WARUM MUSSTE DAS SEIN?
Tjeerd Naves und Pien van Diemen
verstorben am 29. Juli 1984
1
Sie waren wieder zusammen.
Nach einer Zeit der Trennung.
Sie waren einander näher als je zuvor,
weg aus ihren Elternhäusern,
und versuchten, ob sie es konnten – ganz,
von Tag zu Tag.
Am Dienstag, dem 24. Juli, fuhren sie für ein paar Tage in den Urlaub.
„Mit Tjeerd auf dem Motorrad“, hatte Pien in ihren Kalender geschrieben,
und daneben ein kleines Motorrad gemalt mit zwei Figürchen darauf
und einer kleinen Wolke dahinter.
Sie zelteten in Belgien.
Am Samstag, dem 29. Juli, vor einer Woche, wollten sie zurückkehren.
Um halb acht abends waren sie auf einem Kreisverkehr bei Eindhoven.
Was dort genau geschah,
lässt sich nicht mehr rekonstruieren.
Sie fuhren nicht zu schnell,
sagten Zeugen.
Sie hatten nichts getrunken,
zeigte die Untersuchung.
Es gab keinen Zusammenstoß.
Sie sind nicht ins Schleudern geraten.
Im Katharina-Krankenhaus in Eindhoven
hat jemand ihre Körper gewaschen und gepflegt,
Blumen zu ihnen gelegt
und eine Kerze angezündet.
Man hat sie noch gesehen:
sie waren nicht entstellt,
sie waren tot.
Tjeerd, als würde er schlafen.
Pientje plötzlich viel älter –
„mindestens zwanzig Jahre älter“,
sagte ihre Mutter.
Gestern wurden die Särge geschlossen.
Lieber Tjeerd, liebes Pientje,
beide zweiundzwanzig Jahre alt geworden.
2
Und nun wir, die wir noch leben,
bis jetzt verschont geblieben –
alt, ganz jung, alle Altersstufen –
und ihr vor uns allen:
Gerda, Aad und Christiaan;
Jeannine, Mirjam, Gertjan und Sjef –
Was nun?
Man sieht ihn noch im Garten stehen.
Man denkt: gleich schauen sie kurz vorbei.
So hätte es nicht kommen sollen.
Aber so ist es gekommen.
„Du, der du mein Leben so geführt hast bis hierher,
dass ich noch lebe“ –
so wird gleich gesungen.
Aber hat er ihr Leben so geführt,
dass sie nicht mehr leben?
Das ist nicht auszuhalten.
Christiaan, Tjeerds Bruder,
sah sie dort liegen –
ohne die funkelnden Ringe,
die sie einander geschenkt hatten.
Er sagte: „Sie müssen ihre Ringe tragen.“
Und das wurde getan.
So werden sie nun begraben:
gemeinsam,
in einem Atemzug.
3
Tjeerd –
glücklich aufgewachsen,
behütet,
liebevoll begleitet.
Und sehr geliebt.
Er stotterte.
Vielleicht konnte er deshalb
so gut und geduldig zuhören.
Und Pientje konnte sprechen –
erstaunlich gut,
ganz direkt und ungehemmt,
dann wieder geheimnisvoll und andeutend.
Oft glitt sie in ihren Worten davon,
auch wenn sie sie aufschrieb –
in Tagebüchern,
in Geschichten,
in Gedichten.
Sie experimentierte,
probierte sich aus,
suchte ihre Grenzen –
und nicht nur ihre eigenen.
Sie war verrückt nach vielem:
gierig nach Schmuck, Schals, Erfahrungen,
nach Spannung.
Sie konnte maßlos aufgewühlt sein
und über sich selbst weinen –
über das, was sie war
und nicht sein wollte
und doch gerade sein wollte –
mit ihrer launischen Ausstrahlung.
Sie wollte leben – leben!
Und deshalb sprach sie so viel über den Tod
und über ihren toten Vater –
von dem sie meist in der Gegenwartsform sprach,
als lebte er noch.
Das floss ineinander –
wie in fiebrigen Träumen.
Und zugleich verdrängte sie ihn,
sortierte ihre Erinnerungen an ihn,
und suchte sich andere Väter.
Sie war stark und begabt –
ein wenig abgründig.
Tjeerd war ganz anders stark:
stark und zerbrechlich –
wie das Glas, das er blasen wollte.
„Glas war seine Herausforderung“,
sagte sein Vater.
Seine Stärke war seine Unbestechlichkeit:
Er war einer, der das Gute tut,
weil es gut ist –
nicht um gesehen zu werden,
nicht um zu glänzen.
Und Pientje –
die sich so rührend danach sehnte, gesehen zu werden –
fühlte sich gerade zu dieser Unbestechlichkeit hingezogen.
Sie spürte das intuitiv –
sie wusste, dass sie das brauchte.
Sie wusste, wie gut er war.
Sie beneidete ihn darum
und stellte ihn auf die Probe.
Und Tjeerd wollte geprüft werden –
er nahm dafür auch Schmerz in Kauf.
Er wusste, wen er liebte
und warum.
Beide konnten etwas Entscheidendes
nicht aushalten im Anderen –
und wurden doch leidenschaftlich zueinander hingezogen.
Wer ihnen nahe stand,
hielt den Atem an.
Denn diese beiden
waren ineinander verstrickt und verworren –
sie fanden nicht heraus –
und dann wieder waren sie strahlend glücklich.
Sie wussten nicht,
ob sie es schaffen würden.
Beide waren manchmal sehr niedergeschlagen.
Aber sie hielten einander fest –
auch wenn sie einander nicht halten konnten.
In den letzten Monaten gelang es ihnen wieder –
tiefer.
Es hatte alles mit Pientjes Wunsch zu tun,
eine neue Ausbildung zu beginnen:
zu lernen, wie man Kinder zur Welt bringt –
als suche sie für ihren komplizierten Charakter
eine elementare Wirklichkeit,
die sie zur Einfachheit zwingen würde
und zur Achtsamkeit für andere.
Und so – offen –
hat es geendet.
Plötzlich war es vorbei.
Und so offen bleibt es.
Mehr ist nicht geschehen.
Und wie es weitergegangen wäre –
man weiß es nicht.
Obwohl jeder, der sie näher kannte, ahnt,
dass es spannend und schwierig geblieben wäre.
Aber schlicht leben –
das konnten sie nicht.
4
Am Samstag, dem 14. Juli 1984,
schrieb Pien in ein neues Heft dieses Gedicht:
Frei sein
um zu leben.
Die stampfenden Pferde in mir
warten auf den großen Ritt
nagen an jedem Glied von innen.
Nicht anders will ich –
ihnen folgen,
als Reiterin, sie mit Sporen antreibend.
5
Es war ein kurzes Leben.
War es ein gutes Leben?
Es wurde mit so viel Hingabe und Selbstbewusstsein gelebt –
wie ein großer Aufbruch.
Ich glaube,
es war ein gutes Leben.
Was bleibt davon?
Erinnerungen.
Und die Briefe,
die sie einander schrieben.
Ihr Tagebuch.
Ihre Gedichte.
Ihre Namen.
Und wieder: Erinnerungen –
vergessene Bilder und Eindrücke,
die – da nun nichts mehr hinzukommt –
plötzlich deutlicher zu sprechen beginnen.
Und es bleibt ein Verlust.
Ein vager Schmerz bei denen, die weiter entfernt standen –
offene Wunden,
die nicht heilen wollen
bei euch, den Allernächsten.
O Gott, warum musste das sein?
Das darf man Gott nicht fragen,
denke ich.
Der weiß es auch nicht.
Der weint in dir –
der ist gegen den Tod.
Der Tod ist sein Todfeind.
Aber keiner von uns weiß allein,
wer Gott ist.
Es gibt ein Zeugnis,
eine Erzählung von ihm,
eine Vision –
die nur von Menschen gemeinsam
gesehen und getragen werden kann.
Das ist die Vision eines Gottes,
für den die Toten leben.
„Dann sah ich die Toten vor dem Thron stehen –
Große und Kleine“ –
dieses Bild.
Wenn dieses Bild in deinem Kopf und Herz aufsteigt –
wenn diese himmelweite Aussicht in dir wohnt –
dann tröstet einander.
Und tröstet besonders die,
die in dieser Welt ohne Gott
und ohne solche Hoffnung leben.
Ich glaube –
nein, jemand glaubt in mir –
dass er es selbst ist, der Lebendige,
der uns in Tränen, aber ungebrochen
weitergehen lässt,
hin zu einer neuen Geburt.
Fast unmögliche Worte.
Das Unmögliche werden wir singen.
Als Pientjes Vater im Sterben lag,
vor fünf Jahren,
ließ er mich kommen und sagte:
„Solange ich noch bei Bewusstsein bin,
sing mir das Lied vom Gehen durch die Nacht der Schöpfung,
in Tränen, aber ungebrochen.“
Es wurde ihr Lieblingslied –
über jemanden in uns,
der uns festhält und weitergehen lässt.
Zu einem neuen Geburtsland –
dort wird gesungen.
Ein Anderer, ein Älterer,
in uns verborgen.
Du, noch namenlos,
öffnest unser Inneres
und weckst
in unserem widerspenstigen Gedächtnis
was wir mit unseren frühesten Augen sahen –
und lässt uns gehen
in Tränen,
aber ungebrochen,
durch die Nacht der Schöpfung,
und hältst uns auf dem Weg
zu einer neuen Geburt:
blinde Mauern –
zu sanftem Licht und Wasser geworden –
und auf der anderen Seite:
Städte aus Rosen
und der Gesang der Drossel.
Quelle: Huub Oosterhuis, Waar onze doden zijn. Negenenveertig namen, 2013.