Über die Schriftauslegung (Leipziger Disputation, 1519)
Von Martin Luther
Das ist keine Weise, die Heiligen Schriften erfolgreich zu verstehen oder zu interpretieren, wenn aus verschiedenen Stellen unterschiedliche Aussagen herausgegriffen werden, ohne Rücksicht auf Zusammenhang oder Vergleich: vielmehr ist dies eine sehr verbreitete Kanons des Irrens in den Heiligen Schriften. Daher muss der Theologe, wenn er nicht irren will, die gesamte Schrift vor Augen haben und Gegensätzliches mit Gegensätzlichem vergleichen und wie die beiden Cherubim, die sich einander zuwenden, die Übereinstimmung der beiden Unterschiede in der Mitte des Gnadenstuhls finden: andernfalls wird das Gesicht eines jeden Cherubim den Blick des Verfolgers weit vom Gnadenstuhl, das heißt vom wahren Verständnis Christi, abwenden.
Non est iste modus scripturas divinas feliciter intelligendi vel interpretandi, si ex diversis locis diversa decerpantur dicta nulla habita ratione vel consequentie vel collationis: immo iste est canon errandi vulgatissimus in sacris literis. Oportet ergo theologum, si nolit errare, universam scripturam ob oculos ponere et contraria contrariis conferre et sicut duo Cherubin adversis vultibus utriusque diversitatis consensum in medio propiciatorii invenire: alioquin cuiuslibet Cherubin vultus longe divertet sequacem oculum a propiciatorio, id est vera Christi intelligentia. (WA II, 361, 16-23)