Von Edmund Schlink
Die Dogmatik handelt vom Antichrist im Rahmen der Lehre von den Vorzeichen der Parusie Jesu Christi. Dabei stimmen die dogmatischen Aussagen der verschiedenen Konfessionskirchen (bei Unterschieden in der konkreten Deutung des Antichrists und in der systematischen Begründung) im wesentlichen überein, nämlich in der Erwartung einer der Parusie vorausgehenden unerhörten Steigerung der Feindschaft gegen Christus und die Kirche. Wo hingegen die Parusie nicht mehr als endgeschichtliches Ereignis erwartet wird, fallen im allgemeinen auch die dogmatischen Aussagen über den Antichrist fort. Die Frage der Berechtigung dieser Erwartung kann nicht durch Anwendung geschichtsphilosophischer Postulate, seien sie optimistischer oder pessimistischer Art, entschieden werden. Aber auch mit der Berufung auf die verschiedenartigen nt. Aussagen über den Antichrist und mit ihrer Harmonisierung kann sich das dogmatische Denken nicht begnügen. Vielmehr wird die Dogmatik zu zeigen haben, inwiefern sich vom Evangelium als dem in der Geschichte wirkenden göttlichen Tatwort her die Erwartung des Antichrists ergibt.
1. Durch das Evangelium ruft Gott den Menschen heraus aus der Welt und damit heraus aus den religiösen, ethischen, weltanschaulichen Bindungen, in denen er bisher lebte. Durch das Evangelium gibt Gott dem Glaubenden einen neuen Ursprung in Jesus Christus und unterstellt ihn so dem Herrn, der durch Tod und Auferstehung die Welt überwunden hat. Der Glaubende ist in Christus frei vom Gesetz, frei von der Herrschaft der Mächte, frei von dem Bann der Welt. Es gilt: »Alles ist euer« (1Kor 3, 21). Aus dieser Freiheit derer, die in der Welt, aber nicht von der Welt sind, ergeben sich ganz neue Möglichkeiten freier Ordnung menschlichen Zusammenlebens, freier Erforschung der empirischen Wirklichkeit und ihrer freien technischen und künstlerischen Gestaltung. Die Menschen aber, die diese Freiheit usurpieren, nämlich losreißen vom Glaubensgehorsam gegenüber Christus dem Herrn, fallen nicht zurück ins Heidentum und seine gesetzlichen Bindungen, sondern sie sind der nachchristliche Mensch, der gesetzlose Mensch in einem ganz spezifischen Sinn, nämlich der Mensch, der die befreiende Tat des Evangeliums nicht ungeschehen machen kann und nun zu einem Mißbrauch der Freiheit im Aufruhr gegen Gott und in der tyrannischen Beherrschung der Welt in einem Ausmaße befähigt ist, das alles bisher Dagewesene übersteigt. Das Evangelium erweist sich als ein den Menschen veränderndes Tatwort auch da, wo es abgelehnt wird.
2. Die ganze Zeit zwischen Jesu Auferstehung und Parusie ist Endzeit, und zwar nicht nur im Sinne einer zu Ende gehenden, sondern einer in Jesu Erhöhung bereits zu Ende gegangenen und somit vom Ende umgriffenen Zeit. Darum ist es kein Einwand gegen die Lehre von den Vorzeichen des Endes, wenn die Kirche von Anfang an nach antichristlichen Gestalten Ausschau gehalten und bestimmte geschichtliche Personen ihrer jeweiligen Gegenwart als solche warnend namhaft gemacht hat. Zugleich aber bewirkt die fortschreitende Ausbreitung des Evangeliums mit der zunehmenden Befreiung der Völker aus ihren vorgegebenen Bindungen die zunehmende Möglichkeit einer ungeheuren quantitativen und intensiven Radikalisierung des Aufruhrs gegen Gott. Zwar gibt es Zeiten, in denen der Gegensatz zwischen Kirche und Welt verdeckt ist, sei es durch Verweltlichung der Kirche oder durch eine gewisse Bändigung der Welt. Aber der Kirche ist keine Verheißung gegeben, daß der Widerspruch der Welt vor Christi Parusie wirklich überwunden wird. Im Gegenteil, sie ist aufgerufen, mit einer unvorstellbaren Steigerung dieses Widerspruchs und mit Verfolgung und Leiden zu rechnen.
3. Durch das Evangelium greift Gott nach dem ganzen Menschen. Denn er handelt an ihm nicht nur als der Erlöser, sondern er gibt in Christus zugleich sein Handeln als Schöpfer und Erhalter zu erkennen. So gebietet er durch das Evangelium nicht nur Glaube, Gebet und Zeugnis, sondern auch den Gehorsam gegenüber dem Gebot, das er als der Erhalter der Welt für Familie, Recht und Staat gegeben hat. Wie das Evangelium somit handelnd und wandelnd eingreift in die Bereiche des leiblichen Lebens des einzelnen und der menschlichen Gemeinschaft, so hat der Abfall vom Evangelium notwendig früher oder später Konsequenzen auch für diesen Bereich. Leugnung der Herrschaft Christi und Vergötzung politischer Gewalt hängen so engstens zusammen. Antichristliche Gestalten – seien dies Einzelpersönlichkeiten oder Kollektive oder geistige Strömungen – können erstehen sowohl aus dem Bereich des kirchlichen Verkündigens als auch aus dem des politischen Handelns.
4. Das Wesen des Antichrists ist die Usurpation der in Christus geschenkten Freiheit und der verlogene Anspruch, das zu verwirklichen, was der Welt mit der Erhöhung Jesu Christi zum Herrn verheißen ist. Daß in dem Auftreten antichristlicher Gestalten, in ihrem Weg, in ihren Worten und »Heilstaten« und in dem Zeugnis der ihnen den Weg bereitenden »Propheten« die Strukturen des Christus-Geschehens in eigentümlicher Verzerrung wiederkehren, macht ihre verwirrende und selbst für die Christenheit versucherische Bedeutung aus. Die Kirche ist hier zur Wachsamkeit gerufen und hat die Pflicht, diese Gestalten öffentlich zu entlarven. Wo dies aber geschieht, da erkennen die Glaubenden trotz aller sich wider sie wendenden Lüge und Gewalt die Ohnmacht dieser Gestalten. Der Antichrist hat weder eigene Gestalt noch Macht, sondern er ist nur das äffische Gegenbild Jesu Christi und besteht nur durch die Geduld dieses Herrn. Er ist schon gerichtet, auch wenn er zu siegen scheint. Die Leiden aber, die antichristliche Gewalt über die Glaubenden bringt, sind die Auszeichnungen, durch die Gott die Seinen gleichförmig macht dem leidenden Christus. Darum sind diese Leiden Anlaß zu Freude und Zeichen des Auferstehungssieges.
Lit.: P. ALTHAUS, Die letzten Dinge, (1922) 19495, 228 ff. (Lit.) – P. SCHÜTZ, Der Anti-Christus, (1932) 19493 – K. HEIM, Jesus der Weltvollender, 1937, 204 ff. – M. SCHMAUS, Von den letzten Dingen, 1948, 184 ff. (Lit.) – DERS., Kath. Dogmatik IV, 2, 19533.4, 49 ff. – H. VOGEL, Gott in Christo, 1951, 1004 ff. – E. BRUNNER, Das Ewige als Zukunft u. Gegenwart, 1953, 86 ff.
Quelle: RGG3, Bd. 1 (1957), Sp. 434-436.