Eberhard Jüngel, Zukunft und Hoffnung. Zur politischen Funktion christlicher Theologie (1974): „Theologie gleicht zumindest darin den heiligen Narren, dass sie, indem sie Abstand nimmt von der Welt, eben dieser Welt näher zu kommen versucht, als dies aus abstandsloser Nähe möglich ist. Ich möchte deshalb methodisch so vorgehen, dass Zukunft und Hoffnung zunächst so in den Blick geraten, wie sie im Horizont des christlichen Glaubens sichtbar werden: nämlich als Hoffnung auf die jede Zukunft überbietende Wiederkunft Jesu Christi oder kurz: als Hoffnung auf Gottes eigenen Advent. Diese genuin theologische Zukunftserwartung soll dann als eine menschliche Einstellung erhellt werden, in der gerade das Verhältnis zur letzten Zukunft dem gegenwärtigen Menschen näher kommt, als dieser sich selber nahe zu sein vermag. Von der Einsicht in die Bedeutung der Zukunft Gottes für die menschliche Gegenwart her mögen dann einige Zumutungen des Evangeliums an die Adresse des Gesetzes im Blick auf die nähere irdische Zukunft formuliert werden.“

Zukunft und Hoffnung. Zur politischen Funktion christlicher Theologie (1974)

Von Eberhard Jüngel

Politik gilt nach einem bekannten Wort Bismarcks als die „Kunst des Möglichen“. Gemeint ist die Kunst der Beschränkung auf die Verwirk­lichung dessen, was von dem Machenswerten und vielleicht sogar Notwendigen zu machen möglich erscheint. Karl Liebknecht hat dem entgegengesetzt, „die eigentlichste und stärkste Politik“ sei die „Kunst des Unmöglichen“. Wer unter poli­tischem Aspekt nach „Zukunft und Hoffnung“ fragt, scheint auch heute noch zwischen der Kunst des Mög­lichen und der Kunst des Unmög­lichen wählen zu müssen. Eine solche Wahl ist aber allemal ein Streit um die Wirklichkeit. Nach der pragmatisch anmutenden Formel Bismarcks scheint die jeweilige Wirklichkeit darüber zu entschei­den, was möglich ist. Das bedeutet freilich noch nicht, diese Formel als Anleitung zu bloßen status-quo-Variationen mißverstehen und wie Lotte in Weimar „mit abweisendem Kopfschütteln“ darauf bestehen zu müssen, „daß man sich rüstig ans Wirkliche halte, das Mögliche aber auf sich beruhen lasse“. Es geht im Sinne Bismarcks vielmehr darum, sich rüstig an das wirklich Mögliche zu halten, das Unmögliche aber auf sich beruhen zu lassen. Maßstab des Möglichen wäre jedoch auch dann die Wirklichkeit.

Demgegenüber mutet ein Wort Jesu, das behauptet, alles sei möglich dem, der glaubt (Mk 9,23), ausgesprochen wirklichkeitsfremd an. Es wäre wohl selbst von dem nach der Kunst des Unmöglichen als der eigentlichsten und stärksten Politik verlangenden Liebknecht so emp­funden worden. Eine solche Be­hauptung ist aus der Wirklichkeit der Welt heraus nicht verständlich. Und wer es dennoch glaubt, daß dem Glaubenden alles möglich sei, der sieht sich sofort genötigt, sei­nen Unglauben einzugestehen: „ich glaube, hilf meinem Unglauben“ (Mk 9,24). Am Streit um die Wirk­lichkeit sind auch solche Sätze des Glaubens beteiligt. Aber im Feld der politischen Alternativen wirken sie befremdlich. Sie haben einen anderen Sitz im Leben, eine andere Herkunft. „Alles ist möglich dem, der glaubt“ — das ist schon im Munde Jesu ein Satz, der einzig und allein begründet ist in der Behauptung, daß das, was für Men­schen unmöglich zu sein scheint, möglich ist für Gott: „denn alles ist möglich bei Gott“ (Mk 10,27). Eine christlich orientierte Frage nach Zukunft und Hoffnung hat sich folg­lich an dem zu orientieren, der allein definitiv zwischen möglich und unmöglich unterscheidet. Theo­logie hat zunächst einmal Abstand zu nehmen von der Wirklichkeit der Welt, wenn sie sich am Streit um die Wirklichkeit und deren Zukunft beteiligt. Denn Theologie ist grund­legend Rede von Gott, und das heißt von dem, der das Mögliche allererst möglich macht und das Unmögliche — das, was nicht sein soll — möglich zu machen verwehrt.

Wer zu solcher Abstandnahme, zu einem solchen Schritt zurück aus dem Streit politischer Alternativen sachlich genötigt ist, setzt sich nun freilich, wenn er gleichwohl vor einem parteipolitischen Forum das Wort nimmt, dem Verdacht aus, sein Ehrgeiz gehe auf eine bunte Jacke (Shakespeare). Der umge­kehrte Vorgang erregt zwar seit biblischen Zeiten auch Verwunde­rung. Wie denn Saul unter die Pro­pheten komme und wie der Bun­deskanzler auf die Kirchenkanzel — das läßt sich fragen. Aber es gibt da doch eine einleuchtende Ant­wort. Denn auch die Vertreter poli­tischer Macht haben, sofern sie Glaubende sind, in der Gemeinde der Glaubenden einen Sitz im Leben. Die Gemeinde der Glauben­den ist für jeden Glaubenden geistliche Heimat. Die christliche Gemeinde hat aber keineswegs umgekehrt in irgendeiner politi­schen Partei so etwas wie einen Sitz im Leben. Und was ihre Theo­logie über Zukunft und Hoffnung zu sagen hat, läßt sich nur in Aus­nahmefällen unmittelbar in Politik transferieren. Politik muß — jeden­falls auch und nicht zuletzt — Ge­setze machen und Gesetze prakti­zieren. Theologie hat dem Evange­lium zu dienen und darf niemals zur politischen Gesetzgeberin wer­den. Sie darf es auch nicht in der sublimierten Weise einer grauen, bzw. lila Emi­nenz.

„Richtig unterscheiden“ tut not

Ist Theologie also wesentlich unpolitisch? Ganz und gar nicht. Es kommt nur darauf an, richtig zu unterscheiden — eine Tätigkeit übrigens, die nach Luther überhaupt erst einen Theologen zum Theologen macht. Luthers drastische Warnung, nur ja nicht alles ineinander und durcheinander zu mengen wie eine unflätige Sau, verdient im Blick auf das Verhältnis von Politik und Theologie heute mehr berücksichtigt zu werden denn je. Ich will es versuchen, wenn ich als Theologe zu der von Politikern gestellten Frage nach Zukunft und Hoffnung einige Erwägungen formuliere.

Dabei gehe ich also von dem angekündigten Schritt zurück aus. Ich spiele die Narrenrolle. Es muß ja nicht gerade die Rolle des Hof-[4]narren sein. Die des heiligen Nar­ren steht dem Theologen besser an. Narren waren freilich — um ein mögliches Mißverständnis hier gleich auszuschalten! — auf ihre Weise sehr ernst zu nehmende Figuren. Sie waren mitunter die einzigen, die es sich erlauben konn­ten, die Wahrheit zu sagen. Es war ihr Amt, auszusprechen, was sich sonst nur hinter vorgehaltener Hand oder aber gar nicht sagen läßt — und doch auf keinen Fall verschwiegen werden darf. Es war ihre Funktion, in vieldeutigen Situa­tionen auf vielsagende Weise ein­deutig zu werden. Der Narr kam auf seine närrische Weise, er kam auf Umwegen den Angeredeten näher, als es ihnen mitunter lieb war. Theologie gleicht zumindest darin den heiligen Narren, daß sie, indem sie Abstand nimmt von der Welt, eben dieser Welt näher zu kommen versucht, als dies aus ab­standsloser Nähe möglich ist. Ich möchte deshalb methodisch so vor­gehen, daß Zukunft und Hoffnung zunächst so in den Blick geraten, wie sie im Horizont des christlichen Glaubens sichtbar werden: nämlich als Hoffnung auf die jede Zukunft überbietende Wiederkunft Jesu Christi oder kurz: als Hoffnung auf Gottes eigenen Advent. Diese ge­nuin theologische Zukunftserwar­tung soll dann als eine mensch­liche Einstellung erhellt werden, in der gerade das Verhältnis zur letz­ten Zukunft dem gegenwärtigen Menschen näher kommt, als dieser sich selber nahe zu sein vermag. Von der Einsicht in die Bedeutung der Zukunft Gottes für die mensch­liche Gegenwart her mögen dann einige Zumutungen des Evange­liums an die Adresse des Gesetzes im Blick auf die nähere irdische Zukunft formuliert werden. Dabei ist davon auszugehen, daß Zukunft immer in der Gegenwart beginnt. Alle Schritte dieses Gedankengan­ges geschehen in ständiger Rück­sicht auf das problematische Ver­hältnis von Theologie und Politik, wobei ich besonders auf die Grund­satzfrage eingehen möchte, ob christliche Theologie so etwas wie eine politische Theologie sein kann oder gar sein soll, um zum Schluß eine grundsätzliche Bemerkung zu der politischen Erregung zu ma­chen, die in den letzten Wochen in der und um die evangelische Kirche von Berlin entstanden ist.

Notwendige Differenzierungen im Begriff „Zukunft“

Zukunft und Hoffnung gehören zu denjenigen Wörtern unserer Sprache, die sofort einen Vorschuß an Sympathie auf sich ziehen. Was Zukunft hat, findet unser Interesse. Was keine Zukunft hat, wird leicht vernachlässigt. Hoffnung auf Zu­kunft gehört sogar so sehr zum Wesen des Menschen, daß ohne Hoffnung leben zu müssen, zu den unmenschlichen Zwängen gezählt wird, gegen die der Mensch sich selbst dann noch zur Wehr setzt, wenn er selber ein sogenannter hoffnungsloser Fall geworden zu sein scheint: „Dann beschließt er im Grabe den müden Lauf. Noch am Grabe pflanzt er — die Hoffnung auf“ (Schiller). Hoffend gibt der Mensch sich selber Zukunft. Gibt er hingegen alle Hoffnung auf, be­kommt seine Gegenwart greisen­hafte Züge. Ohne Hoffnung kommt die Zukunft bereits alt und schal bei uns an. Hoffnung macht die Zukunft erst begehrenswert und die Gegenwart in ihrer Vergänglichkeit erst erträglich. Auf den Menschen scheint die durch Hoffnung ge­steuerte Erwartung der Zukunft als eine Art Jungbrunnen der Zeit zu wirken. Solange noch Hoffnung ist, verjüngt sich das Leben zumindest in dem Sinn, daß die Gegenwart nicht als das Letzte akzeptiert wird. Kein Wunder also, daß Wörter wie Hoffnung und Zukunft über ihre semantische Bedeutung hinaus einen Mehrwert an Sinn ins Spiel bringen. Wer hofft, denkt weiter. Und wer Zukunft hat, lebt gegen­wärtiger.

Um so gefährlicher ist allerdings der leichtfertige Gebrauch solcher Sympathie auf sich ziehender Wör­ter. Der unverantwortliche Umgang mit Zukunft und Hoffnung ist sogar ausgesprochen gemeingefährlich. Hoffnungen zu wecken, wo nichts zu hoffen ist, heißt den Menschen mit Hilfe seiner Sehnsucht nach mehr Menschlichkeit um seine Menschlichkeit zu betrügen. Und die einseitige Orientierung an der Zukunft unter Überspringung der Gegenwart, die rücksichtslose Be­vorzugung dessen, „was Zukunft hat“, kann zum Verbrechen am Leben werden.

Der christliche Glaube hat sich gegen eine solche Geringschätzung der Gegenwart um des übergroßen Mehrwerts der Zukunft willen von vornherein zur Wehr gesetzt. En­thusiasten, die vor lauter Zukunfts­begeisterung die Not der Gegen­wart nicht mehr sehen, werden ebenso scharf zurechtgewiesen wie diejenigen Frommen, die beim Abendmahl so sehr die Gegenwart vernachlässigen, daß sie ihre Nach­barn hungern und dürsten lassen (1. Kor 11,20 ff.). Allerdings ist auch diese Fehlhaltung nur verständlich aufgrund einer besonderen Hoch­schätzung des Kommenden, die dem christlichen Glauben eignet. Auch in der Bibel wird Zukunft groß geschrieben. Die Leiden der gegenwärtigen Zeit werden von Paulus im Vergleich mit der zukünftigen Herrlichkeit sogar gering geachtet (Röm 8,18). Das jedoch nur inso­fern, als das sichtbare und hörbare (Stöhnen!) Elend der gegenwärti­gen Welt die Gewißheit eines guten Gottes nicht problematisieren kann. Diese Gewißheit ist nun aber für den christlichen Glauben das Fun­dament für eine durchaus positive Zukunftserwartung. Und insofern teilt das Christentum die positive Einstellung zur Zukunft. Ja, der christliche Glaube hat, darin alttestament­liche Traditionen fortset­zend, entscheidend dazu beigetra­gen, daß es zu dem heute allge­meinen Sympathievorschuß für Phänomene wie Zukunft und Hoff­nung im Abendland gekommen ist.

Es gab immerhin Zeiten, in denen es nicht einmal selbstverständlich war, daß die Hoffnung einen posi­tiven Zukunftsbezug darstellt. Der griechischen Mythologie ist sie als letztes der Übel in der Büchse der Pandora bekannt. Hoffnung war den Griechen zunächst nicht mehr als eine Erwartung, die sowohl gut als auch schlecht sein konnte. Es gab auch „schlechte Hoffnung“, so daß man, um die positive Erwartung als solche zu kennzeichnen, die für unsere Ohren nur in Ausnahmefäl­len nicht tautologisch klingende Wendung „gute Hoffnung“ ge-[5]brauchte. Die Hoffnung als solche war nicht schon notwendig gut. Sie war es ebensowenig wie die Zu­kunft, die man viel eher als eine Bedrohung der Gegenwart emp­fand. Unter der Sonne Homers triumphierte das Präsens. Leben, Existieren, Sein hieß nicht so sehr Zukunft haben als vielmehr anwe­send sein. Denn der Gegenwart war man gewiß. „Für die Zukunft aber ist blind der Verstand“ (Pin­dar).

Ganz anders redet die Bibel. Schon der Glaube Israels war in einem eminenten Sinn Vertrauen auf Zukunft, genauer: Hoffnung auf den seinem Volk Zukunft gewäh­renden Gott. Nur in seiner Zukunft verheißenden Treue wußte Israel seine geschichtliche Existenz be­gründet. Ein großes Erstaunen begleitet das Selbstbewußtsein die­ses Volkes durch seine ganze Geschichte: ein gläubiges Erstau­nen darüber, als Israel überhaupt da zu sein und stets aufs Neue da zu sein. Das Erstaunen darüber, überhaupt da und immer noch da zu sein, ist der Ausdruck dafür, daß Gott allein die Zukunft gehört. Der Glaube an diesen Gott war deshalb Glaube an die eigene Zukunft.

„Letzte Zukunft“ als Grund und Grenze gegenwärtiger Zukunft

Im Neuen Testament wird der Glaube dann fundamental von der Erfahrung bestimmt, daß der Gott, dem die Zukunft gehört, in der geschichtlichen Gegenwart eines Menschen offenbar geworden ist. Das hat nun freilich folgenschwere Konsequenzen für die menschliche Einstellung zur Zukunft. Denn wenn der über die Zukunft entscheidende Gott geschichtlich gegenwärtig ge­worden ist, dann ist hinfort jeder Zukunftsbezug von dieser Gegen­wart geprägt. Für den urchristlichen Glauben hat sich das zunächst so ausgewirkt, daß alles, was auf diese Gegenwart, was also auf die Zelt Jesu Christi noch folgen konnte, nur noch als eine Art Nach­geschichte in Betracht kam. Man erwartete ganz offensichtlich das baldige Ende aller Dinge. Man hoffte auf die schnelle Wiederkehr Jesu Christi als des Herrn und Richters der Welt. Wichtiger noch als diese sogenannte Naherwartung war jedoch die Gewißheit, daß die­ser Herr und Richter sein Urteil bereits gesprochen hat. Die Zu­kunftserwartung der Christen war ganz und gar davon bestimmt, daß durch Leben, Tod und Auferste­hung Jesu Christi über ihre Zukunft bereits definitiv, und zwar definitiv zu ihren Gunsten entschieden ist. Der Richter, der erwartet wurde, war der Retter. Seine Ankunft wurde deshalb erhofft. Und mit seiner Ankunft wurde die eigene Zukunft als eine erfreuliche Zeit ewigen Lebens erhofft.

Daß jene Ankunft und damit die eigene endgültige Zukunft auf sich warten ließ und bis heute auf sich warten läßt, stellte die junge Chri­stenheit vor nicht geringe Probleme und sollte eigentlich keinen Chri­stenmenschen ganz unberührt las­sen. Ganz selbstverständlich ist es ja nicht, daß statt des Himmel­reiches — die Kirche gekommen ist (Loisy). Der Unterschied war sogar einem Apostel schmerzlich bewußt (Phil 1,23). Aber die Einstellung des Christen zur Zukunft wurde da­durch doch in einer Weise verar­beitet, daß es zu einer für die Menschheit höchst bedeutsamen Differenzierung im Begriff der Zu­kunft gekommen ist. Es kam zur Unterscheidung einer letzten, Sinn und Bedeutung aller Geschichte enthüllenden Zukunft und der die­ser letzten Zukunft vorangehenden und stets in Gegenwart übergehen­den Zukunft. Da aber über die letzte Zukunft durch Jesus Christus bereits zugunsten des Menschen entschieden ist, wird der Mensch einerseits von der Aufgabe einer letzten Sinngebung entlastet, ande­rerseits aber zu einer Gestaltung der jeweils bevorstehenden Zukunft aufgefordert, die der in Jesus Christus bereits vollzogenen Sinn­gebung entspricht. Der Mensch hat also nicht die Aufgabe, well nicht die Möglichkeit, aus der Erde ein Himmelreich zu machen. Er soll aber mit der irdischen Zukunft der Erde so umgehen, daß wir im kom­menden Reich Gottes die von uns zu verantwortenden Reiche der Welt und unsere eigenen privaten Lebensbereiche wenigstens als mißglückte Analogien wiedererkennen können sollten. Und noch eine wei­tere Unterscheidung ist der Mensch­heit durch den christlichen Glauben zugemutet. Wenn auf eine letzte Zukunft für den Menschen zu hoffen statt vor ihr sich zu fürchten Grund besteht, dann nicht deshalb, weil der Mensch für diese Zukunft zu seinen Gunsten irgendetwas ge­leistet hätte. Jede menschliche Aktivität scheidet hier aus, wäre vielmehr allenfalls Grund zur Furcht. Letzte Zukunft gesteht Gott dem Menschen nicht wegen, son­dern trotz seiner Aktivitäten zu. Sie gilt nicht der Leistung des Men­schen, sondern dem Menschen in Person. Der christliche Glaube mutet der Menschheit zu, die Per­son des Menschen von ihren Taten und Untaten zu unterscheiden. Der Mensch wir also gerade von seiner Zukunft her zunächst einmal als Empfangender zum Menschen. Nicht das macht den Menschen zur menschlichen Person, daß er für oder gegen Andere — oder auch für oder gegen sich selbst — tätig wird. Sondern zur menschlichen Person wird der Mensch dadurch, daß er sich selber empfängt, daß ich einen Anderen für mich da sein lasse. Eine kreative Passivität im Blick auf das Letzte ist die Bedingung der Möglichkeit für freie Aktivitäten zu­gunsten der Zukunft. Ohne solche kreative Passivität gerät alle Aktivi­tät für die Zukunft zum Krampf, geraten auch alle moralischen Akti­vitäten zu einem unerträglichen moralischen Krampf. Dergleichen Krampf läßt sich auf die Kurzformel bringen: Ich hoffe auf mich. Der christliche Glaube bekennt dage­gen: Wir hoffen auf Gott. Auf den Gott nämlich, der mit der Auf­erweckung Jesu von den Toten das die Welt bestimmende Gefälle vom Leben zum Tod umgekehrt hat. Die christliche Hoffnung erwartet den Sieg des Lebens über den Tod als Sieg der Liebe Gottes, die sich gegen alle den Tod begünstigen­den Taten durchsetzen wird.

Die notwendig gewordenen theo­logischen Differenzierungen im Be­griff Zukunft, von Dietrich Bon­hoeffer durch die Unterscheidung von Letztem und Vorletztem hin­reichend klar auf den Begriff ge­bracht, haben politische Relevanz. Wie diese politische Relevanz im [6] Blick auf die Theologie selber zu bestimmen ist, das ist jedoch um­stritten, heute heftiger denn je. Führt die politische Relevanz theo­logischer Differenzierungen im Be­griff Zukunft zur Notwendigkeit von so etwas wie einer politischen Theologie? Ich behaupte das Ge­genteil. Und ich will zu zeigen ver­suchen, daß gerade die politische Relevanz der christlichen Einstel­lung zur Zukunft jede Form von politischer Theologie unmöglich macht.

Die eigentliche politische Relevanz des Theologischen

Zunächst darf daran erinnert wer­den, daß der Begriff der politischen Theologie ebenso wie der einer mythischen Theologie und einer natürlichen Theologie — ja der Be­griff Theologie überhaupt — vor­christlichen, heidnischen Ursprungs ist. In der neueren Zeit hat der Staatsrechtslehrer Carl Schmitt eine auf den Traditionen des Christen­tums aufbauende politische Theo­logie um der Gesellschaft willen gefordert, und zwar in ausgespro­chen konservativer Absicht. Die evangelische Theologie der Beken­nenden Kirche hat dem de facto in Theorie und Praxis widersprochen. Dieser Widerspruch selber war allerdings ein Politikum von Rang. Doch eben das wird seitdem in zunehmendem Maße verwirrt. In neuester Zeit wird wiederum die Forderung nach politischer Theo­logie erhoben, wenn nun auch in ausgesprochen revolutionärer Ab­sicht. Der Unterschied zwischen „rechts“ und „links“ ist jedoch in diesem Fall so groß nicht. In bei­den Fällen nämlich — das ist jeden­falls meine These —nehmen sowohl Theologie als auch Politik schweren Schaden. Und das deshalb, weil die eigentliche politische Relevanz des Theologischen dabei verkannt wird. Es kann und soll also nicht darum gehen, Theologie auf eine Funktion im Seelenwinkel zu beschränken. Das Christentum war von Anfang an öffentlich. Und mit seinem Öffentlichkeitsanspruch würde zu­gleich der christliche Glaube selber vergehen. Denn der Glaube prokla­miert den in Jesus Christus Mensch gewordenen Gott als eine res publica.

Als eine res publica wird also auch die Gewißheit einer zugunsten des Menschen entschiedenen Zu­kunft proklamiert. Der Christ hat keine Hoffnung für sich selbst, die nicht erst recht Hoffnung für alle ist. Es ist nun aber von entschei­dender Bedeutung, daß bereits diese Hoffnung auf einen — alt­modisch formuliert — gnädigen Gott und auf die von ihm allein heraufzuführende letzte Zukunft das eigentlich Politische am christ­lichen Glauben und seiner Hoffnung ist. Das ist das eigentliche Politi­kum, das der christliche Glaube darstellt: daß weder der Mensch noch der Tod über den Ausgang der Weltgeschichte und über das Schicksal jedweden Menschen­lebens in ihr entscheidet, daß dar­über vielmehr bereits in Jesus Christus entschieden ist, und zwar eben zugunsten des Menschen ent­schieden ist. Das ist das eigentliche Politikum, das die christliche Hoff­nung darstellt: daß der Mensch von der Notwendigkeit, einen letzten Sinn suchen oder konstruieren zu müssen, heilsam entlastet ist. Das ist das eigentliche Politikum, das die christliche Liebe darstellt: daß sie in der Gewißheit der Liebe Gottes die Phantasie freisetzt, die es erlaubt, in jedem Menschen, auch und gerade im mit Grund ver­achteten Menschen, also auch im Verbrecher einen Sünder zu erken­nen, der um Christi willen gerecht­fertigt zu werden vermag und dem deshalb um seiner selbst willen geholfen zu werden verdient. Theo­logie wird also nicht erst politisch — und schon gar nicht dadurch, daß sie parteipolitisch wird —, sie ist es immer schon, wenn sie bei ihrer ureigenen Sache ist. Der christliche Glaube ist in seinem Zentrum poli­tisch, er ist es, wenn er sich zum Gekreuzigten als Herrn der Welt bekennt und in seinem Namen die Rechtfertigung des Sünders ver­kündigt.

Es war ja denn auch ein Politi­kum allerersten Ranges, als die junge Christenheit mit ihrem Glau­ben an den dreieinigen Gott der Vergöttlichung politischer Institu­tionen widersprach und diesen Widerspruch mit ihrem Leiden be­siegelte. Es war und ist ein Politi­kum allerersten Ranges, wenn die Kirche notorischen Sündern im Namen Gottes Vergebung aller ihrer Sünden anbietet. (Wenn ich ein halbwegs intelligenter Atheist und ein halbwegs moralisch den­kender Diktator wäre — ich bin Gott sei Dank beides nicht —, würde ich dergleichen bei Androhung strengster Strafe verbieten.) Es gibt Gegenden in dieser Welt, in denen es jeder erleben kann, „daß der christliche Gottesdienst als solcher, auch wenn kein unmittelbares poli­tisches Wort darin laut wird, ein Politikum ersten Ranges ist … Hat man einmal Gelegenheit, unmittel­bar aus einer politischen Kultver­sammlung in einen schlichten christ­lichen Gottesdienst zu gehen …, so kann einem etwas davon auf­gehen, was es heißt, in eine Atmo­sphäre der Freiheit versetzt zu sein“ (Ebeling).

Der verhängnisvolle Irrtum handlungsorientierter politischer Theologie

Die politische Relevanz der Theo­logie besteht also primär und grundlegend darin, daß die Theo­logie bei ihrer Sache, daß sie theo­logisch bleibt. Die politische Rele­vanz der christlichen Hoffnung zeigt sich primär und grundlegend be­reits da, wo es noch keineswegs um die Frage geht, was wir zu tun haben. Vor allem Tätigwerden, vor allem Handeln ist der Glaube be­reits darin politisch, daß er den Menschen als eine von ihren Taten — und von der unbestreitbaren Notwendigkeit, dem Zwang zum Tätigwerden — unterscheidbare Person ernst nimmt. Daß der Mensch mehr ist als die Summe seiner Handlungen und Unterlas­sungen — das Ist die unmittelbare politische Relevanz der Hoffnung auf eine allein von Gott machbare Zukunft. Das wird dann auch Folgen für das menschliche Handeln haben, ganz entscheidende Folgen sogar. Aber es gehört zu den verhängnis­vollen Irrtümern vieler — nicht aller! — neuerer Varianten politi­scher Theologie, daß sie die poli-[7]tische Dimension des Glaubens erst da beginnen läßt, wo die Hoff­nung sich zur Tat entschließt und die Rede von Gott zur Handlungs­anweisung fortschreitet. Es gehört zu den verhängnisvollsten Irrtümern der Neuzeit und vor allem der neu­esten Theologie, daß der Mensch erst in seinen Taten konkret sei. Ich setze dem die These entgegen, daß zumindest die Theologie theo­logisch und politisch verkommt, wenn sie erst in der Dimension der Taten politisch wird und deshalb so schnell wie möglich zum Handeln überzugehen habe. Die Theologie würde dann in dem Maße politisch, in dem sie aufhörte, theologisch zu sein. Und die Predigt würde dann in dem Maße politisch, in dem sie aufhörte, erbaulich zu sein. Natür­lich gibt es schreckliche For­men christlicher „Erbaulichkeit“. Schrecklich sind dergleichen Vor­gänge aber vor allem deshalb, weil sie gerade nicht bauen, weil sie keinen Menschen bauen, aufbauen, weil sie ihn vielmehr erschlaffen lassen. Wahre Auferbauung ist nicht zuletzt die geistliche Arbeit am Aufbau des Menschen als eines zoon politikon (politischen Wesens). Politische Theologie hingegen, die diese geistliche Arbeit überspringt oder gar verachtet, um unmittelbar weltpolitisch tätig zu werden, macht Theologie überhaupt überflüssig. Und was politisch dabei heraus­kommt, ist denn in der Regel auch nichts anderes als eine pseudo­politische Theorie, die mit Hilfe pseudopolitischer Kategorien eine — und das ist das Schlimme daran — pseudopolitische Praxis erzeugt.

Am Ende dieser prinzipiellen Zwischenüberlegung soll nunmehr versucht werden, wenigstens anzu­deuten, worin die politische Rele­vanz der genuin theologischen Unterscheidung zwischen einer von uns selbst nicht zu besorgenden letzten Zukunft, auf die der Christ hoffend unmittelbar bezogen ist, einerseits und einer als Folge unserer Handlungen und Versäum­nisse sich gestaltenden Zukunft andererseits eigentlich besteht. Theologisch stellt sich die aus jener Unterscheidung resultierende poli­tische Relevanz m. E. vor allem als die Aufgabe dar, zwischen Glauben und Aberglauben zu unterscheiden. Denn nirgends gedeiht der Aber­glaube mehr als im Umgang mit der Zukunft und im Mißbrauch menschlicher Hoffnung.

Aberglaube als die unmögliche Möglichkeit menschlicher Zukunft und Hoffnung

Aberglaube und Mißbrauch der christlichen Hoffnung wäre es zwei­fellos, wenn man aus der Gewiß­heit einer allein von Gott zu besor­genden und in Jesus Christus bereits besorgten Zukunft folgern wollte, daß die Arbeit für einen Fortschritt in bessere Zeiten überflüssig oder gar sinnlos sei. Es ist genau um­gekehrt. Die Gelassenheit, die sich dessen bewußt ist, daß der Mensch für sein ewiges Heil schlechterdings nichts tun kann und auch nichts zu tun braucht, diese Gelassenheit ist die kreative Prämisse für eine Frei­setzung angespanntester Tätigkeit zum Wohle der Welt. Wo erfahren wird, daß Gott für das Heil des Menschen alles getan hat, da kann man für das Wohl des Menschen gar nicht genug tun. In diesem Sinne ermutigt der Glaube zur Arbeit für einen Fortschritt in bes­sere Zeiten. Gerade weil er dem Aberglauben wehrt, der Mensch könne so etwas wie einen absolu­ten Fortschritt, so etwas wie einen qualitativen Sprung In eine kon­fliktfreie Gesellschaft bewirken, gerade deshalb hat der Glaube die Kraft, in der Gegenwart Potenzen für die Zukunft so freizusetzen, daß man, statt von ihr das Schlimmste befürchten zu müssen, auf sie eben­falls hoffen darf. Es besteht Grund zur Hoffnung für unsere Arbeit an der weltlichen Zukunft. Fortschritt wäre ohne diese Hoffnung zu defi­nieren als eine Verringerung von Übeln in einer unendlichen Reihe von Übeln. Das ist auch etwas. Jede Verringerung von Übeln tut wohl — auch wenn die Reihe der Übel unendlich ist. Und die Politik wäre die schlechteste nicht, die — statt eine von Übeln freie Zukunft in Aussicht zu stellen — sich in aller Nüchternheit darauf konzentriert, in einer unendlichen Reihe von Übeln derer soviel wie möglich zu beseitigen. Doch der christliche Glaube setzt, weil er des göttlichen Endes der Reihe von Übeln gewiß ist, nun doch auch Hoffnung frei für ein politisches Handeln, das nicht nur in Reaktionen auf Übel- und Notstände besteht. Der christliche Glaube gibt dem politischen Han­deln für die Zukunft durchaus kon­struktive und konzeptionelle Grund­züge. Diese in ein politisches Pro­gramm zu überführen, kann aber nicht mehr Aufgabe der Theologie, muß vielmehr Aufgabe des poli­tischen Geschäfts selber sein. Die Theologie formuliert Zumutungen, mehr nicht.

In schöpferischer Nüchternheit Zukunft verantworten

Ihre fundamentalste Zumutung ist die Ermutigung zu schöpfe­rischer Nüchternheit. Nüchternheit und Kreativität sollten im Politi­schen nicht auseinanderfallen. Bei­des ist gleichermaßen notwendig, insbesondere beim Umgang mit der Zukunft. Nach dem Möglichen suchend, gilt es schöpferisch zu sein. Das auch in Zukunft Unmög­liche zu erkennen, bedarf es unge­wöhnlicher Nüchternheit. Und von dieser Nüchternheit wiederum den Blick für das gerade noch Mögliche sich nicht verstellen zu lassen — da wäre in christlicher Verantwor­tung die Kunst des Möglichen.

Gewiß, der Mensch schafft kei­nen Himmel auf Erden. Aber der sinnvolle Gegensatz zum Himmel auf Erden ist keinesfalls die Hölle auf Erden, obwohl wir de facto nicht wenig tun, um sie heraufzu­beschwören. Der Glaube ermutigt dazu, sich die Erde so untertan zu machen, daß die Hölle auf Erden statt immer wahrscheinlicher immer unmöglicher wird. Insofern müßte der Glaube eine Art Exorzismus in Gang setzen, eine Art Dämonen­austreibung durch Wahrnehmung politischer Verantwortung. Um Dä­monen zu erkennen, muß man aber schon mehr als nur sie erkannt haben. Nur von einem kommenden Besseren her läßt sich das Schlechte bekämpfen. Von einem kommenden Besseren her gilt es, die Entdämonisierung des die Gegenwart bestimmenden Zukünf­tigen zu wagen. Der christliche Glaube hat der Dämonisierung des Zukünftigen deshalb schöpferische Vernunft entgegenzusetzen. Nicht nur reagierend oder gar resignie­rend, sondern auf den Fortschritt im Möglichen bedacht gibt sich der Glaube selber den kategorischen Imperativ, jederzeit und überall dem Aberglauben durch Vernunft zu begegnen. Und indem die Theo­logie der Politik schöpferische [8] Nüchternheit zumutet, mutet sie ihr zu, sich denselben kategorischen Imperativ zu geben. Ich will an einigen Beispielen klar zu machen versuchen, wie das aussieht.

Wissenschaftlich verkleideter Aberglaube

Aberglaube im Sinne eines un­verantwortlichen Umgangs mit der Zukunft kann auch theologisch und wissenschaftlich drapiert auftreten. Wir sind heute vor allem mit dem solchermaßen akademisch drapier­ten Aberglauben konfrontiert. Er bleibt gleichwohl Aberglaube.

Aberglaube in diesem Sinn ist die theologische Begründung der Notwendigkeit von Klassenkämpfen in der Bundesrepublik. Was hier scheinbar theologisch begründet wird, ist in Wahrheit nichts anderes als eine Marotte verbürgerlichten politischen Köhlerglaubens, eines Köhlerglaubens freilich mit gefähr­lichen Implikationen. Es wird aber, wer solchen Aberglauben durch­schaut, gerade nicht verkennen, daß es zur Aufgabe politischer Ver­nunft gehört, die unbestreitbaren Klassengegensätze in anderen Welt­gegenden und zwischen den Welt­gegenden selbst abzubauen. Was hier möglich geworden Ist, sollte woanders nicht unmöglich sein und mit Hilfe unserer eigenen Anstren­gungen möglich werden. Ich be­zweifele sogar, daß wir unsererseits dafür Opfer bringen müssen. Denn eine im Interesse der Selbsterhal­tung vollzogene Selbstbegrenzung ist kein Opfer, sondern der ange­messene Einsatz für einen dem Ganzen zugute kommenden Ge­winn. — Die Verneinung von Klas­senkampftheorien verdient also nur dann, eine wirksame Bekämpfung von politischem Aberglauben ge­nannt zu werden, wenn sie sich nicht in der Negation erschöpft.

Das gilt auch für die Bekämpfung des wissenschaftlich drapierten Aberglaubens, der in der Form sich endlos steigernder Naturausbeu­tung immer klarer durchschaut wird. Man ist sich heute darüber einig, daß dem technisch immer mäch­tiger werdenden Verstand Vernunft entgegenzusetzen ist. Aber auch in dieser Hinsicht ist es mit bloßer Negation nicht getan. Und die heute im Zusammenhang der öko­logischen Krise vielfach zu hörende Forderung, der biblische Auftrag an den Menschen, sich die Erde unter­tan zu machen und über sie zu herrschen (1. Mose 1,28), müsse angesichts seiner bedrohlichen Fol­gen zurückgenommen werden, die Forderung mithin nach Beendigung von Herrschaft überhaupt, ist im Grunde nur eine andere Variante desselben Aberglaubens. Die neuer­dings in diesem Zusammenhang immer stärker werdende Anregung, einer neuen Naturfrömmigkeit den Boden zu bereiten, spricht für sich. Dergleichen Anregungen und For­derungen sind Produkte eines aus Resignation geborenen Aberglau­bens, der nicht so sehr Opium für’s Volk als vielmehr Opium für die Intelligenz ist. Es gibt keinen Weg zurück von der Unterwerfung der Natur unter die Macht des Men­schen zur Unterwerfung des Men­schen unter die Macht der Natur. Wohl aber gibt es die Möglichkeit einer weiterführenden Besinnung auf das Wesen von Herrschaft. Der christliche Glaube bietet ein Ver­ständnis von Herrschaft an, das es verbietet, Herrschaft mit Ausbeu­tung gleichzusetzen.

Das gilt zunächst grundlegend für den zwischenmenschlichen Be­reich. Der so einleuchtende aristotelische Satz Wo ein Herr ist, da muß notwendig ein Sklave sein ist außer Kraft gesetzt worden durch die Tatsache, daß dem neutestamentlichen Bekenntnis Herr ist Jesus das Selbstbekenntnis erfah­rener Befreiung entspricht. Wo Gott der Herr ist, gibt es keine Knechte, gibt es nur Befreiung von Knecht­schaft. Gleichwohl bleibt Gott der Herr: der Herr von Freien. Und sein Herrsein erweist er eben darin, daß er den Menschen seinerseits — mit Luther formuliert —zu einem „freien Herrn aller Dinge“ macht, der „nie­mandem untertan“ ist. „Ein dienst­barer Knecht aller Dinge und jeder­mann untertan“ ist der Christ nicht im Gegensatz zu seinem Herrsein, sondern in Ausübung seines Herrseins — so wie Gott der Herr seine Hoheit gerade darin bestätigte, daß er zugunsten der von ihm Be­herrschten „sich selbst erniedrigte“ (Phil 2,6—8). Herrschaft bewährt sich nach christlichem Verständnis in der Freiheit zum Dienst. Das gilt bis in den ökonomischen Bereich hinein, wie eine von Luther wäh­rend einer Tischrede bekanntgege­bene „oeconomiae regula“ schön zeigt: „Der Herr muß selber sein der Knecht, will er’s im Hause fin­den recht.“ Herrschaft impliziert also einen Anspruch an den Herr­schenden, der es verhindern sollte, Herrschaft mit Ausbeutung iden­tisch zu setzen. Es kann, aber es muß nicht so sein. Der Mißbrauch von Herrschaft sollte deshalb nicht durch Verzicht auf Herrschaft be­kämpft werden. Ich halte deshalb auch die Forderung nach herr­schaftsfreien Räumen für abwegig. Der Verzicht auf Herrschaft zugun­sten herrschaftsfreier Räume schafft allenfalls Freiräume für eine unkon­trollierte Potenzierung von Herr­schaft und Herrschaftsmißbrauch — wie ja schon im individuellen Le­bensbereich der Verzicht auf Selbst­beherrschung noch keinen freien Menschen macht, sondern eher einen sich selbst hemmungslos unterworfenen Despoten.

Vom Weltimperium zum Weltdominium

Auch in ökologischer Hinsicht kann man nicht durch Destruktion der Herrschaft instrumenteller Ver­nunft über die Natur zurück zur Natur gelangen. Das dominium terrae bleibt dem Menschen viel­mehr auch dann aufgegeben, wenn der Segen der Herrschaft über die Natur sich zum Fluch zu verkehren scheint. Es gilt vielmehr, die der­zeitige Krise als den Fluch einer guten Tat zu erkennen, dem man nur durch eine Intensivierung der guten Tat der Herrschaft entrinnen kann. Dazu wird allerdings gehören müssen, die Herrschaft über die Erde so auszuüben, daß der Mensch die Herrschaft selber zu beherr­schen lernt. Das scheint mir die dringlichste politische Zumutung im Blick auf die Zukunft zu sein: Wir müssen es lernen, das Herrschen zu beherrschen. Die Alternative zur Destruktion von Herrschaft ist, soll die Zukunft uns nicht das Fürchten lehren, eine außerordentliche An­strengung der Menschheit zu glo­baler Selbstbeherrschung. Es bedarf der globalen Anstrengung, die Herr­schaft selber in ihrer Ausübung so beherrschen zu lernen, daß aus Imperium Dominium wird, aus einer als Selbstzweck sich vollziehenden [9] Gewalt eine sich zugunsten ihres Objektes ebenso wie zugunsten ihres Subjektes vollziehende Ge­walt. Der christliche Glaube mutet der politischen Verantwortung für die Zukunft dies zu: die Erde aus einem Weltimperium in ein Welt­dominium zu verwandeln, in dem alle Menschen gemeinsam „Herr im Haus“ zu sein vermögen.

Eine solche Verwandlung imperi­aler Herrschaft in die als dominium terrae zu vollziehende Herrschaft gehört freilich nur dann zur Kunst des Möglichen, wenn der Mensch selber dazu fähig wird. Es bedarf einer Bildung des menschlichen Geistes, die es ihm erlaubt, mit den Fortschritten, die er erzeugt, selber so Schritt zu halten, daß er Herr seiner Werke bleibt. Ich möchte deshalb noch auf eine Form bil­dungspolitischen Aberglaubens ein­gehen, die die Zukunft zumindest genau so elementar bedroht wie der sich um die ökologische Krise rankende Aberglauben. Ich be­schränke mich auf Probleme der deutschen Universität, und auch hier vor allem auf Probleme der sog. geisteswissenschaftlichen Fach­bereiche, die freilich symptomati­schen Charakter haben.

Verdummung im Namen der Intelligenz?

Die akademische Situation der deutschen Universität ist heute durch zwei gegenläufige Tendenzen bestimmt. Unter Studierenden häu­fen sich die Abwehrstellungen gegen das, was sie Leistungsdruck nennen. Es ist das die Folge einer Bildungspolitik, die — einem angeb­lichen Bildungsnotstand folgend — den Nachweis des Besuches einer Hochschule als eine Art Adels­ersatz ohne Adelsverpflichtung anzusehen schien. Überlaut kann man heute an den deutschen Universitäten, jedenfalls in den sog. Geisteswis­senschaften durchweg, die Forde­rung hören, daß die Lernmotivation über den Lehrinhalt (bis hin zu den Examina), nicht aber dieser über jene zu entscheiden habe. Der Pro­test gegen das sogenannte Lei­stungsdenken zugunsten eines gesellschaftlich ausgerichteten Stu­dierens mag zwar gegen ein bloßes Fachidiotentum immunisieren. Aber an dessen Stelle droht in zuneh­mendem Maße ein akademisches Vollidioten­tum zu treten, dessen Gemeingefährlichkeit deshalb gar nicht ernst genug eingeschätzt wer­den kann, weil sich aus der Menge der so Ausgebildeten schließlich die Gruppe der meinungsmachen­den und bewußtseinsbildenden Kräfte der Gesellschaft rekrutieren wird. Die Universität hat zwar immer auch Scharlatane ausgebil­det. Ihre derzeitige Struktur ver­führt sie jedoch dazu, dies mit Methode zu tun. Das Schlimme daran ist dies, daß man in der guten Absicht, möglichst jedem den Zugang zur Wissenschaft zu ermög­lichen und dadurch der Dummheit zu wehren, genau das Gegenteil erreicht. Die Universität ist nur eine Schule gegen die Dummheit, und zwar eine sehr komplizierte. Wird sie als die einzige angesehen, dann nimmt ihre Kompliziertheit in einer Weise Schaden, daß am Ende nicht etwa einfache Klugheit steht, son­dern Dummheit mit Methode. Ver­dummung ist schlimm. Verdummung im Namen der Intelligenz aber wäre chaotisch. Hochschulpolitik darf nicht dahin führen, daß ausgerech­net die Universität zur Urheberin eines solchen Chaos wird. Ich will hier kein Klagelied singen. Es gibt noch immer Lehrer und Forscher mit hinreichend guten Nerven, die sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten der Tendenz zur Verdummung im Namen der Intelligenz widersetzen, und zwar aus allen politischen Rich­tungen. Aber sie bedürfen der Unterstützung durch den Gesetz­geber, der den Mut haben sollte, im Eifer der — ich betone es: notwen­digen — Universitätsreform began­gene Fehler einzugestehen und zu korrigieren. Es gibt Beispiele dafür, daß das möglich ist.

Die gegenläufige Tendenz, die die deutsche Universität der Zu­kunft bedroht, Ist unschwer als ein Zwilling der zuvor genannten Be­drohung zu erkennen. Der studen­tische Protest gegen das sog. Fachidiotentum hat nämlich insoweit recht, als mit einer Ausbildung, die sich darin erschöpft, für jeden Fall von Praxis die dazugehörige Theo­rie zu liefern, zwar Zukunft machbar ist — aber was für eine Zukunft! Die Universität wird mehr und mehr zur Konstruktionswerkstatt für ge­nau die Theorien, die auf Praxis angewendet werden sollen. Wenn Wissenschaft aber nur noch nach dem Maß ihrer Anwendbarkeit interessant ist, dann werden wir mit Hilfe der Wissenschaft eine geistlose Zukunft machen. Es ist Aberglaube, daß man der Praxis nur durch theoretische Vorbereitung auf Praxis gerecht wird. Theorie, die sich darin erschöpfen muß, und Lehre, die nur Anwendbares und dann noch das Anwenden selbst lehren darf, bildet nicht Menschen, sondern verbildet Menschen zu homunculi. Die mögen dann zwar auf eine größtmögliche Zahl von Praxismodellen intellektuell dres­siert sein. Doch der Praxis des Lebens selber werden sie gerade nicht gewachsen sein. Denn „Vielwisserei lehrt nicht, Vernunft zu haben“ (Heraklit). In Wirklichkeit wird man der Praxis nur durch einen unverrechenbaren Überschuß an Geist gerecht. Dessen natür­licher Ort sollte die deutsche Uni­versität wieder werden.

Mehr Mut zur Wahrheit

Man kann das Problem, das ich deutlich machen will, auch etwas altmodischer formulieren: Es geht darum, ob dem menschlichen Geist die Frage nach der Wahrheit auch dann gestattet sein wird, wenn sie keinerlei meßbaren oder sonstwie publizierbaren Effekt hat. Heute entscheiden in deutschen Hoch­schulen Effizienz und Effekt weit­gehend über das, was der Anstren­gung des Geistes für wert befunden wird. Selbst meine eigene Wissen­schaft, die evangelische Theologie, die einst Weltruf hatte, weil sie in unbeirrbarer Strenge nach Wahrheit fragte, hat heute nur noch insofern Weltruf, als sie auf Kosten der Wahrheit nach Effekten schielt. Die Vernachlässigung der Wahrheits­frage zugunsten des praktischen Nutzens oder gar des publizisti­schen Effektes macht aber auf die Dauer jede Tätigkeit des Geistes trivial und provinziell. Die Universi­täten sind von der Gefahr bedroht, dem Provinziellen zu globaler Gel­tung zu verhelfen. Soll, das wird sich jeder für die Bildung des Men­schen Verantwortliche fragen müs­sen, soll die globale Provinzialisierung des Geistes unsere Zukunft sein? Wer es vermeiden will, der wird die Zukunft noch einmal als ein Abenteuer mit der Wahrheit [10] wagen müssen. Arbeit allein um der Wahrheit willen ist freilich ein Luxus. Aber ohne diesen Luxus wird selbst der Fortschritt in die Freiheit unmenschlich sein. Die Wahrheit wird uns frei machen. Mehr Mut zur Wahrheit sollte des­halb für Theorie und Praxis die Forderung sein, mit der wir uns auf die Zukunft einstellen. Wir brauchen für die Theorie den Mut, uns die Zeit zu gönnen, nach Wahrheit zu suchen. Und wir brauchen für die Praxis den Mut, zu keiner Zeit mit der Wahrheit hinter dem Berge zu halten. Mit der Wahrheit schließt man keine Kompromisse. Wo es dennoch geschieht, gehört die Zu­kunft dem Aberglauben.

Die „Zumutungen“ des Evangeliums

Lassen Sie mich zum Schluß von der Abwehr des Aberglaubens noch einmal auf den Glauben selber zurückkommen: auf eine Wahrheit des Glaubens, die im Zusammen­hang mit der um die evangelische Kirche in Berlin entstandenen Er­regung vor dem Evangelischen Arbeitskreis der CDU/CSU auszu­sprechen ich für unerläßlich halte. Die politische Erregung, die da entstanden ist, hat vielerlei Gründe, die keineswegs einfach in Berlin zu lokalisieren sind. Die evangelische Theologie wird sich sehr genau zu prüfen haben, ob sie gut daran getan hat, mit dem Begriff der Revolution so großzügig umzuge­hen, wie es in den letzten Jahren geschehen ist. Sie wird sich aber vor allem zu prüfen haben, ob sie die politische Dimension der Theo­logie nicht in eine theologische Dimension des Politischen zu ver­kehren im Begriffe ist und dadurch selber dem Aberglauben Tür und Tor öffnet. Die Zukunft des Ver­hältnisses von Politik und Theo­logie, Gesellschaft und Kirche, wird nicht zuletzt davon abhängen, ob es gelingt, die weltliche Funktion des geistlichen Auftrages der Kirche richtig zu bestimmen. Dazu bedarf es einiger Geduld und auch einiger — Aufklärung. Der große konservative Rechtsgelehrte Cari Schmitt hat neuerdings noch einmal für eine christliche politische Theo­logie geltend gemacht, daß es keine säuberliche „Trennung von rein-Theologisch und unrein-Poli­tisch“ gebe. Die „Wirklichkeit des konkreten geschichtlichen Gesche­hens“ sei vielmehr immer eine „Geistlich-Weltlich gemischte Wirk­lichkeit“. Die Behauptung ist nicht gut zu bestreiten. Und so ist es denn auch nicht gut zu bestreiten, daß der Mensch niemals abstrakt vor Gott existiert, losgelöst aus sei­nen weltlichen Bezügen. In diesem Sinne wird man auch die am Anfang dieses Vortrags geltend gemachte anthropologische Unterscheidung zwischen dem Menschen als Person und dem Mensch als Täter seiner — ja auch auf ihn selbst zurückwir­kenden — Taten nicht abstrakt ver­stehen dürfen. Weltlich geurteilt ist der Zusammenhang zwischen der Person und ihren Taten unlösbar, weshalb ja eben auch die Person für ihre Taten zur Verantwortung gezogen wird. Der Mensch kann von sich aus diesem unlösbaren Zusammenhang nur durch Selbst­zerstörung entrinnen.

Doch der christliche Glaube steht und fällt mit der Vollmacht, den Menschen innerhalb dieses weltlich unlösbaren Zusammenhangs von Person und Tat im Namen Gottes so anzusprechen, daß er von seinen Taten geistlich unterscheidbar wird. Der christliche Glaube steht und fällt damit, daß er es wagt, in dem Täter die Person ernst zu nehmen. Das heißt Rechtfertigung des Sün­ders. Sie verbietet es, die beste Tat ebenso wie die schlimmste Tat mit dem Ich zu identifizieren, das sie tat. Wie es vor Gott eben des­halb keinen Ruhm gibt, weil Gott sich weigert, den Menschen mit sei­nen gelungenen Leistungen gleich­zusetzen, so verwehrt es Gott im negativen Fall, die unmenschliche Tat kategorial so auszuweiten, daß ihr Subjekt nur und ausschließlich unter sein unmenschliches Tun sub­sumiert wird. Der Glaube verbietet das selbst dann, wenn die betrof­fene Person selber sich so mit ihrem Tun identifiziert, daß sie darin aufzugehen wünscht. Der Glaube spricht den Menschen viel­mehr so an, daß er auch dann als eine von ihren Taten unterscheid­bare Person ernst zu nehmen ist, wenn er sich selber dafür unan­sprechbar macht. Die Person ist gegenüber ihren Taten ein Selbst­wert. Ihr gehört die letzte Zukunft. Und das gilt es bereits in der Gegenwart zu respektieren. Es war deshalb de facto die Realisierung einer Zumutung des christlichen Glaubens, als der Gesetzgeber die die Person vernichtende Todes­strafe abschaffte. Er hat damit die Einsicht respektiert, daß es in unse­rem Sprachgebrauch eigentlich nur die Kategorie der unmenschlichen Tat geben sollte. Die Kate­gorie des Unmenschen hingegen ist, theolo­gisch geurteilt, selber eine un­menschliche Kategorie. Erst so wird es ethisch überhaupt sinnvoll, eine Person für ihre Taten verant­wortlich zu machen. Einen „Un­menschen“ für unmenschliche Ta­ten zur Verantwortung zu ziehen, ist sinnlos. Einen Menschen hin­gegen muß man, wenn anders man ihn menschlich ernst nimmt, für unmenschliche Taten zur Verant­wortung ziehen. Es gibt deshalb auch keine ethisch überzeugendere Verurteilung des Terrors, der Leben zerstört, als der Schutz des Lebens jeder Person, auch der des Terro­risten.

Die Eigenständigkeit theologischer Verantwortung der Welt

Auch das ist eine Zumutung des Evangeliums an den Gesetzgeber. Inwieweit der Staat sie erträgt, re­spektiert oder gar verwirklicht, hat er selbst zu entscheiden. Die christ­liche Kirche aber wird niemals zögern dürfen, solche Zumutungen auszusprechen und da zu verwirk­lichen, wo es ihres Amtes ist. Sie macht sich nicht zur Sympathisan­tin von Terroristen, wenn sie auch ihnen gegenüber ihres Amtes wal­tet. Sie plädiert damit auch keines­wegs für eine „Theologie der Revo­lution“ oder dergleichen. Ich habe die „Theologie der Revolution“ immer für den Ausdruck einer theo­logischen Intelligenzkrise gehalten, die gerade, weil sie eine pseudo­politische Praxis intendiert, in ihren Folgen gefährlich werden kann. Gefährlich vor allem, weil solche Theorien notwendig mit ihrer eige­nen Folgenlosigkeit konfrontiert werden, und aus der Erfahrung solcher frustrierenden Konfronta­tion mit der Folgenlosigkeit einer doch so sehr auf praktische Folgen bedachten Theorie nur gar zu leicht die nicht mehr zu verantwortende Tat entsteht. Dies ausdrücklich In Erinnerung gerufen, muß nun aber [11] erst recht von dem geistlichen Recht der Kirche die Rede sein, Menschen inmitten ihrer selbstverschuldeten Schande und ihres selbstverschul­deten Elends auf den weltlich un­lösbaren Zusammenhang mit ihren schrecklichen Taten so anzuspre­chen, daß auch die für solche Taten verantwortliche Person ein von ihren Taten unterscheid barer Selbst­wert bleibt oder allererst wieder wird. Dem Bischof einer die Recht­fertigung des Sünders verkündigen­den Kirche die Ausübung dieses geistlichen Rechtes zum Vorwurf zu machen heißt: ihn zu geistlicher Pflichtverletzung zu verführen. Das mag tagespolitisch wirksam sein. Aber solche Wirksamkeit ist auch in diesem Fall nicht das Kriterium der Wahrheit.

Es kommt also darauf an, inmit­ten der immer nur geistlich-welt- lieh gemischten Wirklichkeit das Geistliche am Weltlichen so zur Sprache zu bringen, daß es unmög­lich werden sollte, sich selbst oder irgendeinen anderen Menschen als einen hoffnungslosen Fall aufzu­geben. Es kommt darauf an, zwi­schen Politik und Theologie so zu unterscheiden, daß das Evange­lium als Zumutung für die Gesetz­gebung und Praktizierung des Ge­setzes dringlich wird, ohne daß das Evangelium selber dabei zum Ge­setz wird. Die geistlich-weltlich gemischte Wirklichkeit braucht bei­des: Sie braucht weltliche und geistliche Pflege, wenn sie Zukunft und wir in ihr Hoffnung haben sollen. Auch die geistlich-weltlich gemischte Wirklichkeit hat ihre Schätze nur in irdenen Gefäßen, die doppelter Pflege bedürftig sind. Wir können es uns nicht leisten, die geistliche Verantwortung für den Menschen durch politische Verant­wortung für den Menschen zu er­setzen. Wir können uns auch das Umgekehrte nicht leisten. Wir kön­nen uns nicht einmal die Bezie­hungslosigkeit zwischen theolo­gischer und politischer Weltverant­wortung leisten. Theologie und Politik haben aber, wenn sie sich aufeinander beziehen, gerade auf ihre je eigene und eigenständige Verantwortung bedacht zu sein, um so der Welt zweifache Pflege ange­deihen zu lassen. Die Welt braucht die doppelte, die weltliche und die geistliche Pflege. Denn — um es, wie es sich für den Abschied von einer Narrenrolle geziemt, mit einem sehr ernsten Satz aus einer Komödie zu sagen — „es sind, Euer Gnaden, die irdischen Dinge sehr gebrechlich“.

Vortrag gehalten auf der Jahrestagung des Evangelischen Arbeitskrieses (EAK) der CDU/CSU vom 6.-9. Dezember 1974. Zuerst abgedruckt unter dem Titel „Abstand des Glaubens von der Politik“ in: Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt (DAS), 28. Jahrgang, Nr. 1 vom 5. Januar 1975, S. 13-15.

Quelle: Evangelische Verantwortung. Meinungen und Informationen aus dem Evangelischen Arbeitskreis der CDU/CSU, Heft 1 (Januar), 1975, S. 3-11. Wieder abgedruckt in: Wolfgang Teichert (Hrsg.), Müssen Christen Sozialisten sein? Zwischen Glaube und Politik, Hamburg: Lutherisches Verlagshaus, 1976, S. 11–30.

Hier der Text als pdf.

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