Karl Barth, Die Gerechtigkeit Gottes (1916): „Es widerstrebt uns innerlich, dass die Gerechtigkeit, nach der wir lechzen, Gottes Sache ist, und nur von Gott her zu uns kommen kann. Wir würden ums Leben gern diese große Sache an die Hand und in Betrieb nehmen, wie wir so manches Andere in Betrieb haben. Es erscheint uns als höchst wünschenswert, dass die Gerechtigkeit, ohne die wir ja nicht sein können, einfach von unserm Willen ins Programm genommen werde, unbesehen, was das eigentlich für ein Wille sei. Wir nehmen uns ungefragt das Recht, die tumultuarische Frage: was sollen wir tun? aufzuwerfen, als ob das so wie so die erste und dringendste wäre. Nur möglichst schnell Hand angelegt an Reformen, Sanierungen, Methoden, Kultur- und Religionsbestrebungen von allen Sorten! Nur möglichst schnell ‚positive Arbeit‘ geleistet!“

Die Gerechtigkeit Gottes (1916)

Von Karl Barth

Es ist eine Stimme eines Predigers in der Wüste: Bereitet dem Herrn den Weg, macht auf dem Gefilde eine ebene Bahn unserm Gott! Alle Tale sollen erhöhet werden und alle Berge und Hügel sollen erniedrigt werden und was ungleich ist, soll eben und was höckericht ist, soll schlicht werden, denn die Herrlichkeit des Herrn soll offenbart werden! — Diese Stimme ist die Stimme un­seres Gewissens. Sie sagt uns, daß Gott gerecht ist. Die Gerechtig­keit Gottes ist keine Frage, kein Rätsel, kein Problem. Sie ist eine Tatsache. Die tiefste innerste sicherste Tatsache unseres Lebens. Denn es gibt nichts Sicheres als das, was das Gewissen uns zu wissen gibt. Aber das ist die Frage, wie wir uns zu dieser Tatsache stellen.

Du mußt nicht mit der rechnenden Vernunft an diese Tatsache Herangehen wollen. Die Vernunft sieht was klein und was größer, aber nicht das Große. Sie sieht das Vorläufige, aber nicht das Endgiltige, das Abgeleitete, aber nicht das Ursprüngliche, das Kom­plizierte, aber nicht das Einfache. Sie sieht, was menschlich, nicht aber was göttlich ist.

Du mußt dich nicht durch die Menschen über diese Tatsache belehren lassen wollen. Es kann ein Mensch dem Andern wohl das Wort sagen von der Gerechtigkeit Gottes. Es kann ein Mensch den Andern vielleicht zum Nachdenken über dieses Wort veranlassen. Es kann es aber kein Mensch dem andern zur eigenen, unmittelbaren, durchschlagenden Gewißheit machen, was hinter dem Worte steht. Wir Menschen müssen es erst wieder lernen, mit Vollmacht mitein­ander zu reden und nicht wie die Schriftgelehrten. Vorläufig sind wir Alle noch viel zu künstlich und unkindlich, als daß wir einander wirklich helfen könnten.

Du mußt das Gewissen reden lassen. Es redet dir schon von Gottes Gerechtigkeit und so, daß sie dir zur Gewißheit wird. Das Gewissen kann zwar bis zur fast völligen Lautlosigkeit beschwichtigt und zu Boden getreten, es kann bis zur Narrheit und bis zum Verbrechen irregeführt werden, immer bleibt es die Stelle, die einzige Stelle zwischen Himmel und Erde, an der uns Gottes Gerechtigkeit offenbar wird. Es unterbricht wie mit Posaunenschall aus einer andern Welt dein Nachdenken über dich selbst und über das Leben, deine Pflichterfüllung in Familie, Beruf und Staat, auch die Pflege deiner religiösen Gedanken und Gefühle. Es kommt mit seiner Botschaft über dich jetzt als bittere drängende Anklage, jetzt als ruhige feste Behauptung, jetzt als gebieterische Aufgabe für deinen Willen, jetzt als ein Hindernis, das dir ein unerbittliches Nein entgegensetzt, jetzt als Fluch und Verdammnis, die dich zu Boden drücken, jetzt als selige Freude, die dich über dich selbst und Alles, was ist, hinaushebt — aber im tiefsten Grunde immer im gleichen Sinne dich weckend und beunruhigend, in der gleichen Richtung dir Wege weisend. In allem Wechsel und Wandel deiner Erfahrungen bezeugt es dir, daß all dein Leben und Erfahren ein Ziel hat. In allem Hin und Her freudiger und schmerzlicher Empfindungen redet es dir von einem Sinn deines Daseins, der höher ist als die Freude und tiefer als der Schmerz. In allem Auf und Ab auch in der Wahrhaftigkeit, Stärke und Reinheit unseres Willens redet uns das Gewissen von einem Willen, der sich selbst treu bleibt. Und das ist die Gerech­tigkeit Gottes.

Wir freuen uns über Gerechtigkeit, da wo wir einen Willen wahrzunehmen meinen, der in sich selber klar und beständig, frei von Willkür und Wankelmut ist, einen Willen, der in sich selber eine Ord­nung hat, die gilt und nicht gebogen werden kann. Und nun sagt uns das Gewissen, daß das Letzte und Tiefste in Allem ein solcher Wille ist, daß Gott gerecht ist. Wir leben davon, daß wir das wissen. Wir vergessen es zwar sehr oft, wir gehen darüber hinweg, wir treten es mit Füßen. Und wir könnten es doch gar nicht aushalten im Leben, wenn wir das nicht wüßten im tiefsten Grund: Gott ist gerecht!

Denn wir leiden unter der Ungerechtigkeit. Es graut uns vor ihr. Alles in uns empört sich gegen sie. Wir wissen zwar mehr von ihr als von der Gerechtigkeit. Wir haben beständig, in den kleinen und großen Vorgängen des Lebens, in unserm eigenen Verhalten und in dem der Anderen und je schärfer wir zusehen, umso deutlicher, eine andere Art Willen vor uns, einen Willen, der keine giltige und unbeugbare Ordnung kennt, sondern der auf Willkür, Laune und Selbstsucht gegründet ist, einen Willen ohne Treue, in sich selbst uneinig und zerrissen, einen Willen ohne Logik und Zusammenhang. So sind Wir, so ist das Leben, so ist die Welt. Und die rechnende Vernunft will kommen und uns beweisen, daß es immer so gewesen sei und immer so sein müsse. Aber wir haben auch die Folgen dieses ungerechten Willens vor Augen. Sie heißen Unruhe, Unordnung, Unheil in feinern und gröbern, verhüllten und offenen Gestalten. Wir haben die Leidenschaft vor uns und das Verbrechen, die Teufe­leien der geschäftlichen Konkurrenz und den Völkerkrieg, den Klassen­gegensatz und die sittliche Verlotterung in allen Klassen, die öko­nomische Zwingherrschaft oben und den Sklavengeist unten. Wir können über diese Dinge wohl räsonnieren und schließlich uns selbst und Andern ganz gescheit beweisen, daß das alles seine notwendigen Gründe habe. Wir können uns einbilden, wir könnten sie damit inner­lich los werden. Wir kommen aber doch nicht um die einfache Tat­sache herum, daß wir darunter leiden. Wie eine schwere Last liegt das Alles auf uns und kann nicht ertragen werden. Es verteufelt uns das Leben ob wirs gelten lassen oder nicht. Wir leben im Schatten. Das Leben will uns zur Sinnlosigkeit werden durch den ungerechten Willen, der es erfüllt und beherrscht. Wir mögen uns zeitweilig darüber hinwegtäuschen. Wir mögen uns zeitweilig damit abfinden. Natürlich und selbstverständlich wird er uns nie. Denn der ungerechte Weltwille ist das von Haus asts Unerträgliche, das Unmögliche. Wir leben davon, daß wir wissen: es gibt eigentlich etwas Anderes als Ungerechtigkeit. — Und das ist die furchtbarste Angst, die uns manchmal erfaßt, es könnte am Ende doch die Ungerechtigkeit das letzte Wort haben. Der entsetzliche Gedanke legt sich uns nahe, es könnte der ungerechte Wille, der uns jetzt jagt und rädert, der einzige, der tiefste Wille im Leben sein. Und der unmögliche Entschluß tut sich auf: mach deinen Frieden mit der Ungerechtigkeit! Ergib dich drein, daß die Welt eine Hölle ist und richte dich danach! Es ist einmal so.

Und nun in diese Not und Angst mitten hinein, unbeirrbar und konsequent wie das Thema einer Bachischen Fuge die Ver­sicherung des Gewissens: nein, das ist nicht wahr! es gibt über deinem und meinem krummen und lahmen Willen, über dem absurden wahn­witzigen Weltwillen einen andern, der ist gerade und lauter und der muß, wenn er einmal zur Geltung kommt, auch andere, ganz andere Folgen haben als das, was uns jetzt vor Augen steht. Aus diesem Willen, wenn er zur Anerkennung kommt, muß ein anderes Leben wachsen. Aus diesem Willen, wenn er durchbricht, auferbaut sich eine neue Welt. Wo dieser Wille gilt, da ist unsere Heimat; wir haben sie verloren, aber wir können sie wieder finden. Es gibt einen Gotteswillen, der gerecht ist. — Und wie ein Ertrinkender sich an einen Strohhalm klammert, so streckt sich Alles in uns, was lebendig ist, aus nach dieser Versicherung, die uns das Gewissen gibt. Wir möchten doch diesem Andern, das da vor uns aufleuchtet, nicht unsicher gegenüberstehen, sondern mit Gewißheit. Wir möchten es nicht bloß ahnen als Hoffende und Wünschende, wir möchten es ruhig sehen, uns seiner freuen können. Wir möchten ihm nicht fern und fremd bleiben, sondern wir möchten es zu eigen haben. Aus der tiefsten Not in uns wird die tiefste Sehnsucht geboren: ach, daß du den Himmel zerrißest und führest herab! Das ist das Gewaltigste im Menschen, in jedem Menschen, wenn er bedrängt und bedrückt von eigener und fremder Ungerechtigkeit nach Gerechtigkeit, nach der Gerechtigkeit Gottes schreit. Wer ihn hier versteht, der versteht ihn ganz. Wer ihm hier die Hand reichen kann, der kann ihm helfen. Darum sind ein Mose, ein Jeremia, ein Johannes‘ der Täufer unvergeßliche Gestalten in der Erinnerung der Menschheit. Sie haben den Menschen ihre tiefste Not aufgedeckt, sie haben das Gewissen in ihnen zum Reden gebracht, sie haben die Sehnsucht nach der Gerechtigkeit Gottes in ihnen geweckt und wach gehalten. Sie haben dem Herrn den Weg bereitet.

* * *

Aber nun kommt eine merkwürdige Wendung in unsern Er­fahrungen mit der Gerechtigkeit Gottes. Die Posaune des Gewissens ist ertönt, wir fahren zusammen, wir fühlen uns heilig betroffen — aber zunächst denken wir gar nicht daran, uns aus unserer Not und Angst wirklich helfen zu lassen. Sondern nun geschieht etwas ganz Anderes. Sie sprachen zu einander: wohlauf laßt uns Ziegel streichen und brennen? wohlauf laßt uns eine Stadt und einen Turm bauen, dessen Spitze bis an den Himmel reiche, daß wir uns einen Namen machen! denn wir werden sonst zerstreut in alle Länder! — So helfen wir uns selber und bauen den Turm von Babel. O wir haben es sehr eilig, das stürmische Verlangen nach der Gerechtigkeit Gottes, das in uns ist, zu befriedigen. Und befriedigen heißt leider im Geheimen: zum Schweigen bringen. Es ist, als ob wir unser eigenes Schreien aus tiefster Not nicht lange ertragen könnten. Es ist, als ob wir uns fürchteten vor einer allzu realen und vollen Erfüllung unserer Sehnsucht. Das Gewissen redet, wir hören: es muß etwas gehen! aber wir lassen das Gewissen nicht zu Ende reden. Wir sind alarmiert worden, aber schlaftrunken stürmen wir davon, bevor wir gemerkt haben, um was es sich denn eigentlich handelt und was geschehen müßte, damit wirklich etwas geschehe. Wir stehen hier vor dem tiefsten, dem eigentlich tragischen Irrtum der Mensch­heit. Wir verlangen nach der Gerechtigkeit Gottes und wir lassen sie doch nicht herein in unser Leben, in unsere Welt, können sie nicht herein lassen, weil der Zugang längst verstopft ist. Wir wissen, was uns eigentlich not täte und doch wird uns nicht geholfen, denn wir haben da§ Eine Notwendige längst auf die Seite geschoben oder auf spätere „bessere Zeiten“ vertagt, um uns unterdessen mit Ersatz­mitteln trank und kränker zu machen. Wir gehen hin und erbauen den jämmerlichen Turm zu Babel unsrer Menschengerechtigkeiten, Men­schenwichtigkeiten, Menschenernsthaftigkeiten. Unsere Antwort auf den Ruf des Gewissens ist ein großes über das ganze Leben sich erstreckendes Surrogat, ein einziges gigantisches „Als ob“! Und weil und solange wir denken, reden und tun wollen „als ob“ — als ob es Ernst fei, als ob etwas geschehe, als ob wir etwas täten fm Gehorsam gegen das Gewissen — darum und solange entgeht uns die Realität der Gerechtigkeit, nach der wir hungern und dürsten.

Sollen wir’s Hochmut nennen, daß wir’s so machen? Es ist tatsächlich etwas von Hochmut dabei. Es widerstrebt uns innerlich, daß die Gerechtigkeit, nach der wir lechzen, Gottes Sache ist, und nur von Gott her zu uns kommen kann. Wir würden ums Leben gern diese große Sache an die Hand und in Betrieb nehmen, wie wir so manches Andere in Betrieb haben. Es erscheint uns als höchst wünschenswert, daß die Gerechtigkeit, ohne die wir ja nicht sein können, einfach von unserm Willen ins Programm genommen werde, un­besehen, was das eigentlich für ein Wille sei. Wir nehmen uns ungefragt das Recht, die tumultuarische Frage: was sollen wir tun? aufzuwerfen, als ob das so wie so die erste und dringendste wäre. Nur möglichst schnell Hand angelegt an Reformen, Sanierungen, Methoden, Kultur- und Religionsbestrebungen von allen Sorten! Nur möglichst schnell „positive Arbeit“ geleistet! Und siehe da, der Trompetenstoß des Gewissens hat eigentlich recht bald nichts Beun­ruhigendes mehr an sich. Die Angst, in der wir uns befanden ange­sichts des übermächtigen Weltwillens, verwandelt sich sachte in jenes beglückende Gefühl des Normalen, wenn wir wieder beim Reflektieren, Kritisieren, Konstruieren und Organisieren angelangt sind. Die Sehnsucht nach einer neuen Welt hat alle Bitterkeit, Schärfe und Unrast verloren, ist zur Fortschrittsfreude geworden und entladet sich sanft und sicher in Festreden, Donatorentafeln, Kommissionssitzungen, Rezensionen, Jahresberichten, 25jährigen Jubiläen und unzähligen gegenseitigen Verbeugungen. Die Gerechtigkeit Gottes selber hat sich aus der sichersten Tatsache gemächlich in das höchste von verschiedenes hohen Idealen verwandelt und ist nun allerdings ganz und gar unsre eigene Sache geworden. Das zeigt sich schon darin, wie wir dies Ideal jetzt fröhlich zum Fenster hinaushängen und jetzt wieder zu­sammenrollen können, etwa wie eine Schützensahne. Eritis sicut Deus! Ihr könnt tun, „als ob“ ihr Gott wäret, ihr könnt seine Gerechtigkeit ohne Mühe in eigenen Betrieb nehmen. Ja, das ist freilich Hochmut.

Man könnte es aber ebenso gut Verzagtheit nennen. Und es ist sonderbar, wie in unserm Verhältnis zu Gott diese beiden Gegensätze eigentlich immer beieinander sind. Wir habeu eben im Grunde Angst vor dem Strom der Gerechtigkeit Gottes, der in unser Leben und unsre Welt herein will. Der sichere Bürger fährt wohl Zu­sammen, wenn er von Tuberkulose, Generalstreik und Krieg hört, aber noch ganz anders peinlich ist es ihm, an die radikale Umkehrung des Lebens von Gott her zu denken, die kommen und solchen Folgen der Ungerechtigkeit mit der Ungerechtigkeit selbst ein Ende machen könnte. Der gleiche heitere Kulturmensch, der heute so mutig in seinem Fortschrittswägelein einherkutschiert und so fröhlich die Fähnlein seiner verschiedenen Ideale schwenkt, wird euch morgen, Wenns drauf ankäme, ängstlich daran erinnern, daß die Menschen klein und unvoll­kommen sind und daß man ja nicht zu viel von ihnen verlangen und erwarten, ja nicht zu „einseitig“ sein darf, sobald er einmal begriffen oder geahnt hat, daß es gegenüber der Gerechtigkeit Gottes nichts zu reflektieren, zu reformieren, zu erzielen gibt, daß da alle gescheiten Zeitungsartikel und gut besuchten Delegiertenversammlungen voll­kommen belanglos sind — daß es sich da um ein sehr einseitiges Ja oder Nein gegenüber einer ganzen neuen Lebenswelt handelt. Wir haben Angst vor der Gerechtigkeit Gottes, weil wir uns für viel zu klein und zu menschlich halten, als daß wirklich etwas Anderes und Neues in uns und unter uns anfangen könnte. Das ist unsere Verzagtheit.

Und weil wir so hochmütig und so verzagt sind, darum bauen wir den Turm zu Babel. Darum wandelt sich die Gerechtigkeit Gottes, die wir schon gesehen und berührt hatten, unter unsern täppischen Händen in allerhand Menschengerechtigkeiten.

Ich denke an die Gerechtigkeit unserer Moral, an den guten Willen, den wir hoffentlich Alle in gewissen tüchtigen Grundsätzen und Tugenden entwickeln und betätigen. O die Welt ist voll Moral, aber wohin sind wir eigentlich mit ihr gekommen? Unsre Moral ist immer ein Ausnahmezustand, fast hätte ich gesagt: eine künstliche Verrenkung unseres Willens, kein neuer Wille. Du erhebst dich durch deine Moral, sagen wir einmal Sparsamkeit, Familiensinn, Berufstüchtigkeit, Vaterlandsliebe — ab und zu oder in bestimmter Hinsicht viel­leicht anhaltend über dein eigenes Niveau und über das deiner Mit­menschen. Du kannst dich von der allgemeinen Ungerechtigkeit los­reißen und dir ein freundliches Gartenhäuslein abseits — scheinbar abseits! — errichten. Aber was ist eigentlich damit geschehen? Wird eigentlich der ungerechte, selbstsüchtige, willkürliche Weltwille damit getroffen, geschweige denn überwunden, daß du dich mit deiner Moral — scheinbar — ein wenig auf die Seite rettest? Hindert dich nicht gerade deine Moral an der Einsicht, daß du an hundert andern Punkten umso fester an ihm gefesselt bist? Macht sie dich nicht blind und verstockt gegen die wirklichen tiefen Nöte des Daseins? Ist es nicht merkwürdig, daß gerade die größten Scheußlichkeiten des Lebens, ich denke an die kapitalistische Gesellschaftsordnung und an den Krieg, sich mit lauter moralischen Grundsätzen rechtfertigen können? Der Teufel kann die Moral auch brauchen und lacht über den Turm von Babel, den wir ihm da errichten.

Die Gerechtigkeit des Staates und der Juristen. Ein wunder­voller Turm! Ein höchst nötiges und nützliches Ersatzmittel, um uns vor gewissen unangenehmen Folgen unseres ungerechten Willens einigermaßen zu schützen! Sehr geeignet zur Beruhigung des Ge­wissens! Aber was leistet der Staat uns eigentlich? Er kann die Laune und Willkür und Selbstsucht des menschlichen Willens ordnen und organisieren. Er kann ihm durch seine Reglemente und Droh­ungen gewisse Hemmungen entgegensetzen. Er kann gewisse Ein­richtungen, Schulen z. B. aufstellen zu seiner Verfeinerung und Veredlung. Eine Unsumme von respektabler Arbeit steckt in alledem, Millionen von wertvollen Existenzen wurden und werden einzig für diesen Turmbau des Staates innerlich verbraucht und geopfert, wozu? Denn auch die Gerechtigkeit des Staates in allen ihren Formen rührt die innere Art des Weltwillens mit keinem Finger au. Ja sie wird vorn Weltwillen beherrscht. Der Krieg ist da wieder das schlagende Beispiel dafür: weit entfernt, daß der Staat es auch nur versuchte, aus dem wilden Tier einen Menschen zu machen, muß er umgekehrt den Menschen mit tausend Künsten zwingen zum wilden Tier zu werden. Der Teufel kann auch über diesen Turm von Babel lachen.

Die religiöse Gerechtigkeit! Es gibt leider Gottes kein sichereres Mittel, uns vor dem Alarmruf des Gewissens in Sicherheit zu bringen als Religion und Christentum. Ein wundervolles Gefühl der Geborgenheit und Sicherheit stellt sich ein gegenüber der Un­gerechtigkeit, deren Macht wir überall wittern, wenn die Religion uns die Möglichkeit gibt, neben und über den Widrigkeiten des Verkehrs mit uns selbst und den Mitmenschen, des Geschäfts und der Politik auch noch weihevolle Stunden der Andacht zu feiern, uns zum Christentum zu flüchten, als auf die ewiggrüne Insel im grauen Meere des Alltags. Es ist eine wundervolle Illusion, wenn wir uns damit trösten können, daß in unserm Europa neben Kapitalismus, Prostitution, Häuserspekulation, Alkoholismus, Steuerbetrug und Militarismus auch die kirchliche Verkündigung und Sitte, das „reli­giöse Leben“ ihren unaufhaltsamen Gang gehen. Noch sind wir Christen! Noch ist unser Volk ein christliches Volk? Eine wundervolle Illusion, aber eine Illusion, ein Selbstbetrug! Wir sollten hier zu aller­erst ehrlich werden und uns noch ganz anders offen fragen: was haben wir eigentlich davon? Cui bono? Was soll all das Predigen, Taufen, Konfirmieren, Läuten und Orgeln? all die religiösen Stimmungen und Erbauungen, all die „sittlich-religiösen“ Ratschläge „den Eheleuten zum Geleite“, die Gemeindehäuser mit und ohne Projektionsapparat, die Anstrengungen zur Belebung des Kirchengesanges, unsere un­säglich zahmen und nichtssagenden kirchlichen Monatsblättlein und was sonst noch zu dem Apparat moderner Kirchlichkeit gehören mag! Wird denn dadurch etwas anders in unserm Verhältnis zur Gerech­tigkeit Gottes? Erwarten wir auch nur, daß dadurch etwas anderes werde? Wollen wir, daß damit etwas geschehe oder wollen wir nicht vielmehr gerade damit aufs Raffinierteste verhüllen, daß das Entschei­dende, das geschehen müßte, noch nicht geschehen ist und wahrscheinlich nie geschehen wird? Tun wir nicht auch mit unserer religiösen Gerechtig­keit, „als ob“ — um das Reale nicht tun zu müssen? Ist nicht auch unsere religiöse Gerechtigkeit ein Produkt unseres Hochmuts und unserer Verzagtheit, ein Turm von Babel, über den der Teufel lauter lacht als über alles Andere?! — Wir stecken tief, sehr tief in den Menschengerechtigkeiten drin. Wir sind alarmiert durch den Ruf des Gewissens, aber wir haben es nicht weiter gebracht als bis zu einem schlaftrunkenen Spiel mit den Schattenbildern der göttlichen Gerechtigkeit. Sie selber ist uns Zu groß und zu hoch. Und darum sind auch die Not und die Angst, die wir um der Ungerechtigkeit willen leiden müssen, noch da. Das Gewissen in uns schreit weiter. Unsere tiefste Sehnsucht ist ungestillt.

* * *

Und das ist nun die innere Lage, in der wir auf die völlig sinnlose Frage kommen, ob Gott gerecht sei, in der uns die Gerechtigkeit Gottes gänzlich ungereimterweise zu einem Problem und Diskussionsgegenstand wird. Durch den Krieg ist ja diese sinnlose Frage wieder einmal „aktuell“ geworden. Es wird jetzt kaum eine Gemeinde geben im Land herum, in der nicht laut oder leise, grob oder fein diese Frage rumort und sie rumort im Grunde in uns Allen, die Frage: wenn Gott gerecht wäre, könnte er dann Alles das „zulassen“, was jetzt in der Welt geschieht?

Eine sinnlose Frage? Ja allerdings sinnlos, wenn dabei Gott, der lebendige Gott gemeint ist. Denn der lebendige Gott offenbart sich uns in unserm Gewissen keinen Augenblick anders denn als ein gerechter Gott. Und es ist sinnlos, ihn zu fragen: bist du gerecht? Wo wir ihn sehen können, wie er ist Und wo er uns fragt, ob wir ihn anerkennen Und haben wollen, wie er ist. Aber eine sehr sinn­reiche und richtige und gewichtige Frage ist das, wenn wir sie an den Gott richten, dem wir in unserm Hochmut und in unserer Verzagtheit den Turm von Babel errichtet haben, an den großen persönlichen oder unpersönlichen, mystischen, philosophischen oder naiven Hinter­grund und Schutzpatron unserer Menschengerechtigkeiten, unserer Moral, unseres Staates, unserer Kultur, unserer Religion. Ja, wenn wir den meinen, dann haben wir sehr recht, zu fragen: ist Gott gerecht? dann ist die Antwort bald gegeben. Das ist unser Elend, ein Elend ohne Ausweg und Erlösung, daß wir uns mit tausend Künsten einen Gott gemacht haben nach unserem Bilde und daß wir diesen Gott nun haben müssen, einen Gott, an den man so trostlose Fragen stellen kann und muß, auf die es nur so trostlose Antworten gibt. In dieser Frage: ist Gott gerecht? bricht unser ganzer Turm von Babel zusammen. In dieser Frage, die uns jetzt wieder einmal brennt, wird es offenkundig, daß wir eine Gerechtigkeit haben möchten ohne Gott, ja daß wir Gott haben möchten ohne Gott und gegen Gott — und daß das eben nicht geht. Es zeigt sich, daß dieser Gott kein Gott ist. Er ist ja nicht einmal gerecht. Er kann es nicht einmal verhindern, daß seine Gläubigen, all die ausgezeichneten europä­ischen und amerikanischen Kultur- und Wohlfahrts- und Fort­schrittsmenschen, all die wackern beflissenen Staatsbürger und from­men Christen mit Brand und Mord übereinander herfallen müssen zur Verwunderung und zum Spott der armen Heiden in Indien und Afrika. Dieser Gott ist wirklich ein ungerechter Gott und es ist hohe Zeit, diesem Gott gegenüber einmal gründlich Zweifler, Skeptiker, Spötter und schließlich Atheist zu werden. Es ist hohe Zeit, uns offen und fröhlich zu gestehen: dieser Gott, dem wir den Turm von Babel gebaut haben, ist kein Gott. Er ist ein Götze. Er ist tot.

Gott selber, der wirkliche, der lebendige Gott und seine Liebe, die zu Ehren kommt. Das ist die Lösung. Wir haben ja noch garnicht angefangen, ruhig auf das zu hören, was das Gewissen von uns will, wenn es uns in unserer Not und Angst an die Gerechtigkeit Gottes erinnert. Wir waren viel zu gierig darauf, selber gleich etwas machen zu wollen. Wir machten es uns viel zu schnell behaglich in allerhand Notbauten. Wir verwechselten das Zelt mit der Heimat, das Mora­torium mit dem normalen Lauf der Dinge. Wir beteten: dein Wille geschehe! und meinten damit schließlich: dein Wille geschehe vorläufig nicht! Wir glaubten an ein ewiges Leben, aber das wirklich Ewige, in dem wir lebten und von dem wir uns sättigten, war das Provisorische Und darüber blieben wir die Gleichen, die wir waren. Und die Gerechtigkeit blieb. Und die Gerechtigkeit Gottes verschwand wieder vor unseren Augen. Und Gott selber wurde uns zweifelhaft, weil an seiner Stelle ja das fragwürdige Gemachte unserer Gedanken stand. Es gibt eigen grundsätzlich andern Weg, um zu der Gerechtigkeit Gottes in ein Verhältnis zu kommen.

Diesen anderen Weg betreten wir damit, daß wir statt zu reden, zu reflektieren, zu räsonnieren, stille werden und dafür das Gewissen nicht stillschweigen heißen, nachdem wir seine Stimme kaum erst gehört haben. Wenn wir das Gewissen zu Ende reden lassen, dann sagt es uns nämlich nicht nur, daß es etwas Anderes gibt, eine Ge­rechtigkeit über der Ungerechtigkeit, sonderen das noch viel Wichtigere, daß dies Andere, nach dem wir uns sehnen und das wir nötig haben, Gottes Sache ist. Gott hat recht und nicht wir! Gottes Gerech­tigkeit ist eine ewige Gerechtigkeit! Das ists, was wir so leicht überhören. Es braucht etwas, bis wir so weit sind, das wieder zu hören. Wir machen gar ein Getöse mit unserer Moral und Kultur und Religion. Aber es kann dazu kommen, daß wir zum Schweigen gebracht werden und damit fängt dann unsere wirkliche Erlösung an.

Es wird sich dann vor allem darum handeln, daß wir Gott überhaupt wieder als Gott anerkennen. Das ist schnell gesagt: anerkennen. Aber das ist eine Sache, die nur in heißem persönlichem innerem Kampf erstritten und gewonnen wird. Das ist eine Aufgabe, neben der alle kulturellen, sozialen und patriotischen Aufgaben, alle „sittlich-religiösen“ Bemühungen Kinderspiel sind. Denn es handelt sich dabei darum, daß wir uns selbst ausgeben, um uns Gott zu über­geben und seinen Willen zu tun. Gottes Willen tun, heißt aber mit Gott neu anfangen. Gottes Wille ist keine bessere Fortsetzung unseres Willens. Er steht unserem Willen gegenüber als ein gänzlich anderer. Ihm gegenüber gibt es für unseren Willen nur ein radikales Neu­werden. Kein Reformieren, ein Neuwachsen und Neuwerden. Denn der Wille, der uns im Gewissen offenbar wird, ist Reinheit, Güte, Wahrheit, Gemeinschaft als vollkommener Gotteswille. Es ist ein Wille, der keine Ausreden und Vorbehalte und vorläufige Kom­promisse kennt. Es ist ein durch und durch einseitiger Wille, ein von innen, von Grund aus heiliger und seliger Wille. Das ist die Gerechtigkeit Gottes. Ihr gegenüber muß Demut das Erste sein. Haben wir in dieser Richtung etwa schon genug getan? Können wir diese Demut etwa als eine selbstverständliche Voraussetzung be­handeln und über sie hinweg zu allerhand Turmbauten übergehen? Haben wir nur auch schon angefangen mit der Schaffung dieser Voraussetzung?

Und dann das zweite: an Stelle aller Verzagtheit wird eine kindliche Freudigkeit treten: Freude darüber, daß Gott so viel größer ist, als wir es uns dachten. Freude darüber, daß seine Gerechtigkeit, eine ganz andere Tiefe und Bedeutung hat, als wir es uns träumen ließen. Freude darüber, daß von Gott für unser armes verworrenes belastetes Leben viel mehr zu erwarten ist, als wir mit unseren Grundsätzen, mit unserm Idealismus, mit unserm Christentum es uns träumen ließen. Mehr zu erwarten! Wir sollten unsere Gefühle nicht so zerstreuen nach allen Seiten. Wir sollten uns das Herz nicht immer wieder so töricht in Verwirrung bringen lassen durch immer neue Turm von Babel-Bauten. Wir sollten unseren Glauben nicht daran verschwenden, uns und andere von unserem Unglauben zu überzeugen. Wir sollten nicht immer wieder die fruchtbarsten Augen­blicke deshalb ungenützt verstreichen lassen, weil wir es jedesmal für frömmer und Weiser halten, menschlich als göttlich zu denken. Wir sollten uns dafür mit aller Kraft darauf legen, mehr von Gott zu erwarten, wachsen zu lassen, was von ihm her tatsächlich in uns wachsen will, anzunehmen, was er uns zu ja beständig anbietet, wachend und betend seinem Schaffen Zu folgen. Wie die Kinder uns über den großen Gott und seine Gerechtigkeit zu freuen und ihm Alles zuzutrauen. Haben wir etwa in dieser Richtung schon genug getan? Fließen denn etwa die Quellen so reichlich, die da fließen könnten? Stehen wir nicht auch in der rechten schöpferischen Freudigkeit Gott gegenüber noch ganz in den Anfängen?

In der Bibel heißt diese Demut und diese Freudigkeit Glauben. Wenn wie glauben, so heißt das, daß wir statt alles Rumors still werden und Gott mit uns reden lassen, den gerechten Gott, denn es gibt keinen anderen. Und dann wirkt Gott in uns. Dann fängt in uns das radikal Neue an, keimhaft aber wahrhaft, das die Ungerechtigkeit überwindet. Wo geglaubt wird, da fängt mitten in der alten Kriegswelt und Geldwelt und Todeswelt der neue Geist an, aus dem eine neue Welt, die Welt der Gerechtigkeit Gottes wächst. Die Not und Angst, in denen wir jetzt sind, sind gebrochen, wo dieser neue Anfang ist. Die alten Fesseln wollen zerreißen, die falschen Götzen beginnen zu wanken. Denn jetzt ist etwas Reales geschehen, das einzige Reale, das geschehen kann: Gott selbst hat nun seine Sache an die Hand genommen. „Ich sah den Satan vom Himmel fallen wie einen Blitz.“ Das Leben bekommt seinen Sinn wieder, das Leben des Einzelnen und das Leben im Ganzen. Lichter Gottes gehen auf im Dunkeln und Kräfte Gottes werden wirksam in der Schwachheit. Wirkliche Liebe, wirkliche Wahrhaftigkeit, wirklicher Fortschritt werden möglich, ja Moral und Kultur, Staat und Vaterland, sogar Religion und Kirche werden fetzt möglich, jetzt, erst jetzt! Eine weite Aussicht tut sich auf für die Zukunft auf ein Leben, ja auf eine Welt hier auf der Erde, in der der gerechte Gotteswille Hervorbricht und gilt und geschieht wie er im Himmel geschieht. So wird die Gerechtigkeit Gottes, die ferne, fremde, hohe, unser Eigentum und unsere große Hoffnung.

Diesen inneren Weg, den Weg des einfachen Glaubens, ist Jesus gegangen. Hier ist mehr als Mose und mehr als Johannes der Täufer. Hier steht die Liebe Gottes ursprünglich und neu in Ehren. Man kann nicht sagen, daß die Menschheit die Möglichkeiten dieses Weges schon erschöpft hat. Wir haben aus Jesus schon vielerlei gemacht. Aber wir haben das Einfachste noch am wenigsten begriffen, daß er der Sohn Gottes war und daß wir mit ihm den Weg gehen dürfen, auf dem man nichts tut, als glaubt, daß des Vaters Wille die Wahrheit ist und geschehen muß. Man kann entgegenhalten, daß diese Auslösung der Quadratur des Zirkels kindlich und durstig ist. Ich lasse es mir gefallen. Es wird doch in dieser kindlichen und dürftigen Auflösung ein Programm stecken, groß genug, um ein Menschenleben reich und schön zu machen und mehr als das. Es wird sich zeigen, ob die Erschütterung des Turmes von Babel, die wir jetzt durchwachen, stark genug ist, um uns diesem inneren Weg des Glaubens ein klein wenig näher zu bringen. Eine Gelegenheit dazu ist jetzt da. Es kann sein, daß es geschieht. Es kann aber auch sein, daß es nicht geschieht. Früher oder später wird es ge­schehen. Einen anderen Weg giebt es nicht.

Ein Vortrag, gehalten am 16. Januar 1916 in der Stadtkirche in Aarau.

Quelle: Neue Wege. Beiträge zu Religion und Sozialismus, Band 10 (1916), Heft 4, S. 143-154.

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