Karl Barth, Jesuiten und Klöster. Die umstrittenen Verbote in der Schweizerischen Bundesverfassung (1967): „Wer jene Verbote gutheisst, wird sich zunächst allgemein fragen müssen: ob es nicht dem christli­chen Glauben überhaupt und als solchem in allen seinen Formen wesentlich sein möchte, sich (nicht nur, aber auch) in solchen konzentrierten, poten­zierten, pointierten, unter Umständen sogar pene­tranten Gestalten ins Werk zu setzen? Wie war das schon in seiner im Neuen Testament erkennbaren Urzeit?“

Jesuiten und Klöster. Die umstrittenen Verbote in der Schweizerischen Bundesverfassung

Von Professor Karl Barth, Basel

Von den Jesuiten liest man in Artikel 51 der Bundesverfassung, dass ihr Orden und die ihm affiliierten Gesellschaften in keinem Teil der Schweiz Aufnahme finden (d.h. als solcher sich niederlassen) darf und dass seinen Mitgliedern jede Wirksamkeit in Kirche und Schule untersagt sei. Der Grund die­ses Verbots wird aus dem Zusatz ersichtlich, laut dessen es durch Bundesbeschluss auch auf andere Orden ausgedehnt werden kann, «deren Wirksam­keit staatsgefährlich ist oder den Frieden der Kon­fessionen stört».

Von den Klöstern heisst es in Artikel 52 etwas (aber nur etwas) milder: die Errichtung neuer und die Wiederherstellung aufgehobener Klöster oder religiöser Orden sei unzulässig. Ein Grund für dieses zweite Verbot wird nicht angege­ben. Er ist wohl nicht ganz derselbe wie der des ersten. Aber man kann in dieser Hinsicht nur Ver­mutungen haben.

Was sollen wir zu diesen Verboten sagen?

Das Gemeinsame der von ihnen betroffenen In­stitutionen ist das, dass sie besonders konzentrierte, potenzierte, pointierte, im Fall des Jesuitenordens sogar penetrante Gestalten des christlichen Glaubens in seiner spezifisch «katholi­schen» Gestalt darstellen.

Wer jene Verbote gutheisst, wird sich zunächst allgemein fragen müssen: ob es nicht dem christli­chen Glauben überhaupt und als solchem in allen seinen Formen wesentlich sein möchte, sich (nicht nur, aber auch) in solchen konzentrierten, poten­zierten, pointierten, unter Umständen sogar pene­tranten Gestalten ins Werk zu setzen? Wie war das schon in seiner im Neuen Testament erkennbaren Urzeit? Wie war das — um nur einige Beispiele zu nennen — mit den Anfängen und weithin auch mit der Durchführung der Reformation in Wittenberg, in Zürich, in Genf, in Schottland und anderwärts? Wie war das mit den englischen Puritanern oder auch mit den deutschen und schweizerischen Pieti­sten des 18. Jahrhunderts, mit der «Brüderge­meinde» des Grafen Zinzendorf, mit den Erweckungsbewegungen des 19. Jahrhunderts? Wo der christliche Glaube lebendig blieb oder – wieder wurde, da pflegte er sich auch in solchen unge­wöhnlichen, so oder so radikalen Gestalten zu äussern. Und sie waren es, die die Geschichte der Kir­che immer wieder vorwärts getrieben haben. Wären den politisch «Radikalen», die 1848 und 1874 die Aufnahme jener Artikel in unsere Bundesverfas­sung durchgesetzt haben, nicht alle jene christli­chen Radikalismen, wenn sie sie gekannt hätten, tief unsympathisch erschienen, ja als staatsgefähr­lich und friedensstörend vorgekommen? Ob sie nicht auch gegen sie mit Verboten reagiert hätten? Die Frage heute ist also zunächst allgemein die: ob eine Mehrheit des Schweizervolkes heute im Unter­schied zu damals bereit ist, dem christlichen Glau­ben als solchem die Freiheit zu gewähren, sich neben seinen gewöhnlichen auch in gewissen aussergewöhnlichen Formen darzustellen?

Gestalten des christlichen Glaubens

Der Jesuiten-Ofden und die- Klöster sind nun allerdings Gestalten des christlichen Glaubens in seiner spezifisch «katholischen» Gestalt.

Klöster, wie sie schon tief im 1. Jahrtausend und dann weiterhin entstanden sind, sind Anstal­ten, in denen sich christliche Menschen, verpflichtet durch gewisse Gelübde (Armut, Keuschheit, Gehor­sam — und gelegentlich auch Schweigsamkeit), zur Erfüllung bestimmter ausserordentlicher Aufgaben (etwa der Pflege des Gebetes oder der Predigt, der Fürsorge für Arme und Kranke, der theologischen Wissenschaft) zu besonderen auch durch ihre Be­kleidung gekennzeichneten Lebensgemeinschaften zusammengefunden haben.

Der Orden der Jesuiten — «Gesellschaft Jesu» nennen sie sich selber — ist erst im 16. Jahr­hundert begründet worden. Sein besonderer Zweck: Ursprünglich die äussere Mission, dann die Vertei­digung und Ausbreitung des spezifisch katholischen, durch seine Spitze in seiner Ordnung durch das römische Papsttum charakterisierten christlichen Glaubens unter den nioht-katholischen, d. h. ihre Unterordnung unter das römische Papsttum nicht anerkennenden Christen. Seine besonderen, jenem Zweck dienenden Mittel: eine disziplinierte und disziplinierende Seelsorge («Exerzitien»!), be­sonders unter den einzelnen Gebildeten, eine auf jenes Ziel ausgerichtete allgemeine Schulung, Bil­dung und Erziehung, eine beide begründende theo­logische Wissenschaft. Die Jesuiten leben nicht in Klöstern, sondern irgendwo, durch keine besondere Tracht als solche erkennbar, in der Welt. Die Frage ist zunächst: ob es sich in der Existenz der Klöster und des Jesuiten-Ordens um wesentliche und also notwendige Formen des spezifisch katholischen und christlichen Glaubens handelt? Die katholische Kir­che und mit ihr die ihre Sache ernst nehmenden katholischen Christen haben sie bis jetzt (hinsichtlich der Jesuiten mit einem kurzen Unterbruch in den Jahren 1774—1820) ausdrücklich oder still­schweigend bejaht. Darf, nein, muss man sich nicht an diese Tatsache, ob sie uns gefällt oder nicht, hal­ten? War und ist es also wohlgetan, wenn die nicht­katholische Mehrheit des Schweizervolkes seiner katholischen Minderheit 1848 und 1874 jene Artikel 51 und 52 aufdrängte und bis auf diesen Tag auf­drängt, wo man doch im Hauptsatz von Artikel 49 ausdrücklich versichert hatte, die Glaubens- und Gewissensfreiheit sei unverletzlich?

Zusammenstoss zweier Radikalismen

Nun sind gewiss alle Gestalten des christlichen Glaubens Menschenwerk und darum fehlbar, den Gefahren des menschlichen Uebermuts, der menschlichen Trägheit, der menschlichen Verlogen­heit gar sehr ausgesetzt und so oder so auch immer und überall verfallen. Das gilt von unserer refor­mierten Kirche. Das gilt von den orthodoxen Kir­chen des Ostens. Das gilt natürlich auch von der römisch-katholischen Kirche. Und es ist selbstver­ständlich, dass diese Gefahren hier wie dort in jenen, radikalen Formen der verschiedenen Gestal­ten des Glaubens am grellsten wirksam und sicht­bar zu werden pflegen. So hat es denn in alter und neuer Zeit zweifellos verfehlte, von ihrem ursprünglichen Sinn und Zweck her gesehen entar­tete, versumpfte oder verwilderte Klostergemein­schaften gegeben. So konnte denn auch der «Gesell­schaft Jesu» ein ziemlich umfangreiches Sündenregister vorgehalten werden, in welchem nicht wenige Punkte nur zu wohlbegründet waren. Aber ist da nicht auch masslos übertrieben, vergröbert und verallgemeinert worden? Waren die Klöster und waren die Jesuiten in der Schweiz des 19. Jahr­hunderts so staatsgefährlich und friedensstörend, dass man sich ihrer mit Worten, wie sie etwa Gott­fried Keller brauchte («Vom Gotthard weht ein schlimmer Wind. Sie kommen, die Jesuiten!»), und dann mit Freischarenzügen Richtung Luzern und schliesslich mit jenen Verfassungsartikeln und also polizeilich erwehren konnte? Wann und von wem ist eigentlich das Entsprechende historisch bewiesen worden? War da nicht schlicht ein Absolutismus und Radikalismus auf einen anderen gestossen, dem gegenüber er — selber von mythologischen Elementen wahrhaftig («Heil dir, Helvetia …!») nicht frei — sich letztlich nicht gewachsen wusste, den er also seinerseits mit einer bösen Mythologie belasten, den er zum Bölimann machen musste, als der er also jenem Artikel dasteht? Muss, darf es bei dem eines Rechtsstaates unwürdigen Resultat des damals geführten Hexenprozesses sein Bewenden haben?

Eines Rechtsstaates unwürdig

Oder sollte damit der reformiert-christliche Glaube vor einem so, ausgesprochen und in seiner Weise so mächtigen Gegner, wie es jedenfalls der Jesuiten-Orden ist, geschützt werden? Aber was hatten die reformierten Kirchen der Schweiz da­mals mit dem Kampf gegen die Klöster und gegen die Jesuiten zu tun? Sie waren es nicht, die die Ein­führung jener Artikel in die Bundesverfassung ge­wünscht und betrieben haben, und sie sind es auch heute nicht, die nach solchem Schutz begehren. Sie bedanken sich vielmehr höflich, aber bestimmt für solchen Schutz. Stehen sie in ihrem Gottesdienst, ihrer Predigt, ihrem Unterricht, ihrem Gemeinde­leben, ihrer Theologie ruhig — fest und beweglich zugleich — zu ihrer eigenen Sache, dann haben sie weder von Einsiedeln, noch von Engelberg, noch von ein paar allfällig neu zu errichtenden oder wie­derherzustellenden Klöstern, noch auch von der Zulassung der Jesuiten zu der ihnen eigentümlichen Tätigkeit in Kirche und Schule auch nur das Ge­ringste zu befürchten. Sie werden es den Freimau­rern überlassen, vor einem allzu aktivistischen Katholizismus Angst zu haben. Im Gegenteil: sie werden sich durch die Begegnung mit einem von jenen unwürdigen Fesseln befreiten Katholizismus gerade in seinen penetranten Gestalten angeregt und aufgerufen finden, sich selber noch gründlicher zu verstehen, noch energischer zu betätigen — und doch vielleicht auch einiges von ihm zu lernen, was ihnen zu lernen anstehen würde. Also: auch vom reformiert-christlichen Standpunkt aus ist für jene Verbote wirklich nichts zu sagen. Oder ist da ein ernstzunehmender reformierter schweizerischer Christ, der hier das Gegenteil zu behaupten wagen würde?

Ganz beiläufig gefragt: ist es uns klar, dass wir Schweizer uns mit diesen Verboten (ganz ähnlich übrigens wie in Sachen des Frauenstimmrechts!) ungefähr in der ganzen Welt mutterseelenallein befinden? Haben wir Anlass, darauf stolz zu sein?

Der Katholizismus in innere Bewegung geraten

Und nun noch ein Letztes und vielleicht das Wichtigste: Wir haben es heute nicht mehr mit dem Katholizismus des Mittelalters, des 16. Jahrhun­derts, der verworrenen Zeiten von 1848 und 1874, der Pius-Päpste, sondern in allen seinen Exponen­ten — die Klöster und die Jesuiten und der Vatikan eingeschlossen — mit einem Katholizismus zu tun, der auf der ganzen Linie in eine Innere Bewegung gekommen ist, deren Auswirkungen in dem 1962—65 abgehaltenen 2. Vatikanischen Konzil erst in ihren Anfängen sichtbar geworden sind. Weiss der schweizerische Bürger, dass die Artikel 51 und 52 unserer Bundesverfassung neben allem, was sonst gegen sie einzuwenden ist, heute auch deshalb unmöglich sind, weil sie auf einen Gegner zielen, der so, wie er damals war, bzw. gesehen wurde, gar nicht mehr auf dem Plan ist? Auch der einfache Leser kann sich über das, was in der katholischen Kirche in Gang gekommen ist, aus dem von unse­rem Landsmann, meinem sehr viel jüngeren Freund Professor Hans Küng verfassten, knapp 30 Seiten starken Büchlein «Konzil-Ergebnis» (1966) ebenso leicht wie gründlich unterrichten. (Es erschien übri­gens in einer Reihe, die den Titel «Entscheidung» trägt und ausgerechnet von einem Jesuiten heraus­gegeben wird. Und es hat nicht nur das übliche bischöfliche Imprimatur, sondern auch die aus­drückliche Billigung von Papst Paul VI. erhalten!) Weiss der Schweizer Bürger, dass verständige Nichtkatholiken und verständige Katholiken (Kleriker und «Laien») längst nicht mehr miteinander streiten, sondern — ach, wenn doch die grossen und kleinen Weltpolitiker unserer Tage auch schon so weit wären! — je von ihren besonderen Orten, und ohne preiszugeben, was hier und dort nicht preiszu­geben ist, und also bei Gelegenheit auch ein biss­chen «intolerant», aber vernünftig und brüderlich miteinander zu reden pflegen?

Wäre dann aber die Beseitigung jener Verfassungs-Artikel nicht wirklich fällig?

Nicht etwa als Tauschobjekt gehen eine ja wirklich zu erhoffende ernstliche Aenderung der katholi­schen Mischehe-Praxis, sondern als freies Zuvor­kommen von unserer, der nichtkatholischen Seite! Und nicht unter Verschiebung auf den fernen Tag einer Totalrevision unserer Bundesverfassung, son­dern in Bälde, am Besten («Fang das Gute zeitig an!») sofort!

Das ist meine Behandlung des «heissen Eisens», das mir von der NZ vertrauensvoll überreicht wurde. Ich habe es in Form von lauter Fragen an­gefasst. Ich hoffe aber, dass meine Antwort schon aus den von mir gestellten Fragen unzweideutig ersichtlich ist.

Quelle: National-Zeitung, 125 Jg., Nr. 464, 7./8. Oktober 1967, S. 1-2.

Hier der Text als pdf.

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