Das volle weibliche Pfarramt und der „Fall Furna“
Zum vollen Pfarramt sind bei uns in der Schweiz – wie übrigens auch fast überall im Auslande – die Theologinnen mit Ausnahme der Eglise libre im Kanton Waadt noch nirgends zugelassen; d. h. im Kanton Genf dürfen sie alle pfarramtlichen Funktionen verrichten, auch die Sakramente verwalten, jedoch nicht den ausdrücklichen Titel eines Pfarrers führen, sondern sich mit demjenigen einer Hilfspfarrerin begnügen. Als Pfarrhelferinnen dagegen haben die Theologinnen schon in verschiedenen Gemeinden Zugang gefunden, und zwar sind mehrmals die Gemeinden weiter gegangen und haben ihre Theologinnen für das vollamtliche Pfarramt gewählt, aber die Oberbehörde, der Kirchenrat und die Synode, die Wahl dann nicht genehmigt, wie dies kürzlich ja wieder in Lenzburg der Fall gewesen ist.
Daß die Theologinnen sich aber nicht nur mit dem Hilfspfarramt zufrieden geben können, sondern schon aus dem Amt selber heraus nach dem vollen Pfarramt streben müssen, hat kürzlich sehr überzeugend die erste Strafanstaltspfarrerin Deutschlands, Sophie Kunert, die an einem großen Frauengefängnis in Hamburg wirkt und also sehr viel Erfahrung hat, dargelegt. Sie schreibt:
„Auf die Dauer wird es nicht möglich sein, innerhalb des Bezirkes eines anderen Pfarrers wirklich verantwortungsbewußte Seelsorge zu treiben, ebenso wie es für die Arbeit des Pfarrers nicht ersprießlich ist, den Kontakt durch Kleinarbeit an seinen Gemeindemitgliedern zu verlieren. Es wird vielmehr notwendig sein, auch den Theologinnen selbständige Arbeitsgebiete zuzuweisen. Eine organische Entwicklung wird von selbst zum vollen Pfarramt der Theologinnen führen. Nimmt man der Seelsorge die Wortverkündigung, so bricht man ihr das Herzstück aus. Wer in mühsamer Kleinarbeit Seelsorge getrieben hat, dem darf es nicht verwehrt werden, diese Seelsorgekinder zu sammeln und mit ihnen über die letzten Gründe des Glaubens zu sprechen, auf denen diese Arbeit ruht. Und es ist wichtig, daß dies nicht im persönlichen Einzelgespräch, sondern gleichsam in der objektiven Form der Kulthandlung geschieht. Dazu ist nötig der Kultraum, der ablenkt vom Äußerlichen und Innerlichkeit schafft; dazu ist nötig der räumliche und liturgische Abstand des Verkünders vom Hörenden; dazu ist nötig das Amtskleid, das die Einzelperson auslöscht und den Diener des Evangeliums kennzeichnet. Weil aber Seelsorge und Wortverkündigung so innig und untrennbar zusammengehören, wird man sie auch für die Theologinnen auf die Dauer nicht trennen können. Wir fordern nicht prinzipiell und theoretisch, sondern wir lassen die kirchliche Erfahrung sprechen und geben der Entwicklung Raum, den sie zur organischen Ausgestaltung braucht. Dabei wird sich ein selbständiges kirchliches Amt der Frau mit Seelsorge und Wortverkündung herausgestalten, das sicherlich nicht dem heute üblichen männlichen Pfarramt in allen Stücken gleicht; denn wir Frauen dürfen und wollen nicht nachahmen, sondern frei und verantwortungsbewußt unsere weiblichen Kräfte, insbesondere die wertvollste weibliche Kraft, die Mütterlichkeit, in den Dienst des Evangeliums stellen.“
Auch unsere Schweizer Theologinnen – und sie noch bestimmter als die deutschen – streben nach der Zulassung zum vollen Pfarramt. Frau Greti Caprez-Roffler, eine junge Bündner Theologin, die ihr theologisches Fakultätsexamen an der Zürcher Universität abgelegt hat, spricht wohl im Einverständnis mit ihren Amtskolleginnen, wenn sie in einem Artikel in den „Mitteilungen des Verbandes evangelischer Theologinnen Deutschlands“ die Forderung nach dem vollen Pfarramt ausspricht:
„Entweder man sieht die Notwendigkeit des Dienstes und will ihn ganz oder man sieht sie nicht und läßt dann eben die Hände von der Theologie. Wir wollen auch nicht ein der Eigenart der Frau gemäß zurechtgestutztes Amt, denn wir glauben nicht an diese Eigenart. Wir wollen das Pfarramt, ob nun so wie es jetzt besteht oder ein abgeändertes, spielt keine Rolle, aber auf alle Fälle das Amt so wie unsere männlichen Kollegen es haben.“
Wenn wir gerade den Namen von Frau Caprez nennen, so geschieht dies nicht ganz ohne Absicht. Denn sie steht momentan mitten im schwersten Kampfe um ein Pfarramt. Die kleine bündnerische Gemeinde Furna im Prättigau, 1380 Meter hoch gelegen, suchte einen neuen Pfarrer und sollte in der Zwischenzeit vom Tale aus pastorisiert werden. Trotz vieler Anstrengungen gelang es aber der Gemeinde nicht, einen solchen zu finden, und gegen die Pastorisation vom Tale aus – man denke bei allen großen Schneefällen und Stürmen – wehrte sich die Gemeinde: für ihre Verhältnisse befriedige nur ein Pfarrer oder ein Vertreter, der ständig in der Gemeinde wohne. Ein solcher war aber nach den eigenen Worten des Kirchenvorstandspräsidenten von Furna nicht aufzutreiben. So fiel die Wahl der Kirchgemeinde von Furna auf die Pfarrerin Frau Greti Caprez-Roffler, die Tochter des Pfarrers von Igis.
„Wir wählten sie zur Vornahme sämtlicher pfarramtlicher Funktionen und zwar gestützt auf Artikel 11, Absatz 5, der Kantonsverfassung, die den Kirchgemeinden klipp und klar ohne Vorbehalt das Recht zugesteht, ihre Geistlichen selber zu wählen und zu entlassen“, schrieb uns der Kirchenvorstandspräsident. Der evangelische Kirchenrat des Kantons Graubünden verweigerte jedoch dieser Wahl die Genehmigung als mit dem Kirchengesetz im Widerspruch stehend. Die Zulassung der Frau zum Pfarramt ist allerdings im Bündnerland noch nicht gesetzlich geregelt. Aber schon im Jahre 1927 hat sich die bündnerische Synode mit überwältigender Mehrheit für die Zulassung der Frau zum Pfarramt ausgesprochen. Allerdings bedarf dieser Beschluß der Zustimmung des evangelischen Großen Rates und dann als einer Verfassungsänderung der Volksabstimmung. Es ist möglich, daß der „Fall Furna“ nun endlich die immer noch ausstehende Stellungnahme des evangelischen Großen Rates beschleunigt.
Die Gemeinde Furna indessen will sich nicht irre machen lassen. Sie beharrt und beruft sich auf die Kantonsverfassung, nach der ihr die Wahl gestattet ist. Denn sie ist sehr froh um ihre Pfarrerin, froh auch für ihre kleine Gemeinde, eine eigene Seelsorgerin gefunden zu haben: „Bis dahin sind wir sehr zufrieden mit unserer Pfarrerin.“
Sehr richtig sagt Frau Pfarrer Caprez in einem Artikel im „Freien Rätier“, in dem sie sich gegen verschiedene Angriffe zur Wehre setzen mußte – denn der „Fall Furna“ fand natürlich auch seine ergiebige Erörterung in der bündnerischen Presse – „daß man doch auch bedenken möge, daß hier nun endlich einmal eine kleine Gemeinde den Mut gefunden habe, einen Versuch zu machen. Gehe es schief, so werde das dann nachher für die Gegner des Frauen-Pfarramtes ein gutes Argument sein. Gehe es aber gut, so gebe es noch recht viel kleine Gemeinden – es seien ihrer wohl etwa 20 – die immer wieder Mühe haben, einen Pfarrer zu bekommen und die darunter leiden. Ihnen würde das Frauenpfarramt eine Hilfe in der Not sein. Darum soll man bei der ganzen Sache weniger nur an den Einzelfall denken, sondern an die seelsorgerlich darbenden Gemeinden, meist Berggemeinden, und ihnen nicht die Türe verrammeln, durch die ihnen Hilfe kommen könnte.“
Wir sind überzeugt, daß die vielen Frauen, die nächsten Sonntag in Zürich zum kantonalen Frauentag zusammenkommen werden, um gerade diese Fragen miteinander zu besprechen, mit herzlicher Sympathie dieser jungen Theologin und ihres schweren Pionierkampfes gedenken werden, den sie nur aus einem heiligen Drang und aus einer tiefen Liebe zu ihrem Beruf heraus auf sich genommen hat. Er ist nur ein kleiner Ausschnitt aus dem ganzen schweren Kampfe überhaupt, den unsere Theologinnen um ihr Amt zu führen gezwungen sind.
Quelle: Schweizer Frauenblatt, Jahrgang 13, Heft 46 vom 13. November 1931 (unpaginiert).