Ulrich Peter über Harald Poelchau (1903-1972): „Zahlreiche Opfer waren politische Freunde aus dem »Kreisauer Kreis«, zu dem er selbst gehörte, und aus den Gruppen, die mit dem Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 zu tun hatten. Die erste Hinrichtung, zu der Poelchau bestellt wurde, fand am 17. April 1934 statt. Weitere 1200 Hinrichtungen folgten in den nächsten elf Jahren bis zum Ende der Nazi­diktatur, so dass die Seelsorge für die Verurteilten Poelchau zu­nehmend beanspruchte. Darüber hinaus schmuggelte Poelchau Nah­rungsmittel, die er vom schlesischen Gut Kreisau seines Freundes Helmuth James Graf von Moltke bekam, in die Gefängnisse hinein und Mitteilungen und Briefe heraus. Ihm verdanken wir, dass die Gefängnisaufzeichungen Dietrich Bon­hoeffers und die Abschiedsbriefe Helmuth von Moltkes an seine Frau Freya erhalten sind. Nicht nur den Gefängnisinsas­sen galt Poelchaus Hilfe, zusammen mit seiner Frau Dorothee rettete er Juden, indem er sie versteckte, mit Lebensmitteln versorgte und ihnen falsche Pässe verschaffte.“

Harald Poelchau

Geb. 5. 10. 1903 in Brauchitschdorf/Schlesien; gest. 29.4. 1972 in Berlin

Von Ulrich Peter

Harald Poelchau wuchs in ländlicher Umge­bung auf. Sein Vater Harald war Pfarrer in Brauchitschdorf, ei­nem kleinen Heidedorf in Schle­sien. In diesem Ort – mit dem Rittergutsbesitzer und dem Pfar­rer an der Spitze – hatten noch Traditionen aus der Feudalzeit überdauert. Die Familie Poelchau – eine Pfarrer-»Dynastie« seit der Re­formation – hielt sich zwei Dienstboten und war auch sonst von den Bauern sichtbar getrennt. Die Klassenunterschiede zwischen »Herrschaften« und »Gesinde« empörten Poelchau bereits als Kind. Als Poelchau zehn Jahre alt war, schickte ihn der Vater auf die »Ritterakademie« nach Liegnitz, in der seit vielen Generationen die Söhne der schlesi­schen Landadeligen erzogen wurden. Hier schloß sich Poelchau der Bewegung der Schülerbibelkreise an und bekam von ihr entscheidende Anstöße. Als sich 1919 eine »jugendbewegte« Gruppe von den Bibelkreisen trennte und sich als »Bund der Köngener« organisierte, beteiligte sich Poelchau.

Mit 18 Jahren begann Poelchau das Studium der evangelischen Theologie, das ihm der theologisch konservativ ausgerichtete Vater nur zu finanzieren bereit war, wenn er nicht auf die »liberale« Marburger Universität ginge, sondern auf die als »konservativ« bekannte Kirchliche Hochschule in Bethel bei Bielefeld. Wider Erwarten erwies sich Bethel nicht als dogma­tische Einrichtung. Poelchau, der bisher das Christentum »nur als depressive Reflexion erfahren« hatte, begegnete jetzt einem Christentum, das »tätige Hilfe im Leid« war. Der Charakter der Hochschule als Einsprengsel in den Bodelschwinghschen An­stalten (für »Innere Mission«) und die Nähe zu den Kranken und Behinderten war eine wichtige Grundlage für die spätere Sozialarbeit Poelchaus. Nach Bethel studierte er drei Semester in Tübingen und machte ein Praktikum bei Bosch in Stuttgart. Diesen Begegnungen mit den Arbeitern im Betrieb verdankte er entscheidende Impulse, die er nach 1945 in der »Berliner Kirchlichen Industriearbeit« umsetzen konnte. Auf Tübingen folgte Marburg. Die Inflation 1923 hatte das väterliche Ver­mögen vernichtet, und der Sohn war nun auf sich selbst gestellt. In Marburg lehrte der Theologe und Philosoph Paul Tillich. Der religiöse Sozialist Tillich wurde für Poelchau der »Lehrer meines Lebens«. Durch den Einfluß Tillichs beschäftigte er sich mit Fragen der Gesellschaft, arbeitete an Publikationen der religiösen Sozialisten mit und verstand sich seit 1924 selbst als ein solcher.

1927 bestand Poelchau in Breslau das 1. theologische Examen und fand dann Aufnahme in das Berliner Dom-Kandidatenstift. Sein Hauptinteresse galt nicht dem Vikariat, sondern dem dadurch erst ermöglichten Besuch der »Wohlfahrtsschule« an der »Hochschule für Politik« in Berlin. Dieses vom Tillich-Freund und religiösen Sozialisten Carl Mennicke geleitete Se­minar bildete Fürsorger aus. Poelchau absolvierte dort das Studium, ließ sich danach vom Kirchendienst beurlauben und wurde Geschäftsführer der »Deutschen Vereinigung für Jugendge­richte und -gerichtshilfe« in Berlin. Nach zwei Jahren holte ihn Tillich, der inzwischen nach Frankfurt am Main gegangen war, als Assistenten zu sich an das philosophische Seminar der Universität, und 1931 promovierte Poelchau bei Tillich über Die sozialphilosophischen Grundlagen der deutschen Wohl­fahrtsgesetzgebung. Co-Referent war Carl Mennicke. Bemer­kenswert ist, welche Bedeutung Poelchau dem Begriff der Solidarität, einer im damaligen Protestantismus ungebräuchlichen Kate­gorie, in seiner Untersuchung zumaß.

Da ein rigoroses staatliches Sparprogramm Poelchau jede Aussicht auf Beschäftigung in der Sozialfürsorge verwehrte, entschied er sich, seine Pfarrer-Ausbildung fortzusetzen und mit dem 2. theologischen Examen abzuschließen (Januar 1932). Im Herbst 1932 bewarb er sich erfolgreich um eine Pfarrstelle im Zuchthaus Berlin-Tegel. Am 1. April 1933 – inzwischen waren die Nazis an der Macht – trat Poelchau die Stelle an, zunächst »auf Probe«, ab 1. Juli 1933 unbefristet. Er war nun Angestellter des Staates; daß er sich wie seine Lehrer Tillich und Mennicke als religiöser Sozialist verstand, übersahen die Nazis, hatte er sich doch politisch nicht exponiert. Später schrieb er: »1933 zeigte sich, daß man nur noch an einer Stelle in Freiheit arbeiten konnte, in der Kirche, die sich nicht gleichschalten ließ, und daß man nur an einer Stelle sicher war, im Gefängnis.« Eine sehr subjektive Sicht, denn als Poelchau in Tegel seinen Dienst begann, wurde sein dortiger Kollege Erich Kürschner, ebenfalls ein religiöser Sozialist, »wegen politischer Unzuverlässigkeit« entlassen. Kürschner hatte früher als Sozialdemokrat für den Reichstag kandidiert und wurde später als führendes Mitglied der sozialistischen Widerstandsgruppe »Neu-Beginnen« selbst inhaftiert.

Nach Tegel wurden 1934 erstmals in größeren Gruppen politi­sche Häftlinge aus KPD und SPD eingeliefert, für die Poelchau eigene Arbeitskreise einrichtete. Damit das unverdächtig aussah, sprach er vom »Religionsunterricht nur für Dissidenten«. In diesem »Unterricht« wurden grundsätzliche menschliche, aber auch religions- und kirchensoziologische Fragen behandelt. Die Gefangenen wunderten sich darüber, nahmen die Ab­wechslung im Gefängnisalltag aber dankbar an. Willi Zahl­baum, 1935 als Widerstandskämpfer der Sozialistischen Arbei­terpartei (SAP) Häftling in Tegel, erinnerte sich nach 1945: »Wenn er sprach, trafen sich in der Kirche nicht zufällig zahlreiche Dissidenten, die aktive Gegner des Herrschafts­systems der Nazis waren. Seine Auslegung der evangelischen Glaubenslehre regte die meisten von uns zu persönlicher geistiger Auseinandersetzung an. Das ermöglichte, das Gefühl der Einsamkeit in der Zelle zeitweilig zu verdrängen«.

Zu Poelchaus Aufgaben als Tegeler Gefängnispfarrer gehörte es, zum Tode verurteilte Gegner des Regimes im Zuchthaus Brandenburg-Goerden, in der Strafanstalt (Berlin)-Plötzensee und auf Berliner »Wehrmachts-Hinrichtungs-Plätzen« auf ihrem letzten Weg zu begleiten. Zahlreiche Opfer waren politische Freunde aus dem »Kreisauer Kreis«, zu dem er selbst gehörte, und aus den Gruppen, die mit dem Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 zu tun hatten. Die erste Hinrichtung, zu der Poelchau bestellt wurde, fand am 17. April 1934 statt. Weitere 1200 Hinrichtungen folgten in den nächsten elf Jahren bis zum Ende der Nazi­diktatur, so daß die Seelsorge für die Verurteilten Poelchau zu­nehmend beanspruchte. Darüber hinaus schmuggelte Poelchau Nah­rungsmittel, die er vom schlesischen Gut Kreisau seines Freundes Helmuth James Graf von Moltke bekam, in die Gefängnisse hinein und Mitteilungen und Briefe heraus. Ihm verdanken wir, daß die Gefängnisaufzeichungen Dietrich Bon­hoeffers und die Abschiedsbriefe Helmuth von Moltkes an seine Frau Freya erhalten sind. Nicht nur den Gefängnisinsas­sen galt Poelchaus Hilfe, zusammen mit seiner Frau Dorothee rettete er Juden, indem er sie versteckte, mit Lebensmitteln versorgte und ihnen falsche Pässe verschaffte.

Da kurz vor Kriegsende die Strafanstalt Tegel aufgelöst wurde und Poelchau nach Süddeutschland fuhr, erlebte er dort das Ende der Nazidiktatur. Von August 1945 bis zum Frühjahr 1946 ar­beitete er beim »Evangelischen Hilfswerk« in Stuttgart. Am 1. April 1946 trat er in die Leitung des Strafvollzugs der Zen­tralen Justizverwaltung der Sowjetischen Besatzungszone (DJV) in Berlin ein. Er legte als »Vortragender Rat« zu allen wichtigen Fragen des Strafvollzugs Grundsatzpapiere vor. Seine Haupttätigkeit bestand darin, die Gefängnisse der So­wjetischen Besatzungszone zu beaufsichtigen. Lediglich die von der russischen Besatzungsmacht kontrollierten Anstalten waren ihm verwehrt.

Poelchau interessierten vor allem zwei Dinge: die Seelsorge und die Erziehung der Erzieher. Er kümmerte sich speziell um das Konzept eines neuen Ausbildungsgangs für Erzieher im Straf­vollzug. Der Lehrgang sollte an der Humboldt-Universität in Ostberlin eingerichtet werden, wo er selbst einen Lehrauftrag innehatte. Im Laufe des Jahres 1948 wurde deutlich, daß die Gefängnisse in der Ostzone nach sowjetischem Vorbild aus der Zuständigkeit der Justiz in die Hände der Polizei übergehen sollten. Am Ende dieses Jahres kündigte Poelchau. Seinen Abschied reichte er bei Max Fechner, dem späteren ersten Justizminister der DDR ein. Fechner bot Poelchau eine Professur am Kriminologi­schen Institut der Humboldt-Universität an, wo die angehenden Vollzugsbeamten ausgebildet werden sollten, aber Poelchau lehnte ab und schied 1949 aus dem Justizdienst aus.

Poelchau ließ sich vom Präses der Berliner Kirche, Kurt Scharf, überreden, noch einmal als Gefängnispfarrer zu amtieren. Im Januar 1949 trat er seinen Dienst in Tegel an, wo er sich ein Jahr lang mit der Anstaltsleitung über die Behandlung der Häftlinge stritt.

Der evangelische Bischof von Berlin-Brandenburg Otto F. Dibelius, berief ihn daraufhin zum ersten Sozialpfarrer in der Geschichte der Berlin-Brandenburgischen Kirche. Sein Auftrag war die Herstellung von Kontakten der Kirche in und mit der industriellen Arbeiterschaft: die Geburtsstunde des heutigen »Kirchlichen Dienstes in der Arbeitswelt«. Hier konnte er an Ideen und Vorarbeiten aus der Arbeiterbildung seines Lehrers Carl Mennicke aus der Zeit nach 1919 anknüpfen. 1956 bekamen die von ihm aufgebauten Betriebsgruppen und be­trieblichen Arbeitskreise ein Gemeindezentrum in Berlin-Char­lottenburg. Aus dieser Arbeit ging die »Evangelische Industrie­jugend« hervor, die für Auszubildende verschiedener Berliner Berufsschulen und Betriebe Seminare veranstaltete. Diese Ju­gendlichen bildeten den Hauptteil der jungen Arbeiter, die im Rahmen der »Aktion Sühnezeichen« u.a. Wiederaufbauarbeit in England (Coventry) leisteten.

Poelchau starb am 29. April 1972 an Kreislaufversagen im Behand­lungszimmer seines Arztes. Kurz vor seinem Tod wurde er in Israel für seine Verdienste um die Rettung verfolgter Juden als »Gerechter unter den Völkern« geehrt.

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