Erich Kock über Hans Graf von Lehndorff, Chronist des „nüchternen Mundes“: „Einmal schrieb mir der Autor Lehndorff: ‚Wirklicher Glaube hat nichts mit menschlicher Vermutung zu tun. Er ist vielmehr ein Ergriffensein von der Gewissheit, dass Gott Mensch geworden und uns nahe gekommen ist; dass er die Macht des Todes gebrochen und damit den Weg freigemacht hat zu einem neuen Leben, einem Leben, das nicht erst mit dem Tode beginnt, sondern bereits jetzt aktuell ist für jeden, der es in Anspruch nimmt.’“

Chronist des „nüchternen Mundes. Über Hans Graf von Lehnsdorff (1910-1987)

Von Erich Kock

In seiner Nähe konnte sich keine Phrase halten. Er war nüchtern und klar. Sein Sinn für Komik war ausgeprägt, und Szenen unfreiwilligen Witzes zogen ihn an – Lehndorffs Kindheits- und Jugendschilderungen beweisen es. Er konnte hinreißend erzählen, und sein Buch Menschen, Pferde, weites Land ist eine Hinterlassenschaft exakter Erinnerungsfähig­keit. Hans Graf von Lehndorff fühlte sich in Menschen ein, suchte ihnen zu helfen und ver­stand auch heikle Seelen. Der Arzt Lehndorff, 33 Jahre lang als Chirurg tätig, hat das Ge­spräch mit den Kranken gesucht. Mehr noch: Er hat bewirken können, dass Krankenhäu­ser nicht zu „Reparaturwerkstätten“ verkamen. Und als ihm sein Alter die Ausübung sei­nes Berufes nicht mehr gestattete, kümmerte er sich nach Art eines Laienseelsorgers an Krankenbetten um die Menschen.

Hans Graf von Lehndorff hat einmal von seinem Lieblingsbruder Meinhard, der zehn Tage nach Beginn des Westfeldzuges bei Maubeuge fiel, geschrieben: „In seiner Gegenwart wurde die Welt weiter, der Himmel höher, die Streitobjekte verloren an Wichtigkeit, die Triebe schämten sich ihrer Gewalt.“ Diese Sätze geben etwas vom Wesen ihres Autors wie­der. Den Arzt und Schriftsteller Lehndorff umgab eine Aura der Lauterkeit – man kann ohne Zögern sagen: von männlicher Unschuld.

Von Hans Graf von Lehndorff kann man nicht sprechen, ohne davon zu reden, dass er ein Mann des Glaubens war. Der einunddreißigjährige Assistenzarzt am Kreiskrankenhaus in Insterburg kam gegen Ende des Jahres 1941 mit einer Gruppe evangelischer Laien in Berüh­rung. Sie hatten sich in einer Zeit wachsender politischer Bedrängnisse zusammengefun­den, um das letzte Buch der Bibel, die Offenbarung des Johannes, zu lesen. Bei dieser Gele­genheit traf Lehndorff einen Gymnasiallehrer, der die Heilige Schrift unerschrocken mit­ten in die Gegenwart des damaligen Geschichtsaugenblicks rückte. In seiner Veröffent­lichung Die Insterburger Jahre (1969) hat Lehndorff festgehalten, wie dieser Exeget ihn mit einer bis dahin fremden Wirklichkeit bekannt machte: „Ich saß vornübergebeugt, vergaß meine Umgebung und staunte über das, was aus diesem Menschen zu mir sprach.“ Ohne es zu ahnen, befand sich der Zuhörer unversehens in einer der Kernzellen der „Bekennen­den Kirche“. Von dort führten Wege in die evangelische Bekenntnistheologie und in den Widerstand.

Noch das letzte Buch von Lehndorff Lebensdank (1983) umschließt 110 Auslegungen von Bibeltexten aus dem Alten und Neuen Testament. Sie entstanden in einem Zeitraum von zwanzig Jahren; nicht wenige gingen aus Andachten in einer Krankenhausgemeinde her­vor. Einleitend heißt es dort: „Die Bibel zeigt uns, dass Gott uns ernst nimmt und uns be­gegnen will […]. Das heißt nicht, wir könnten uns durch Bibellesen und gute Werke die ewige Seligkeit erkaufen. Aber das Wort Gottes macht uns frei zur Entscheidung für Jesus Christus; und wenn wir [.] unser Leben auf ihn hin ausrichten, dann werden wir erfah­ren, was es heißt, gesegnet zu sein: nämlich Grund zu haben für Gotteslob und Dank.“ – Vielleicht ist auch deshalb jenes Buch, das den Autor Lehndorff mit Recht berühmt ge­macht hat – das Ostpreußische Tagebuch –, als unpathetischer Bericht entsetzlicher Heim­suchungen und Leiden ein Trostbuch geworden.

Die Wirkung des Tagebuchs (1961), ein Jahr vorher als unscheinbares Beiheft einer grö­ßeren Dokumentation des damaligen Bundesministeriums für Vertriebene in Bonn her­ausgekom­men, hält bis heute an. Warum? Es ist eine Chronik „nüchternen Mundes“, ein gelassenes und glaubwürdiges Zeugnis vom Geschehen vor und nach der Besetzung Ost­preußens. Lehndorff sagt, wie es gewesen ist, und seine erstaunliche Erinnerungskraft hilft ihm dabei. Doch der Autor lässt keinen Zweifel daran, welche Art von nationaler Hybris für die menschliche und politische Katastrophe mitverantwortlich war. Und so anschau­lich, lebendig und zuverlässig der Autor die Lebenssituation dieser Monate und Jahre auch zu schildern weiß – immer wieder durchdringt er den Vordergrund und schreibt sein Ka­pitel der Glaubensprüfung und des Lebensdankes nieder.

Als Ostpreußen besetzt wird, harrt der Chirurg Lehndorff bei Kranken und Verwundeten aus. Im Königsberger Reservelazarett arbeiten damals die noch verbliebenen Ärzte und Pflegekräfte buchstäblich bis zum Umfallen. „Es kommt vor, dass ich hintereinander zehn Beine amputiere, die ich bis dahin erhalten zu können hoffte.“ Am 9. April 1945 befinden sich die russischen Truppen in Königsberg. Was Ärzte, Schwestern, Pflegepersonal und Kranke, unter ihnen zahllose Sterbende, von da an erleben, übersteigt jede Vorstellung: Vergewaltigungen, Plünderungen, Erschießungen, mutwillig angelegte Brände, verzwei­felte Selbsttötungen Tag für Tag und Nacht für Nacht. Auch Lehndorffs Assistenzärztin ist inzwischen das Opfer einer Vergewaltigung geworden, ohne dass er es hätte verhindern können.

Doch Lehndorffs Weg ist noch lange nicht zu Ende. Er gerät in einen Gefangenentreck, kann wieder entfliehen, wird nochmals eingefangen. Doch wieder lässt man ihn laufen, und er streift als Flüchtender durch das ins Elend geworfene und entstellte Ostpreußen wie ein später Gefährte des Odysseus. Was er auf solchen Fluchtwegen quer durch das be­setzte Land erlebt, wie er die überlebenden Verwandten findet, das ist höchst eindringlich geschildert.

Auf der Flucht nach Januschau erfährt Lehndorff den Tod seiner Mutter und seines ältes­ten Bruders – beide wurden im Januar 1945 von russischen Soldaten erschossen. Seine Mutter, Maria von Oldenburg-Januschau, eine noble, kluge, beherzte und kühne Person, hat vor ihrem gewaltsamen Tod Haft und Gestapo-Verhöre durchstanden. Der Vater (aus Graditz/Familien­sitz Steinort), Siegfried Graf von Lehndorff, Landstallmeister in Graditz und später Trakeh­nen, Springreiter und Pferdezüchter, überlebt den Krieg; er stirbt 1956 in Westdeutschland. Hans Lehndorffs Brüder Meinhard und Elhard erleiden den Soldaten­tod. Georg stirbt 1943 an einer Hirnblutung. Heinfried wird wie die Mutter bei der Beset­zung Ostpreußens ermordet. Der Vetter Heinrich von Lehndorff wird wegen seiner Zuge­hörigkeit zum Widerstand des 20. Juli 1944 am 4. September 1944 hingerichtet. Im Früh­jahr 1944 hat er Hans Graf von Lehndorff gebeten zu überdenken, ob er sich als Christ und vor seinem Gewissen aktiv an einem Attentat auf Hitler beteiligen könne. Lehndorff sagt zu. Die Umstände aber verhindern seine Beteiligung, und seine Zusage bleibt unentdeckt. Lehndorff liebt Heimat und Herkommen. Immer wieder kommt er auf seine Kindheit, seine Jugendzeit zu sprechen. In den 1980 erschienenen Erinnerungen Menschen, Pferde, wei­tes Land hat er das Leben auf den Gutssitzen und im Graditzer wie Trakehner Gestüt mit Jagden und Springturnieren, die tägliche Arbeit in den Ställen sowie den Alltag auf Kop­pel, im Wald und auf dem Feld bezaubernd vor Augen gestellt. Lehndorff überzeugt ebenso mit seinen Schilderungen der Studienjahre in Frankreich und der Schweiz, in Berlin und München.

Hans von Lehndorffs fast drei Monate vor ihm verstorbene Ehefrau Margarethe, geborene Gräfin Finck von Finckenstein, teilte nicht nur sein Leben – auch seine Vorlieben und Ge­danken. Aus der Ehe gingen zwei Kinder hervor. Seine Frau hat den zuletzt schwer Erkrank­ten bis zu ihrem unerwarteten Ableben gepflegt. Im Godesberger Haus der Familie in der Hensstraße lernte man auch Verwandte und Freunde kennen, unter ihnen eine Reihe von polnischen Intellektuellen und Künstlern. Hans Graf von Lehndorff pflegte vor dem Be­ginn eines gemeinsamen Essens aus seinem Herrnhuter Losungsbuch die Tageslosung vorzulesen. Hans und Margarethe von Lehndorff waren – ohne frömmlerisch zu wirken – ersichtlich Menschen des Gebetes.

Dem Autor von Lehndorff ging es nicht um schriftstellerische Brillanz. Vielleicht überzeu­gen seine Bücher gerade deshalb ihre vielen Leser. Dem Hause Lehndorff fehlte alles Üppige und Überflüssige. Auch Möbel und Bilder drückten aus, dass jeglicher Besitz etwas Vorläufiges ist. Auf Bücher – besonders auf die Luther-Bibel – und Gespräche schienen die Lehndorffs am wenigsten verzichten zu können.

Als ich im Frühjahr 1987 in die Hensstraße kam, konnte ich Margarethe und Hans von Lehn­dorff zum letzten Mal sehen und sprechen. Über diesem Tag lag eine deutliche Abschieds­ahnung. Der Autor versuchte das Tagesdatum in mein Exemplar des Ostpreußischen Tage­buchs zu schreiben; es gelang ihm nicht mehr. Am Freitag, dem 4. September 1987, ist der in Graditz, bei Torgau, am 13. April 1910 Geborene in seinem Godesberger Haus gestor­ben.

Der bekennende Christ Hans Graf von Lehndorff ist nicht nur ein klassischer Erzähler ge­we­sen; er lebte nicht allein für die Kranken, die Leidenden und Aus-der-Bahn-Geworfenen. Lehndorff focht auch gegen die Verdrängung des Todes aus dem Bewusstsein – et­was, das man bisweilen bei Ärzten und Schwestern erleben kann. Einmal schrieb mir der Autor Lehndorff: „Wirklicher Glaube hat nichts mit menschlicher Vermutung zu tun. Er ist vielmehr ein Ergriffensein von der Gewissheit, dass Gott Mensch geworden und uns nahe gekommen ist; dass er die Macht des Todes gebrochen und damit den Weg freigemacht hat zu einem neuen Leben, einem Leben, das nicht erst mit dem Tode beginnt, sondern bereits jetzt aktuell ist für jeden, der es in Anspruch nimmt.“

Quelle: Die politische Meinung. Monatsschrift zu Fragen der Zeit, 45. Jahrgang, Nr. 366, Mai 2000, S. 74-76.

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