ist, sondern Kraft und Trost bedeutet, mit­einander seine Sünden und seinen Glauben zu bekennen, mit­einander das Abendmahl zu feiern, miteinander und vor allem auch füreinander zu beten, miteinander verantwortlich zu sein für die Kirche und ihren Auftrag in der Welt, das sind die stillen Dinge, die gerade in der kämpfenden und leidenden evangelischen Kirche in Deutschland dem Dritten Reich zum Trotz als etwas ganz Neues entdeckt und erfah­ren worden sind. Und es gehört wesentlich mit zu diesen stillen Dingen, daß der Blick vieler evangelischer Christen in dieser Zeit dadurch auch in die Weite gerichtet worden ist, daß es in den Gefängnissen und Konzentrationslagern und also unter der Gewalt des gemeinsamen Bedrückers zu Begegnungen zwischen Bekenntnispfarrern und Bekenntnis­christen auf der einen, Sozialdemokraten und Kommunisten, aber auch Katholiken und Bibelforschern auf der anderen Seite gekommen ist, in denen man sich zwar nicht bekehrte, wohl aber meist zum ersten Mal wirklich kennen und dann doch auch respektieren lernte: eine Sache, die heute in der praktischen Zusammenarbeit bei den ersten Neuaufbauver­suchen an vielen Orten eine merkwürdige Fortsetzung fin­det. So blickt man gerade in der bekennenden Kirche auf ein in diesen zwölf Jahren gelebtes Stück Leben im An­gesicht der Gerichte, aber auch der Güte Gottes, zurück, in welchem man bei aller Fragwürdigkeit und Bedrängnis, von der es umgeben war, seines Glaubens und seines Auftrags nicht ungewisser, sondern gewisser geworden ist.

Man kann, nachträglich und von außen urteilend, sicher einwenden, daß das Alles gegenüber dem ungeheuren Un­recht und Unglück des Dritten Reiches nun doch zu wenig, zu eng, zu unwirksam war. Dasselbe gilt ja von dem, was nun von den Leistungen und Erfahrungen der anderen Ele­mente der deutschen Widerstandsbewegung bekannt zu wer­den beginnt. Wer drang da durch? Wer hatte da Erfolg? Man kann es beklagen, daß von der evangelischen Kirche nicht mehr und Besseres als von jenen zu melden ist. Man soll aber aus Wenigem auch im Blick auf die evangelische Kirche nicht Nichts machen! Es ist nicht billig, und es kann insbesondere uns Christen außerhalb Deutschlands auf keinen Fall anstehen, das, was die evangelische Kirche im Deutschland der Hitlerzeit gewesen ist, getan und gelitten hat, zu bagatellisieren, indem man es mit irgendwelchen noch so berechtigten Fragen und Vorwürfen zudeckt. Diese Kirche hat faktisch in aller Schwachheit und Torheit durch­gehalten. Und sie ist faktisch an ihrem Ort und in ihrer Weise sehr lebendig durch diese Krisis hindurch und aus ihr hervorgegangen. Es hat keinen Sinn, das in Abrede zu stellen. Wir haben vielmehr Anlaß, dafür, daß das so sein durfte, mit ihr selber dankbar zu sein.

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Aber wir müssen nun allerdings etwas genauer zusehen, unter welchen besonderen Umständen sich das Leben und Durchhalten der evangelischen Kirche im Dritten Reich ab­gespielt hat. Ich wende mich zu den inneren Problemen, die sie in dieser Zeit-bewegt und belastet haben, und von daher auch heute, nach dem Zusammenbruch, weiter bewegen und be­lasten.

Es mag merkwürdig klingen, aber es war so: Es gab in diesen zwölf Jahren eine Sorge, die gerade für die verant­wortlichen Männer der Bekennenden Kirche von Anfang an schwerer gewesen ist als die, die ihnen durch die «Deutschen Christen» und die durch diese beherrschten Konsistorien, größer als die, die ihnen durch die Gestapo bereitet wurde. Es war die Sorge der Auseinandersetzung mit denjenigen in der Kirche selbst, die, ohne «Deutsche Christen» zu sein oder zu werden, nun doch ganz bewußt nicht willens waren, zu «bekennen», d. h. dem Gegensatz, in dem die Kirche sich befand, die zu ihrer geistlichen Erhaltung nötige theore­tische und praktische Gestalt zu geben. Sie hatten zum Teil schon auf der Synode von Barmen nicht oder nur mit hal­bem Herzen mitgetan, weil sie der Meinung waren, daß es genüge, die alten, aus dem 16. Jahrhundert stammenden Konfessionen, den lutherischen und den Heidelberger Kate­chismus, zu haben und weil ja von Seiten des Nationalsozia­lismus eine Anfechtung dieser alten Dokumente nicht erfolgt und bis auf weiteres nicht zu befürchten war. Und als dann ein halbes Jahr später auf der Synode von Dahlem die prak­tischen, die kirchenpolitischen Konsequenzen aus den in Bar­men ausgesprochenen theologischen Sätzen gezogen wurden, als der Kampf für die rechte Kirche offen aufgenommen werden sollte, da begannen sie vollends auszuweichen. Wozu den äußeren und damit dann doch auch den inneren Bestand der Kirche in Gefahr bringen, wenn er durch gewisse Kon­zessionen und vor allem durch Schweigen und Ruhehalten, durch Vermeiden gewisser offener Entscheidungen, durch unverbindliche Anerkennung der nun einmal bestehenden Machtverhältnisse geschützt werden konnte? Gab es nicht eine kirchliche Verantwortlichkeit auch nach dieser Seite und in diesem Sinn? Die so dachten, redeten und entspre­chend operierten, waren die Führer und Vertreter der sog. «intakten», d. h. der von den «Deutschen Christen» weniger heimgesuchten, weniger sichtbar korrumpierten Landeskir­chen außerhalb Preußens und Sachsens, an ihrer Spitze die Bischöfe von Hannover, Bayern und Württemberg. Es waren, merkwürdig genug, hier der lutherische, dort der reformierte Konfessionalismus, die sich in dieser «Mitte» die Hand reichten. Und es waren gleichzeitig die autoritär- legitimistischen Instinkte und Tendenzen einer bischöflich- konsistorialen Kirchlichkeit und politisch nun eben doch die Gesinnung der Deutsch-Nationalen (mit ihrer ganzen An­fälligkeit für den Nationalsozialismus!), die man hier zu einem Klotz, zu einem Bremsklotz zusammenwachsen sah, der bestimmt das schwerste Hindernis gewesen ist, das die protestantische Widerstandsbewegung in der Hitlerzeit nicht zu voller Entfaltung kommen ließ. Man sollte sich das ge­rade in der Schweiz und auch in den Kreisen der Ökumene wohl vor Augen halten: Wer heute, wie das vorkommt, nun ausgerechnet diese «Kräfte» des deutschen Protestantismus hochschätzt und unterstützt, der lobt damit, was die Ver­gangenheit betrifft, diejenigen, die die ernstlich und entschie­den Kämpfenden dauernd im Stich gelassen haben, ihnen dauernd in den Rücken gefallen sind — und der fördert, was die Zukunft betrifft, die Restauration, um nicht zu sagen die Reaktion in der deutschen Kirche, den Konfessionalismus, den bischöflich-konsistorialen Bureaukratismus und last not least den deutschen Nationalismus, der, wenn irgendwo in der Kirche, dann eben in diesen «Kräften» seinen gefährlichen Rückhalt haben wird.·

Aber wie dem auch sei: das ursprüngliche Problem war und ist ernst und schwer genug. Alte Konfession mit oder ohne neues, aktuelles Bekenntnis? Kirchliche Form und Ge­stalt mit oder ohne Bewährung kirchlicher Substanz hic et nunc? Es war nur natürlich, daß dieses Problem im einzel­nen auch in den Reihen der bekennenden Kirche selbst immer wieder Anlaß zu neuen Überlegungen und damit auch zu Meinungsverschiedenheiten und Diskussionen gab, in denen es wohl auch radikalsten Kämpfern widerfahren konnte, daß ihnen von irgendwelchen noch radikaleren die­ser und jener Mangel an Konsequenz und Haltung vorge­worfen wurde, was dann für fernere Beobachter wohl zei­tenweise den trotz allem unzutreffenden Eindruck eines all­gemeinen Widereinander erwecken konnte. Und es ist weiter klar, daß dieser in der Zeit des Kampfes aufgebrochene Gegensatz, da er damals nicht ausgetragen wurde, auch heute nicht hinfällig ist, sondern nach Klärungen und Bereinigun­gen ruft und durch ein bißchen Mahnung zu Liebe und Frieden auf keinen Fall überstrichen und beglichen werden kann. So ist er denn auch neulich an der Konferenz von Treysa besonders bei der Bestellung der neuen vorläufigen Kirchenleitung deutlich genug bemerkbar geworden. Es ist für uns beachtlich, daß dieser Gegensatz in Deutschland tat­sächlich fast ganz an die Stelle des bei uns üblichen Gegen­satzes zwischen «Positiven» und «Liberalen» getreten ist. Selbstverständlich gibt es auch dort noch beide, aber beide auf beiden Seiten jenes dort nun eben wichtiger und bren­nender gewordenen Gegensatzes.

Die vorläufige Lösung von Treysa — sie ist an dem Gefahrenpunkt einer drohenden Aufspaltung hart vorbei­gegangen — hat alle Formen eines Kompromisses. Daß in Zukunft nicht mehr von einer «Deutschen Evangelischen Kirche» (DEK mit der gefährlichen Nachbarschaft der bei­den Adjektive!), sondern von einer «Evangelischen Kirche in Deutschland (EKiD) die Rede sein soll, markiert immerhin bedeutsam die allgemeine Richtung, die nun eingeschlagen ist. Und die zu dieser «Evangelischen Kirche in Deutsch­land» vereinigten Landeskirchen stellen sich nun tatsächlich als solche ausdrücklich auf den Boden der Synoden von Barmen und Dahlem. Ihre besonderen Konfessionen und Ver­fassungen geben sie damit nicht preis. Und wenn die Bru­derräte der Bekennenden Kirche — gewissermaßen als Wache bei jener Basis — auch in Zukunft nicht aufhören zu existieren, so haben sie nun ihre kirchenregimentlichen Befugnisse, sofern sie solche während des Kirchenkampfes an sich nehmen mußten, zugunsten der von allen «deutsch­christlichen» Elementen gereinigten landeskirchlichen Behör­den eingestellt. Ein Gremium von zwölf Mann, sechs Luthe­raner, vier Unierte, zwei Reformierte — eine Art synodales Organ also, in welchem seltsamerweise sieben Mitglieder noch einmal besonders hervorgehoben sind, bildet die vor­läufige Kirchenleitung. Landesbischof Dr. Wurm von Würt­temberg, der die neutrale Linie schon seit 1941 ein Stück weit überschritten und seither zwischen den Kirchenfüh­rern und den Bruderräten zu vermitteln versucht hatte, wird ihr erster, Martin Niemöller als stärkster Exponent der von Anfang an bekennenden Kirche, ihr zweiter Vorsitzen­der und als solcher zuständig für den Verkehr mit der Kirche des Auslandes. Hans Asmussen übernimmt die Lei­tung der Kirchenkanzlei. Die Vorgänge in Treysa, in denen es zu dieser Regelung kam, waren nicht eben erbaulich. Es hat aber in der Kirchengeschichte sicher im Ergebnis schlech­tere Kompromisse gegeben als den, den man dort schließ­lich gefunden hat. Ob der Vorsitz von Landesbischof Wurm der deutschen Kirche zum Guten oder zum weniger Guten ausschlagen wird, hängt wesentlich ab von dem Grade, in welchem er sich einem Teil seiner württembergischen Um­gebung gegenüber als unabhängig erweisen wird. In der Kirchenleitung als ganzer ist die bekennende Kirche in hoff­nungsvoller Weise vertreten. Man versteht das Verhältnis der beiden Gruppen in der heutigen Evangelischen Kirche in. Deutschland vielleicht am besten, wenn man es mit dem zwischen dem Spitzentrupp und dem diesem etwas weiter hinten nachfolgenden Train einer marschierenden Truppe vergleicht. Wo die Spitze und wo der Train, oder wo der Kopf und wo der Schwanz des neuentstandenen Organismus zu suchen ist, ist unverkennbar. Wenn es der Bekennenden Kirche auch in Zukunft an Treue, Weisheit und Entschlußkraft nicht fehlt, so besteht begründete Aussicht, daß das Ganze sich nicht nur weiterbewegen, sondern in der rechten Richtung vorwärtsbewegen wird.

Diese gute Aussicht für die Evangelische Kirche in Deutschland hängt nun freilich auch an anderen Faktoren, über die in Treysa nicht zu entscheiden war und über die, weil sie geistiger und geistlicher Natur sind, kirchenpoli­tisch überhaupt nicht zu entscheiden ist. Die Evangelische Kirche in Deutschland steht im Blick auf den geschehenen Zusammenbruch des Dritten Reiches und die von da aus sich eröffnende Zukunft vor gewissen sehr konkreten Ent­scheidungsfragen. Sie hat sie noch nicht beantwortet. Sie wird sie beantworten müssen.

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Es geht einmal um die Frage der deutschen Verant­wortlichkeit für die Existenz, für den Triumph, für die Untaten des für Deutschland selbst, dann für die ganze Welt, und nun noch einmal und erst recht für Deutschland so verhängnisvoll gewordenen Hitlerreiches. Wird diese Ver­antwortlichkeit von den Deutschen, von den Christen in Deutschland anerkannt oder nicht anerkannt? Die Kata­strophe ist da. Aber die klare Bestätigung des Wissens um ihre Ursache von deutscher Seite ist noch nicht da. Wir Anderen meinen zu sehen, daß es in der Evangelischen Kirche in Deutschland keine Ruhe, kein gutes Gewissen, keinen Mut für die Zukunft geben kann und darf — und wir wis­sen für sicher, daß es zwischen ihr und den Kirchen der anderen Länder, aber auch zwischen dem deutschen Volk und den anderen Völkern kein offenes und echtes, kein hilf­reiches Vertrauen geben wird, solange dort nicht erkannt und auch ausgesprochen ist: «Das deutsche Volk befand sich auf dem Irrweg, als es sich 1933 politisch in die Hände von Adolf Hitler begab. Die Not, die seither über Europa und über Deutschland selber gekommen ist, ist eine Folge dieses Irrtums. Die Evangelische Kirche in Deutschland hat sich durch falsches Reden und durch falsches Schweigen an die­sem Irrtum mitverantwortlich gemacht.» Ich beeile mich zu berichten, daß man dieses Zugeständnis aus dem Munde deutscher Menschen und Christen persönlich jetzt wieder und wieder hören kann. Es steht auch zwischen den Zeilen der Proklamationen, die in Frankfurt und Treysa an die deutschen Gemeinden und an ihre Pfarrer erlassen worden sind. Es ist aber auch zu sagen, daß über dieser Szene noch ein gewisser Nebel liegt, der erst zu zerreißen ist. Ist der Abscheu vor dem, was gewesen ist, draußen groß und all­gemein und weiterer Verstärkung durch die besondere Er­innerung an Buchenwald, Belsen und Auschwitz kaum mehr bedürftig, so sind doch die Antworten auf die Frage, wie alles so gekommen ist, noch seltsam vieldeutig. Von den allzu vielen Unverständigen, die hier wieder und wieder mit alten Worten alten Unsinn von sich geben, soll hier gar nicht die Rede sein. Ich habe aber auch in den Kreisen der Bekennenden Kirche, wo man gerne jenes simple Zugeständ­nis gehört hätte, zunächst viel und mit einer verdächtigen Inbrunst von den Dämonen reden hören, mit deren verfüh­rerischer Gewalt man in Deutschland in diesen zwölf Jah­ren Bekanntschaft gemacht habe. Es spielt weiter die in­direkte oder direkte Mitschuld der anderen Völker in der Phantasie und in den Äußerungen auch der Christen in Deutschland keine kleine Rolle. Und die Gefahr droht, daß man auch in christlichen Kreisen nächstens dazu übergehen könnte, die deutsche Schuld durch das zugedeckt und gewis­sermaßen gutgemacht zu sehen, was die Deutschen selbst nun unter den Fehlern — man muß leider teilweise zuge­stehen: auch unter den Greueln — der alliierten Besetzungs­mächte zu leiden haben. Und wenn Andere, besser belehrt, weder auf die Dämonen noch auf die Russen und Franzosen hinweisen, so lieben sie es um so mehr — auch in anderen Widerstandsgruppen kommt das Entsprechende vor — zu differenzieren: etwa ganz allein die «Nazis» anzuklagen, als wären diese nur eine Schar von Gangstern gewesen, die nun für alles haftbar zu machen seien, oder — gewissermaßen von der Kanzel herunter — das «Volk», das in seinem Ab­fall von Gott die Zehn Gebote nicht gehalten, sondern über­treten habe — oder bei den Bekenntnischristen dann wohl auch die offizielle Kirche mit ihren verschiedenen Begehun­gen und Unterlassungen. Von den Dämonen bis zu den Bi­schöfen immer Andere! Es ist klar, daß gerade die evan­gelische Kirche und Christenheit in dieser Luft des Verwei­sens auf Andere nicht atmen kann. Ich wiederhole: ich habe von berufenen Männern auch ganz andere Töne, auch den rechten Ton gehört. Er müßte aber laut, verbindlich und öffentlich zum Klingen kommen. So öffentlich, daß es etwa durch die Ökumene als Tatsache festgestellt und daß es dann auch von den alliierten Regierungen und Völkern zur Kennt­nis genommen werden könnte und müßte, daß er erklungen ist. Und er müßte bald zum Klingen kommen. Man weiß auch draußen um die Tatsache, daß der Strom des Verder­bens, der jetzt freilich verheerend auch auf Deutschland selbst zurückfällt, diesmal zuerst von Deutschland und nicht von anderswo ausgegangen ist. Aber dieses Wissen müßte vor Gott und vor den Menschen ausgesprochen werden, um hilfreich, um luftreinigend zu werden, um dann auch die anderen Kirchen, die es wahrhaftig auch nötig haben, und durch die anderen Kirchen die anderen Völker zur Buße zu rufen. Anders als damit können auch die Dämonen nicht gebannt werden. Sie würden sich in Rauch und Gestank auf lösen, wenn das geschähe: kurz und ohne Umschweife, ohne allen Ballast erbaulicher und theologischer Erläute­rungen und Vorbehalte, nüchtern politisch, weil eben ein nüchtern politisches Wort in dieser Sache jetzt höchst geist­liche und theologische Notwendigkeit ist. Ob dies geschehen, ob die Evangelische Kirche in Deutschland ein solches Wort in nächster Zeit finden und aussprechen wird, das ist die eine Frage, die über ihre Zukunft entscheiden wird. Nur die evangelische Kirche könnte leisten, was hier zu leisten ist. Man mache sich klar, daß das deutsche Volk heute nach außen nur durch den Mund der Kirchen eine Stimme hat. Die katholische Kirche hat aber weder die Erkenntnis noch die Sprache, die zu einem solchen Wort nötig ist. Die evan­gelische Kirche sollte sich darüber klar sein, daß sie die zu dieser Sache nötige Erkenntnis und Sprache hat, und daß sie, indem sie sich in diesem Sinn ausspräche, dem deutschen Volk auch politisch den Dienst tun würde, den es in seiner heutigen Lage nötiger hat als jeden anderen, weil jeder andere nur unter dieser Voraussetzung sinnvoll werden kann. Auf alle Fälle erst von hier aus kann es für Deutschland nach innen und außen noch einmal vorwärts und aufwärts gehen[1].

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Die zweite Frage betrifft die Zukunft des deutschen Staates, die im deutschen Volk wieder aufzurichtende eigene Rechtsordnung. Deutschland steht heute restlos unter fremder Herrschaft. Aber irgendeinmal und in irgendeiner Form wird die Frage nach einer rechten deutschen Regie­rung auch wieder an die Deutschen selbst gerichtet werden. Und nun hat das Unheil des Dritten Reiches sicher einen seiner Gründe darin, daß gerade die Evangelische Kirche in Deutschland es bis jetzt nicht verstanden hat, das Evange­lium und das Gesetz und darum auch die Kirche und den Staat in ihrem Zusammenhang zu sehen und zu erklären und also die politische in die christliche Verantwortlichkeit einzubeziehen. Sie hat sie dieser nur immer aufs neue gegenübergestellt als eine besondere, andere, vom Christ­lichen zutiefst gelöste Verantwortlichkeit. In dem so ent­standenen, christlich unkontrollierten Vakuum hat sich dann allerdings die Dämonie, oder sagen wir trockener: der menschliche Irrtum der Idee des Staates der Herrschaft und der Drohung breit machen können, der nun zuletzt in der absurden Gestalt des Dritten Reiches seine bis jetzt phan­tastischste Form angenommen hat. Man stand dem Natio­nalsozialismus auch in der Bekennenden Kirche weithin in einer Haltung gegenüber, die man auf die unglückliche Formel brachte: «Weltanschaulich Nein, politisch Ja!» Die Frage, auf die die Evangelische Kirche in Deutschland nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches unweigerlich zu antworten haben wird, ist die, ob jenes unkontrollierte Va­kuum in Zukunft vom Evangelium her ausgefüllt werden^ ob also ein so verfluchtes politisches Ja im Munde der deutschen evangelischen Christen in Zukunft vom Evange­lium her unmöglich gemacht werden wird.

Die Erkenntnis der Gewalt Jesu Christi über alle Ge­walten ruft nach dem Nachsatz, daß auch der Staat als öffentliche Rechtsordnung zu seinem und nicht zu einem anderen Reich gehört. Und die Erkenntnis der unmittel­baren und totalen Zugehörigkeit jedes einzelnen Menschen zu diesem Herrn ruft nach dem Nachsatz, daß der rechte Staat jedenfalls auf der Linie zu suchen ist, die irgend- einmal zur freien Verantwortlichkeit jedes einzelnen Bür­gers und also des ganzen Volkes und also zur Demokratie führen muß, und sicher nicht auf einer anderen Linie. Die Evangelische Kirche in Deutschland hat während des Hitler­reiches zweifellos so gut es ihr gegeben war, von jenen Erkenntnissen gelebt. Sie hat aber die angedeuteten Konse­quenzen aus diesen Erkenntnissen noch nicht gezogen. Die Stimmen tönen auch da noch sehr verschieden: von dem Theologieprofessor, einem Mann, der sich allerdings mit dem Nationalsozialismus sehr tief eingelassen hatte, und sich nun zu der, wie er meint, befreienden Erkenntnis des gänzlich «apolitischen» Charakters des neutestamentlichen Christentums durchgerungen hat, über den trefflichen Mann, der mir feierlich beteuerte, daß die Deutschen weder in der Französischen Revolution noch in der Verfassung der Ver­einigten Staaten von Amerika erfreuliche Vorbilder für sich selbst zu erkennen vermöchten, bis hin zu Martin Niemöller, den ich eines schönen Morgens immerhin mit vernehmbarer Stimme mitteilen hörte, die deutschnationalen Töne wollten wir in Zukunft nicht mehr hören und eine positive Be­ziehung zwischen Christentum und Demokratie müsse und werde nun auch in Deutschland gefunden werden[2]. In einem allzu strengen Verhör über diese Dinge würden heute draußen nur Wenige auch unter unseren nächsten Freunden bestehen können. (Zu dem besonderen Problem Niemöller möchte ich hier nur das bemerken, daß ich das volle Vertrauen habe, daß er in der durch die angeführten Worte bezeichneten Richtung auf dem Wege ist.) Und so ist es erst recht nicht verwunderlich, wenn man in den Seelen der bischöflich- lutherischen, aber auch der mit ihnen verbündeten konfessionell-reformierten Landeskirchenmänner wohl noch lange auf allerhand politische Finsternisse stoßen wird. Die Frage erhebt sich auch von dieser Seite: ob die alliierten Besetzungsmächte in der Lage sein werden, dem deutschen Volk und auch den Christen in Deutschland — nicht durch Schulbücher und nicht durch Radiovorträge über die Schön­heiten der Demokratie, sondern mit einem möglichst prak­tisch überzeugenden Anschauungsunterricht in Gestalt ihrer eigenen Regierungs- und Verwaltungskunst zu Hilfe zu kommen. Mir ist draußen gelegentlich gesagt worden, daß eben dieser Anschauungsunterricht jedenfalls bis jetzt noch nicht begonnen habe!

Nun, der evangelischen Kirche sollte es möglich sein, sich zur Not auch ohne solchen Anschauungsunterricht in der rechten Richtung in Bewegung zu setzen. Sie brauchte ja auch hier nur aus Dingen, die ihr sehr wohl bekannt sind, die nötigen Folgerungen zu ziehen. Man darf sich freilich von uns her den Schritt, der da vor ihr liegt, nicht als zu klein, nicht als zu leicht vorstellen. Geht es doch um nichts Geringeres als darum, daß sie entweder zu einem neuen kritischeren Verhältnis zu ihrem Reformator Luther, oder, wenn das möglich ist, zu einem anderen besseren Verständ­nis seiner Lehre vordringen müßte. Es ist so oder so der Name Luther, an dem es sich entscheiden wird, ob sie dem deutschen Volk, wenn es erst wieder für die Gestaltung seines Staates frei und verantwortlich sein wird, die Hilfe sein darf, die letztlich sie allein, als aus ewigen Quellen schöpfend, ihm auch in dieser Hinsicht sein könnte.

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Eine dritte Frage muß hier wenigstens berührt werden, obwohl sie erst am Horizont sichtbar ist und deutlichere Formen erst annehmen muß. Wie wird sich die evangelische Kirche in einem nun wahrscheinlich stark vom Osten her bestimmten Deutschland zurechtfinden? Indem Hitler Rußland angriff, hat er eine Schleuse geöffnet, die nun schwerlich wieder zu schließen ist. Anders als durch einen dritten Weltkrieg, für den niemand willig und fähig zu sein scheint, ist die Tatsache nicht rückgängig zu machen, daß Rußland heute bis nahe an die Mitte Europas vorgedrun­gen ist: das russische Weltreich mit seinen alten und neuen Ambitionen, der russische Soldat in seiner ganzen empören­den Wildheit und in seiner ganzen rührenden Kindlichkeit und vor Allem: der russische Kommunismus, vor dem die europäische Gesellschaft nun seit 25 Jahren so große Angst gehabt hat. Hannibal ante portas! Das bedeutet nicht notwendig das nahe Ende dessen, was wir bis jetzt als das «christliche Abendland» gekannt haben. Wohl aber, daß dieses «christliche Abendland» nun einer Prüfung auf Herz und Nieren ausgesetzt werden könnte. Sofern es das bürgerlich-christliche Abendland gewesen ist, könnte seine An­fechtung nun akuter werden, als sie es je gewesen ist. Und die Kirche in Deutschland zuerst würde sich dann mit der nun brennender werdenden Frage auseinandersetzen müs­sen: ob sie als Kirche des Evangeliums auf den freien Glauben oder als Kirche einer wandelbaren Weltanschau­ung und Moral auf die Interessen und die Macht einer be­stimmten Gesellschaftsklasse begründet ist. England und Amerika werden vielleicht nicht verhindern können, daß die Tage der Herrschaft dieser Klasse nun wenigstens auf dem europäischen Kontinent gezählt sind. Die Kirche — und nun eben zuerst die deutsche Kirche — muß damit rech­nen, sich dadurch gewissermaßen an die Luft gesetzt sehen. Wird sie die Kraft und die Freiheit haben, das nicht nur zu erleiden, sondern aus der Erkenntnis ihrer eigenen Sache heraus gut zu heißen?

Man kann sagen, daß ihr das im heutigen Deutschland äußerlich schon dadurch nahe gelegt ist, daß die Mehrzahl der deutschen Menschen und gerade auch der deutschen Pfarrer durch die Kriegsereignisse soziologisch ohnehin mehr oder weniger auf dem Weg zur Proletarisierung be­griffen sind. Aber es ist etwas Anderes, das als vorüber­gehendes Unglück hinzunehmen, um innerlich doch erst recht auf die Behauptung zusammenbrechender Positionen bedacht zu sein — etwas Anderes, das Gericht und die Reinigung zu anerkennen, die sich darin ankündigen könnte, daß das Christentum sich nun vielleicht bald auch der über­lieferten gesellschaftlichen Sicherungen beraubt sehen könnte, nachdem es ja längst hat lernen müssen, sich ohne die poli­tischen Sicherungen zu behelfen, die man einst als für die Existenz eines christlichen Abendlandes ebenso unentbehr­lich angesehen hat. Ist die evangelische Kirche in Deutsch­land der katholischen so weit voran, um vorausblickend einzusehen: Was an Gefährdung ihres äußeren Bestandes drohen mag, das muß nun überstanden werden? In ihrer Botschaft wird sie frei bleiben, wenn sie sich nur nicht weigert, nun gerade von ihrer Botschaft her über die positive Beziehung zur formalen Demokratie hinaus nach einer po­sitiven Beziehung auch zur sozialen Demokratie zu fragen nicht nach irgendwelchen neuen Bindungen nun an die Linksparteien, die dieses Programm auf ihre Fahne geschrieben haben, wohl aber nach dem Wort, das das relative Recht, das hinter diesem Programm und diesen Parteien steht, nicht aus- sondern in sich schließt? Es wird auch in den heute meistens arm gewordenen christlichen Häu­sern und Pfarrhäusern in Deutschland nicht leicht sein, in dieser Richtung umzudenken, sich von jahrhundertelangen Bindungen, Vorstellungen und Gewohnheiten, Sentiments und Ressentiments innerlich frei zu machen, sich auch nicht daran zu klammern, daß es vielleicht doch noch gelingen möchte, den Westen gegen den Osten auszuspielen. Die Ver­suchung wird nicht klein sein, sich zur Durchsetzung ge­wisser kulturpolitischer (z. B. schulpolitischer) Postulate mit der sozialen Reaktion zu verbünden. Was soll man davon halten, daß sich die kirchlichen Protestanten in Deutschland nun vielfach mit dem ehemaligen katholischen Zentrum den beiden Linksparteien gegenüber zu einem «christlich-demokratischen» Block zusammenschließen? Wird die evangelische Kirche Realismus genug aufbringen, um die Bedenklichkeit, um nicht zu sagen den Trug einer sol­chen Gruppenbildung zu durchschauen?

Sie würde dann, aber auch nur dann, frei sein, das, was der Osten vom Westen nun allerdings nach wie vor zu lernen und anzunehmen haben wird, um so eindringlicher zu verkündigen, allem östlichen Materialismus und Massen­menschentum gegenüber um so nachdrücklicher zu verteidigen: die Verantwortlichkeit und das Recht der freien Persönlichkeit gerade des Menschen in der sozialistischen oder gar kommunistischen Gesellschaft, gerade des Mannes und der Frau, die, ob hoch oder niedrig, ohne zu arbeiten auch nicht essen sollen. Gerade dieser Mensch wird es ja erst recht nötig haben, sich von der Maschine weg und aus dem Kollektiv heraus zu Gott und damit zu sich selbst rufen zu lassen. Sie wird diese gerade in einem russisch bestimmten Deutschland tapfer zu beziehende Position um so besser halten, je deutlicher es ist, daß sie damit nicht die verfallenen Interessen einer sozialen Heuchelei, nicht die wirtschaftlichen Machtverhältnisse von gestern, sondern um Gottes willen heute wie gestern ganz schlicht den Menschen schützen will. Ich brauche nicht zu sagen, welche exem­plarische Bedeutung es für alle Kirchen haben wird, ob und wie die deutsche evangelische Kirche sich in dieser besonderen Prüfung bewähren wird.

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Eine vierte Frage führt uns zurück in den Bereich der im engeren kirchlichen Aufgabe und Gestaltung. Die organi­satorische Regelung von Treysa steht unter dem Kenn­zeichen des Vorläufigen. Das gilt vor allem auch deshalb, weil sie zwischen verschiedenen Gruppen von «führenden» — teils amtlich, teils sachlich führenden —Kirchenmännern getroffen wurde, der Mitwirkung und Zustimmung der evan­gelischen Gemeinden aber durchaus entbehren mußte. Zu einer «Kirchenführertagung» war ja im vergangenen August ausdrücklich eingeladen. Das bedeutet aber, daß der fundamentale Konstruktionsfehler aller bisherigen deutschen Kirchenverfassungen, der eigentümliche Trugschluß fast alles bisherigen deutschen Nachdenkens und Redens über die Kirche zunächst noch einmal begangen wurde. Die deut­schen Kirchen und auch deren Zusammenfassungen zu einem Ganzen bis hin zu der von Treysa glichen bisher nur zu sehr den deutschen Staaten und deren Zusammenfassung im Reich, indem auch sie mit geradezu erschreckender Selbstverständlichkeit immer wieder von oben nach unten gebaut wurden. Ein gotisch stilisiertes Dach, die Konsi­storien und Oberkirchenräte — seit rund zwanzig Jahren allmählich fast überall mit dem zierenden Dachreiter des Bischofsamtes versehen — waren und sind darum nicht das Einzige, aber jedenfalls das Erste, an das man dort bei dem Begriff «Kirche» zu denken pflegt. Das hat sich auch in der Bekennenden Kirche noch nicht ganz und we­sentlich geändert, nur daß hier als das das Bild beherr­schende Dach nun eben die Bruderräte zu sehen waren. Immerhin: im Verlauf des Kirchenkampfes ist es von dieser Seite wenigstens da und dort und einige Male sogar im gesamtdeutschen Rahmen zu Synoden gekommen, in welchen die eigentliche Mauer des Gebäudes, nämlich die Gemeinde, wenigstens von ferne, vorübergehend und teilweise, sichtbar wurde. Aber daran fehlt noch viel, daß es klar wäre: man hat es da, wo die evangelische Kirche in der Öffentlichkeit redet und handelt, nun wirklich mit der Erkenntnis und dem Willen der Gemeinden und der in den Gemeinden organisierten Christen zu tun und nicht bloß mit den im Conclave getroffenen Abmachungen und Erklärungen einiger ihrer Führer, Sprecher und Sachwalter. Es hat etwas Be­unruhigendes, feststellen zu müssen, in welchem Maß man in Deutschland immer noch auf die Entscheidungen, Worte und Weisungen aus dieser und jener heiligen Höhe herunter wartet, in welchem Maß man auch in den radikalsten Kreisen der bekennenden Kirche, auch wo man kritisieren, korrigieren und reformieren will, immer wieder an der Frage der «kirchlichen Leitung» interessiert ist, in welchem Maß es darum auch heute noch möglich ist, daß irgendwelche autoritär auftretende Persönlichkeiten sich im kleineren oder größeren Kreis entweder von gestern her behaupten oder neu durchsetzen, um der Kirche ihre höchst besondere Richtung zu geben, ohne daß die wirkliche Kirche, nämlich die Gemeinden, zu Stadt und Land nach ihrer Erkenntnis und ihrem Willen auch nur gefragt würden. Und das Beunruhigendste in dem Allem ist das Maß, in welchem die Gemeinden sich das stillschweigend gefallen und recht sein lassen. Daß die Kirche, ob sie episkopal oder synodal verfaßt, ob sie oberkirchenrätlich oder bruderrätlich regiert wird, auf alle Fälle ein Leib ist, der in der Einheit aller seiner Glieder lebt und nicht in dem Sonderverhältnis irgend­welcher besonderen Glieder untereinander, das ist eine Wahr­heit, die in Deutschland bis jetzt weder bei den Lutheranern noch bei den Unierten, noch auch bei den Reformierten ein ordentliches Gesicht bekommen hat.

Es ist in Deutschland in den Jahren des Kirchenkampfs viel und treu und mit Erfolg Gemein­de gesammelt und ge­baut worden. Die Entscheidungsfrage, die nun kommt, ist die, ob diese Gemeinde als solche den alten oder neuen Oberbehörden gegenüber zu Worte kommen, sich selber zu Worte melden wird. Wo geschieht denn das Wirkliche, das wir mit dem Wort «Kirche» bezeichnen? Je da und dort offenbar, wo Christen sich versammeln zum Gebet, zur Ver­kündigung und zum Hören des Wortes, zum Lobe Gottes, zu Taufe und Abendmahl, je da und dort, wo der prophe­tische Geist der Schrift sich vernehmen läßt durch die Gaben der Leitung, der Seelsorge, der Diakonie, des Unter­richts? Was können kirchliche Oberbehörden, ob bischöf­licher oder synodaler Art Anderes sein als die Orte, wo eben dieses wirkliche Geschehen nun auch als gemeinsame Lebensbewegung aller Gemeinden und insofern als Regie­rung zur Darstellung kommt? Wie könnten sie über die Gemeinden regieren wollen und dürfen? Wie müssen sie da vielmehr für sie regieren und also, indem sie das tun, lauschen auf das, was der Geist — nicht ihnen, sondern eben den Gemeinden sagt! Es ist gewiß nicht nur die Kirche in Deutschland, in der es in dieser Hinsicht noch gar sehr fehlt. Es ist aber schon an dem, daß dieser auch anderswo vorhandene Konstruktionsfehler in Deutschland von altersher geradezu Prinzip gewesen ist und daß heute ein nicht zu sparsamer Schuß Kongregationalismus gerade der deut­schen Kirche nun wirklich prinzipiell not tut. Es darf nicht sein, daß das leidige Spiel mit dem Führergedanken dort nun etwa gerade in der Kirche erst recht weitergeht. Ich brauche nicht zu sagen, wie wichtig das Positive sein wird: daß der Aufbau der Gemeinden nun erst recht — und da, wo er bisher unterlassen wurde, ganz neu — in Angriff genommen wird. Die vorläufige Regierung, die sich die Evangelische Kirche in Deutschland nun gegeben hat, wird dann in aller Vorläufigkeit eine gute Regierung sein, wenn sie sich dessen bewußt ist: das ist das Eine Notwendige, daß Gemeinde werde und neu werde — und also dessen bewußt, daß sie eben die Gemeinden gar nicht genug zur Freiheit, zur eigenen Initiative und Verantwortlichkeit an­leiten kann. Wir sehen dem, was in dieser Hinsicht ge­schehen oder nicht geschehen wird, nicht ohne Sorge ent­gegen. Aber auch nicht ohne größte Erwartung: es könnte die evangelische Kirche in Deutschland sein, die, indem sie hier und also in ihrem eigenen Raum Wandel schafft, der Erziehung des deutschen Volkes zur politischen Demokratie nötigste Begründung geben und wichtigste Vorarbeit leisten könnte. Und nun doch auch nicht ohne Hoffnung: darum nämlich, weil jedenfalls bei den ernsthaftesten Elementen der bekennenden evangelischen Kirche in Deutschland die Einsicht am Reifen und schon reif ist, die dieses Wan­dels notwendige Voraussetzung bildet.

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Eine fünfte Frage hat nun allerdings sehr intim theolo­gischen Charakter; schon insofern, als es sich dabei in der Hauptsache — soll ich sagen: um eine Liebhaberei, soll ich sagen: um eine Passion, soll ich sagen: um eine Mischung wirklicher und angeblicher Erkenntnis gewisser, nicht un­beträchtlicher Kreise der deutschen Pfarrerschaft handelt. Ich wies schon darauf hin, wie merkwürdig eifrig viele deutsche Theologen heute mit der Realität des Satansreiches beschäftigt sind. Nach Helmut Thielicke wäre das ungefähr die wichtigste Erfahrung, von der die deutsche Kirche heute den anderen Kirchen zu berichten hätte: «Wir haben den Dämonen in die Augen gesehen». Dem entspricht nun aber auf der anderen Seite, daß man mir immer wieder ver­sicherte, welche tiefen und starken Erlebnisse man in dieser Zeit mit der Realität, mit dem objektiven göttlich-mensch­lichen Geschehen im Vollzug der gottesdienstlichen Litur­gie und der Feier des «Sakraments des Altars» gemacht habe. Altar, Priester, Officium, Opfer — mit diesen Be­griffen bezeichnet man tatsächlich einen ganzen neu betre­tenen Bereich, in welchem man der Gewalt der Dämonen besonders wirksam widerstanden zu haben und widerstehen zu können behauptet. Einer der bekanntesten Führer der bekennenden Kirche fährt vorläufig mit vollen Segeln in dieser Richtung. Man liebt und lobt in etwas dunklem Aus­druck «die alte Kirche». Aber auch Berneuchen, die Michaelsbruderschaft und verwandte Bestrebungen erleben jetzt draußen eine neue Hoch-Zeit. Und über die Una-Sancta-Bewegung und andere christliche Gemeinschaft mit from­men Katholiken ist mir in diesem Zusammenhang viel Ein­dringliches gesagt worden.

Ich gestehe, daß ich eine Weile aufgeschlossen, respekt­voll und beinahe ergriffen zugehört habe. Wie es sich ja auch gehörte: ich meinte bei dem Allem schlicht an das Gebet der Gemeinde und an das Abendmahl denken zu sol­len, über deren Realität ja gewiß gerade wir Schweizer uns von solchen, die sie besser kennengelernt haben als wir, Einiges dürften sagen lassen. Und dann wurde ich doch stutzig. Warum kam das nun immer wieder, und zwar in einer Betonung, als ob man sich ausgerechnet hier, im Rech­nen mit dem Reich des Teufels und im Rechnen mit der Heilsamkeit eines objektiven Geschehens in Liturgie und Sakrament im innersten christlichen Heiligtum befände? Man muß vorsichtig urteilen, wo Richtiges und Unrichtiges, Gesundes und Ungesundes, evangelische Wahrheit und ka­tholischer Irrtum, wo das Neue Testament und die antike Mysterienreligion offenbar wieder einmal so nah beieinan­der sind. Aber die Frage läßt sich nicht unterdrücken, ob viele unserer deutschen Freunde nun nicht doch im Begriff stehen, die wirkliche christliche Realität mit dem Zauber­berg eines magischen Weltbildes zu verwechseln, hinter des­sen dunklen und hellen Kulissen die freie Majestät des per­sönlichen Gottes und seines Reiches irgendwie blaß und unwichtig wird? Mir ist es nicht ganz unverständlich, daß Rudolf Bultmann, das Kind mit dem Bade ausschüttend, in dieser Umgebung der Versuchung unterliegen konnte, zur «Entmythologisierung des Neuen Testamentes» schreiten zu wollen. Eine Gegendosis von ehrlichem neutestamentlichem Rationalismus scheint doch auch mir hier einfach unver­meidlich. Gibt es nach Christi Geburt noch herrschende, noch zu fürchtende Dämonen? Haben wir immer noch etwas Anderes zu befürchten, als daß wir von unserem eige­nen Unglauben und Ungehorsam beherrscht sein möchten? Ist Christus auferstanden oder ist er es nicht? Ist er es, was soll dann die dunkle, die dämonische Kulisse? Und gibt es nach Christi Geburt noch Priester, noch Altäre, noch Opfer? Haben wir zu unserem Trost und zu unserer Mahnung noch andere Offizien zu verrichten als das, das darin besteht, uns nun wirklich ganz an ihn zu halten? Hat er einmal und völ­lig für uns genug getan, oder ist das nicht geschehen? Ist es geschehen, was soll dann die helle, die liturgisch-sakra­mentale Kulisse? Es gefiel mir nicht, daß man mir zur Rechtfertigung dieser Sache in bekannten Ausdrücken Lu­thers sagte, daß Gott sich uns Menschen nicht als Deus nudus, nicht bloß, sondern verhüllt, und zwar eben durch jene Kulissen verhüllt offenbare. Ich werde die Sorge nicht los, hier könnte man in einer neuen Ausweichbewegung, um nicht zu sagen in einer neuen Flucht, begriffen sein: vor Gottes heiliger Person, zwischen der und uns es keine Ku­lissen mehr gibt, und dann doch auch vor der allzu rauhen Wirklichkeit des heutigen deutschen Alltags und seiner kon­kreten Forderungen. Wäre ein nüchternes Sündenbekenntnis nun nicht doch besser als ein noch so tiefsinnig gemeintes Bekenntnis zur Realität der Dämonen? Und ein ebenso nüchternes Glaubensbekenntnis nicht doch besser als die noch so ernste Zuwendung zum Altar eines priesterlichen Gnadengeheimnisses? Ich brauche nicht zu sagen, wie nahe es im heutigen Deutschland liegt, nun gerade diese Bewe­gung zu machen. Nach so viel Auflösung endlich so etwas wie Form, Objektivität, konkrete Heiligung! Und es gehört zu der eigenartigen, uns nicht so zuteil gewordenen Bega­bung des Geistes und Gemütes des deutschen Menschen, nach dieser Seite ganz besonders aufnahmefähig und lei­stungsfähig zu sein. Eben darum lag es ihm aber auch immer nahe, gerade dann, wenn es gegolten hätte, sehr nüchtern zu bleiben oder wieder zu werden, erst recht ins Geheimnis einer halbdunklen Zwischenwelt zu fliehen. Und eben dieses allzu Naheliegende sollte nun in Deutschland, sollte nun gerade in Deutschlands evangelischer Kirche um keinen Preis aufs neue geschehen. Ihre Zukunft liegt vielmehr darin, daß sie nun erst recht die Kirche des klar verkündigten Wortes und des reinen und damit lebendigen Glaubens sei, bleibe und von neuem werde, daß der Gegenstand ihrer Furcht und ihrer Liebe sich gerade nicht wandle in eine Zwischenwelt des Relativen, sondern feststehe als der, der er ist: der eine Gott, dessen Fleischwerdung in seinem Wort der Hölle Reich zerbrochen hat und in ihrer Herrlichkeit keiner Wieder­holung bedürftig ist, an der man also weder nach links noch nach rechts blickend vorbeischielen kann. Das ist das Ge­setz, nach dem die Kirche in den Jahren 1933 und 1934 zum Kampf anzutreten sich bemühte. Es könnte keine Verhei­ßung darauf liegen, diesem Gesetz untreu zu werden.

Die kurze Warnung, die ich draußen in dieser Sache laut werden ließ, konnte ihrem Zweck sicher nicht genügen. Man hat mir nicht ganz ohne grollenden Unterton geantwor­tet, «daß wir uns das nicht nehmen lassen!» Ich sah mich mit Erstaunen vor der Tatsache einer Art Bewegung, die dort in den letzten zehn Jahren offenbar mächtig um sich gegriffen hat. Daß sie das Feld behaupten und beherrschen wird, denke ich freilich nicht. Es handelt sich nach meinem Eindruck wesentlich um eine klerikale Angelegenheit, hin­ter die vorläufig nur Bruchteile der Gemeinde sich zu stel­len willens sind. Aber es wäre bedenklich genug, wenn auch nur eine größere Anzahl der deutschen Pfarrer ihre Zeit, ihre Kraft und ihr Interesse, die sie für Anderes so nötig haben, wirklich endgültig diesen Dingen zuwenden würden. Und man weiß bei den Deutschen nie, was noch möglich ist. Würde diese Bewegung herrschend und allgemein, dann würde es z. B. zu jener offenen Erklärung der deutschen Schuld und Verantwortlichkeit bestimmt nicht kommen, und es würde dann auch jene positive Beziehung zwischen dem Christentum und der politischen und wirtschaftlichen Demo­kratie bestimmt weder gesucht noch gefunden werden. Ich fürchte, daß dann auch hinsichtlich des Mißverhältnisses zwischen Gemeinde und kirchlicher Oberbehörde Alles beim Alten bleiben würde und daß es dann auch in dem Verhält­nis zwischen Kopf und Schwanz in der kirchenpolitischen Bewegung doch noch zu einer Umkehrung kommen könnte. Und mir ist sehr dunkel, wie sich dann die Auseinander­setzung mit dem auch in Deutschland überaus werbekräf­tigen und überdies durch die Besetzungsmächte weithin stark protegierten Katholizismus gestalten würde. Möchte man sich, wenn die Wellen dieser Bewegung früher oder später über die deutschen Grenzen schlagen sollten, in der Öku­mene und auch bei uns ja nicht zu sehr imponieren lassen, um dann womöglich in eine Flamme zu blasen, die besser kleiner als größer würde. Die einfache biblische Botschaft hat sich inmitten der säkularen Walpurgisnacht des National­sozialismus zu behaupten gewußt. Sie muß und wird sich auch in der hier vielleicht vorübergehend drohenden geist­lichen Walpurgisnacht zu behaupten wissen. Es gibt auch heute noch nüchterne Christen und zum Glück auch nüch­terne Pfarrer in Deutschland, und sie sind es, denen man von außen den Rücken stärken muß.

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So also, bewegt und belastet von diesen Problemen, hat die evangelische Kirche in Deutschland den Zusammen­bruch des Dritten Reiches überstanden, so ist sie aus diesem hervorgegangen.

Ob sie die Hoffnung für Deutschland ist, von der ich anfangs geredet habe? Die Tatsache, daß sie das Dritte Reich faktisch überdauert hat, kann bedeuten, daß sie es ist. Ob sie es wirklich ist, das hängt daran, ob sie in jenen sie heute bewegenden und belastenden Problemen zu den rechten Entscheidungen kommen wird.

Aber diese Entscheidungen fallen nicht nur in Deutsch­land. Die evangelische Kirche in Deutschland ist ja kein Wesen, das uns fern und fremd seine eigene Geschichte, seine eigenen Nöte, Verheißungen und Aufgaben hätte. Sie ist ja eine Gestalt der einen allgemeinen Kirche, deren an­dere Gestalten sie rings umgeben, mit denen sie nach allen Seiten und die mit ihr von allen Seiten verbunden sind. Zu dieser mit ihr verbundenen Umgebung gehört auch unsere reformierte Kirche in der Schweiz, gehören auch wir. Es ist ja gar nicht auszudenken, was es auch für uns bedeutet hätte, wenn jene etwa nicht gekämpft hätte, wenn jene Ge­stalt der einen allgemeinen Kirche sich vom Strudel hätte verschlingen lassen und also nicht mehr an unserer Seite wäre. Und wenn sie nun, nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches, jenen Entscheidungen entgegengeht, so wer­den wir diesem Geschehen auf keinen Fall als bloße freund­lich oder auch mißtrauisch interessierte Zuschauer gegen­überstehen dürfen.

Was die evangelische Kirche in Deutschland von un­serer Seite her not tut und was uns selbst not tut, ist ver­stehende Teilnahme an diesem Geschehen. Sie darf sich gerade jetzt nicht allein gelassen, nicht ihrem guten oder bösen Engel, nicht den Kräften ihrer besonderen Vergan­genheit, nicht ihrer eigenen Einsicht und Willkür überlassen wissen. Sie muß jetzt darüber im Klaren sein, daß ihre Sor­gen und Gefahren, ihr ganzer Weg, nicht nur die ihrigen sind, daß sie der einen allgemeinen Kirche außerhalb der deutschen Grenzen nicht gleichgültig, sondern von ihr ge­stützt und getragen ist, daß da keine neugierige Galerie ist, daß da vielmehr Brüder sind, die ihre Entscheidungen ebenso angehen, als ob sie ihre eigenen wären. Sie muß sich jetzt aber eben darum auch darüber im Klaren sein, daß die Au­gen dieser ihrer Brüder da draußen in höchster Spannung auf sie gerichtet sind, voll Fragens, wie sie im Vollzug die­ser Entscheidungen bestehen werde, voll Erwartungen und auch voll Befürchtungen, die sie sich nun wirklich durch keinen Einwand, daß sie vor ihrer eigenen Türe wischen möchten, können abnehmen lassen.

Verstehende Teilnahme tut not, habe ich gesagt. Teil­nahme geht schon nicht ohne Liebe. Wer hier zum vorn­herein nicht lieben will, etwa weil es sich um die evan­gelische Kirche der Deutschen handelt und weil er zu den Millionen und Millionen von Zeitgenossen gehört, die allen Deutschen nur den Rücken kehren, ihnen heute nur mög­lichst viel Strafe wünschen können, der ist hier nicht an­geredet, der soll hier aber auch nicht mitreden, weil er im Namen der einen allgemeinen Kirche, auch unserer Kirche, zu reden nicht in der Lage ist. Die evangelische Kirche der ganzen Welt liebt die evangelische Kirche in Deutschland: weil sie mit ihr bei aller Andersheit der Art denselben Herrn hat, dasselbe Wort hört, dieselbe Taufe und dasselbe Abendmahl feiert, um denselben Geist bittet, derselben Gnade täglich bedürftig ist, dieselbe Hoffnung hat. Gerade wenn und weil unsere eigene Kirche nun gegenüber dem Dritten Reich der Deutschen zwölf Jahre lang auf der Wache war und zum Wachen aufgerufen hat, kann und darf und muß sie heute, nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches, weit offen sein für das Geschehen in der evangelischen Kirche gerade in Deutschland. Sie liebt diese Kirche vor­behaltlos; sie liebt sie so, wie sie ist. Täte sie es nicht, so wäre sie selbst nicht evangelische Kirche.

Verstehende Teilnahme tut not, habe ich gesagt. Ver­stehen geht nicht ohne Geduld. Verstehende Teilnahme kann nicht erst dann anfangen, wenn der Andere da ist, wo man ihn gerne haben möchte. Sie fragt nicht, ob er denn die Wendung von 180 Grad, die man für ihn für heilsam hält, schon vollzogen hat. Verstehen heißt den Anderen sehen an seinem Ort und von da aus in seiner Bewegung. Ver­stehen heißt vielleicht Unruhe und Trauer um den Anderen. Verstehen heißt aber auf alle Fälle, daß man auf ihn warten kann. Die evangelische Kirche in Deutschland ist noch nicht dort, wo sie wohl sein sollte. Wir sind es wohl auch nicht. So hilft es ihr nichts — wie es uns auch nichts hilft —, wenn man von außen auf ihre Gebrechen zeigt, über sie den Kopf schüttelt, zornige Worte hinüberruft. Ungeduldige Teilnahme ist keine Teilnahme, weil mit der Ungeduld das Verstehen aufhört. Die evangelische Kirche in Deutschland will verstanden, das beunruhigende Verhältnis zwischen Kopf und Schwanz ihres Organismus will verstanden, die ungeheure Schwierigkeit des von ihr geforderten Bekennt­nisses zur deutschen Verantwortlichkeit will verstanden, ihre andere ungeheure Schwierigkeit, in der politischen und sozialen Frage mit ihrer Vergangenheit und insbesondere mit ihrem Vater Luther zurecht zu kommen, will verstan­den, auch ihre Not, von der Behördenkirche vorwärts zu kommen zur Gemeindekirche, auch ihre Situation in der Versuchung des christlichen Zauberberges will verstanden sein. Es müssen ganz ruhige, es müssen vertrauensvolle Au­gen sein, die in dem allem auf sie gerichtet sind, wenn unsere Teilnahme ihr etwas helfen soll.

Verstehen geht aber auch nicht ohne Unterscheidung. Verstehende Teilnahme wäre das allerdings auch nicht, wenn man den Anderen einfach hinnehmen und gelten lassen würde, wie man ihn gerade vorfindet. Sie ist Liebe durch Wahrheit. Sie kann nicht nur warten, sie kann auch eilen. Sie kann und wird am Anderen auch rütteln, denn sie unter­scheidet auch am Anderen den Geist und das Fleisch, was hinter ihm liegt und was vor ihm ist. Sie ermutigt, aber sie warnt auch. Die evangelische Kirche in Deutschland ist noch nicht dort, wo sie sein sollte. Wir sind es auch nicht. So hilft es ihr nichts — wie es uns auch nichts hilft —, wenn man ihren inneren Gegensätzen unparteiisch, ihren Problemen neutral gegenübersteht, bereit, sich jeder mög­lichen Lösung anzupassen, je nachdem sie dort gefunden werden wird, bereit, heute diesen, morgen jenen Tendenzen und Personen Beifall und Unterstützung zu gewähren, als sei es nun doch nur ihre Sache, sich so oder so zu entschei­den. Eben weil das nicht nur ihre Sache ist, sind wir es ihr schuldig, ihr unsererseits mit klaren Unterscheidungen zu Hilfe zu kommen, ihr unsere Erwartungen und Befürchtun­gen, unser Ja und Nein nicht zu verbergen, sondern deutlich zu machen, auf die Gefahr hin, daß ihr das nicht durchwegs angenehm sein wird und auch auf die Gefahr hin, daß wir uns dabei unsererseits irren könnten. Sie soll sich darüber nicht im Unklaren sein, wo wir — ob es sie freut oder nicht, mit Recht oder Unrecht — stehen in all den Fragen, die sie heute zu beantworten hat. Sie soll eben daran merken, daß wir nicht nur um sie herum, sondern daß wir ihr beistehen. In diesem Sinn wollen wir denn auch hier sein und bleiben, was wir von 1937 an gewesen sind: Das Schweizerische evangelische Hilfswerk für die bekennende Kirche in Deutschland. Wir können nichts Besseres tun, gerade wenn uns, wie es recht und billig und selbstverständlich ist, die ganze evangelische Kirche in Deutschland als solche am Herzen liegt.

Solche verstehende Teilnahme tut not in unserem Ver­hältnis zu der evangelischen Kirche in Deutschland nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches. Daß diese ver­stehende Teilnahme dann auch tätig werden muß und darf, soll jetzt nur ausgesprochen sein. Was ich deutlich machen wollte, war dies: Die Entscheidungen in den die evangelische Kirche in Deutschland bewegenden und belastenden Pro­blemen fallen nicht nur dort, sie fallen auch hier. Und so entscheidet sich auch dies nicht nur dort, sondern auch hier, ob die evangelische Kirche in Deutschland für ihr bedroh­tes Land, für ihr zerschlagenes Volk die Hoffnung sein wird, die dort so nötig ist. Die Verantwortung dafür, daß sie das sein wird, ist auch unsere Verantwortung.

Aber ich möchte das Wort von der «verstehenden Teil­nahme» nicht das letzte sein lassen. Es sind nun sieben Jahre her, daß ich hier in Wipkingen zum Gebet wider den Tür­ken aufgerufen und dieses Gebet als die entscheidende Tat der Kirche in der politischen Frage von damals bezeichnet habe. Der Türke war damals leider das nationalsozialistische Deutschland. Die Bollwerke des falschen Propheten sind heute zerstört. Und so brauchen wir heute nicht mehr gegen die Deutschen zu beten, so dürfen wir heute für sie beten. Wenn wir für die evangelische Kirche in Deutschland beten — und das ist es, wozu ich heute mit dem gleichen Ernst wie damals zu jenem andern Gebet auf rufen möchte — dann beten wir nämlich für die Deutschen insge­mein, und eben das dürfte dann auch die entscheidende Tat der Kirche in der politischen Frage von heute sein.

Vortrag gehalten auf der 6. Wipkinger Tagung am 14. Oktober 1945 in Zürich.

Quelle: Karl Barth, Die evangelische Kirche in Deutschland nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches, Zollikon-Zürich: Evangelischer Verlag, 1945, S. 19-59.


[1] Man vergleiche, was zur Beantwortung dieser ersten Frage in der neulich in Stuttgart abgegebenen «Erklärung» gesagt worden ist (Beilage I dieses Heftes)! Man ahnt die Diskussionen, die dieser Erklärung vorangingen. Man bemerkt die verschiedenen Standpunkte, die in ihrem Text zum Ausgleich kamen. Aber die in Stuttgart anwesende ökumenische Delegation hat sie als «ein wahrhaft christliches Wort» entgegengenommen. Man darf dankbar sein, daß rebus sic stantibus jedenfalls so viel zu erreichen war.

[2]) Man vergleiche zu diesem Punkt die in ihrem Schlußteil nun doch wohl eindeutig und verläßlich lautende Rede, die Niemöller bei der Eröffnung der Konferenz von Treysa gehalten hat (Beilage II)!

Hier der Text als pdf.

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