Karl Barth, Philosophie und Theologie (1960): „Ob der Philosoph fähig und geneigt sein wird, in der vom Theologen angegebenen und beschriebenen Be­ziehung von «Schöpfer» und «Geschöpf» von «Gott» und «Mensch» seine eigenen Gegenüber- und Zusammenstellungen wiederzuerkennen? Und ob der Theologe seinerseits in den Begriffspaaren des Philosophen das wiederfinden wird, was er unter «Schöpfer» und «Geschöpf», «Gott» und «Mensch» versteht? Ob man sich hiervon beiden Seiten mit gutem Ge­wissen darüber verständigen könnte, dass man ja «im Grunde dasselbe» meine und sagen wolle? Ob es also gelegentlich oder gar durchgängig tun­lich sein möchte, dass der Philosoph in der Sprache des Theologen, der The­ologe in der des Philosophen redet?“

Philosophie und Theologie

Von Karl Barth

Die Gegenüberstellung von «Philosophie» und «Theologie» ist eine (leicht mythologisierende) Abstraktion. Das Wirkliche, das mit ihr ge­meint ist, ist das Gegenüber gewisser verschieden interessierter, ver­pflichteter und beschäftigter Menschen: das Gegeneinander und Mitein­ander des Philosophen und des Theologen. Ihr Gegeneinander ist jeden­falls insofern auch ein Miteinander, als die Probleme ihrer Forschung und Lehre an sich dieselben sind, nur eben – und das macht ihr Miteinander zu einem Gegeneinander – in entgegengesetzter Ordnung und Folge. Auch der Philosoph wird sich im Vollzug seines Werkes dem für den Theologen primären Problem irgendwo und irgendwie stellen müssen: nur daß es sein eigenes primäres Problem nun eben nicht zu sein scheint. Und so wird auch der Theologe das für den Philosophen primäre Pro­blem an seinem Ort und in seiner Weise aufnehmen müssen: nur daß es sein eigenes primäres Problem nun doch nicht sein noch werden kann. In der Frage des Primats der ihnen an sich gemeinsamen Probleme unter­scheiden sich ihre Wege, trennen und überkreuzen sie sich bedeutsam und folgenschwer genug. Indem sich doch Keiner von Beiden dem dem Anderen vordringlichen Problem einfach entziehen kann, indem es doch «nur» die Frage des Primats des einen oder des anderen Problems ist, an der sich ihre Wege scheiden sind und bleiben sie als Mitmenschen beieinander. Der Philosoph, der sich vom Theologen, an dessen Pro­blem unbeteiligt, nur eben zu distanzieren wüßte, müßte jedenfalls in dieser Hinsicht ein Unmensch und würde dann gewiß auch kein guter Philosoph sein. Und das Entsprechende wäre von einem Theologen zu sagen, der das vom Philosophen bevorzugte Problem nur eben fallen ließe: « reine » Theologie wäre ein ebenso unmenschliches Unternehmen wie «reine» Philosophie. Es kann dem Ernst der auf beiden Seiten fallenden Entscheidung und der ihr folgenden Scheidung keinen Ein­trag tun, wenn man sich auf beiden Seiten ihrer Menschlichkeit bewußt bleibt – und auch dessen, daß Menschlichkeit unter allen Umständen wesentlich Mit Menschlichkeit bedeutet. – Daraus folgt zunächst zweierlei:

1. Es dürfen und sollen der Philosoph und der Theologe wie jeder sich selbst, so auch jeder den Anderen für einen mit der einen, einzigen, bei aller Unterschiedenheit ihrer Momente ganzen Wahrheit Konfrontierten halten: für in Anspruch genommen durch den einen, einzigen, ganzen und darum zuverlässig gewissen Grund, Gegenstand und Inhalt der­jenigen tätigen Erkenntnis, in der der Mensch Mensch zu sein bestimmt und berufen ist. Nicht durch eine doppelte Wahrheit und auch nicht durch eine halbe oder je nur in einem halben Aspekt sich erschließende Wahrheit also! Mensch sein heißt: mit der einen ganzen und in ihrer Ganzheit sich erschließenden Wahrheit konfrontiert sein. Und Mitmensch eines Mitmenschen sein heißt: eben in dieser Konfrontation mit ihm ver­antwortlich, sein mitverantwortlicher Gefährte, Geselle, Genosse sein. Damit ist der Raum bezeichnet, in welchem der Philosoph und der Theologe hinsichtlich des Primats der ihnen gemeinsamen Probleme ihre Entscheidungen und ihre Scheidung vollziehen, um von da aus ihre ernst­lich verschiedenen Wege anzutreten und zu gehen. Ihre Trennung erfolgt angesichts der einen, ganzen Wahrheit und in der Voraussetzung, daß nicht nur der Eine, sondern auch der Andere eben sie vor Augen haben, bedenken und anzeigen möchte. Ihrer Beider Unternehmungen auf ihren in der Frage des Primates ihrer gemeinsamen Probleme sich trennenden Wege werden sich nicht nur je für sich streng auf die eine ganze Wahr­heit als solche, sondern auch auf die Bewährung der Voraussetzung aus­richten müssen, daß es auf seinem anderen Weg auch je dem Anderen um sie und nur um sie gehen möchte. Mehr als das ist erstlich und letzt­lich weder vom Philosophen noch vom Theologen zu verlangen. Das aber ist von Beiden zu verlangen. Und daß das von Beiden zu verlangen ist, schließt in sich, daß das Rechnen mit einer Verewigung ihres unver­meidlichen Konfliktes – und wäre es in der Gestalt eines ewigen « Schiedlich-Friedlich »-ihnen Beiden verboten ist. Sie haben ihren Konflikt, als Mitmenschen der einen ganzen Wahrheit verantwortlich, in seinem gan­zen Ernst auszutragen – aber auch in der ganzen Hoffnung, die ihnen durch den Raum, in welchem er entsteht und auszutragen ist, gegeben und geboten ist.

2. Die gewisse feierliche Gehobenheit, in der der Philosoph, und die gewisse kerygmatische Eindringlichkeit, in der der Theologe sich in der Regel äußern wird, ändern nichts daran, daß weder Dieser noch Jener in der Lage ist, vom Himmel herunter vor sich hin oder mit dem Anderen zu reden. Sind sie Beide als Menschen der einen ganzen Wahrheit kon­frontiert, mag es ihnen als Menschen tatsächlich Beiden um sie und nur um sie gehen, so ist und bleibt sie ihnen doch Beiden überlegen, so hat doch Keiner von Beiden die Macht, als ein sie Besitzender, ihr also Überlegener zu denken und zu reden, sie auf den Plan zu führen, für seine eigene Sache und gegen die des Anderen sprechen zu lassen. Sie können und sollen sich wohl Beide durch sie in Anspruch nehmen lassen, sie können sie aber nicht für sich in Anspruch nehmen: der Philosoph nicht und der Theologe auch nicht. Sie können ihr Beide nur zur Ver­fügung stehen, ihr nur dienen wollen. Das bedeutet nun aber im Blick auf die notwendige Trennung und Überkreuzung ihrer Wege, auf den unvermeidlichen Konflikt ihres Denkens und Redens, auf den «Streit der Fakultäten» um den Primat des einen oder des anderen ihrer gemein­samen Probleme: Es ist wohl so, daß der Philosoph wie der Theologe ihn je auf ihrem besonderen Weg zu führen, zum Austrag zu bringen haben. Indem sie das tun, wird ja der Eine zum Philosophen, der Andere zum Theologen. Im Denken und Reden des Einen hier und des Anderen dort wird es sich also gewiß entscheiden, ob, sei es der Philosoph den Theologen, sei es der Theologe den Philosophen in sich «aufhebt», ob die Philosophie der Theologie, oder die Theologie der Philosophie, mit Kant zu reden, als «ihrer gnädigen Frau die Fackel vorträgt oder die Schleppe nachträgt». Es wird aber, da sie diese Entscheidung Beide nur auf Erden und als Menschen – Beide im Blick auf die eine ganze Wahr­heit, aber Beide ohne sie meistern zu können – zu vollziehen vermögen, von einem zwischen ihnen, von einem von Diesem oder Jenem in seinem Verhältnis zum Anderen herbeizuführenden Sieg und Triumph, von einer Erledigung des Theologen durch den Philosophen oder des Philo­sophen durch den Theologen keine Rede sein können. Sie können Beide nur an die ihnen Beiden überlegene, eine, ganze Wahrheit appellieren. Sie können es Beide nur darauf ankommen lassen, daß diese für sich selbst spreche und in dem zwischen ihnen unvermeidlichen Streit — viel­leicht zu ihrer Beider Überraschung und Beschämung – entscheiden möchte. Diesen «Streit» zu führen, und zwar entschlossen und konse­quent zu führen, werden sie, wenn sie Beide bei der Sache sind, nicht unterlassen dürfen. Sie werden ihn aber von beiden Seiten nur in großer Demut und auch nur in einem letzten Humor führen können.

Unter den «Problemen», um deren Vorrang der Philosoph wie der Theologe je mit sich selbst, aber notwendig auch untereinander zu «streiten» haben, seien die beiden großen ernstlich entgegengesetzten, aber auch untrennbar aufeinander bezogenen Momente verstanden, die wie der Philosoph so auch der Theologe als Momente der einen ganzen Wahrheit wahrzunehmen und als wahr anzeigen zu müssen und damit ihrer Verantwortlichkeit ihr gegenüber gerecht werden zu sollen meinen. Mit beiden Momenten der einen ganzen Wahrheit haben es Beide zu tun. Mit beiden Problemen sind, nur eben in umgekehrter Ordnung – und hier entsteht der Streit – Beide beschäftigt.

Dem Theologen, der hier redet, ist es erlaubt und geboten, sich zur Bezeichnung der beiden Wahrheitsmomente, so wie auch er sie zu sehen und anzeigen zu sollen meint, und also der beiden Probleme, in deren Aufnahme auch er seiner Verantwortlichkeit gegenüber der einen gan­zen Wahrheit Genüge zu tun bemüht ist, eines seiner eigenen, der theo­logischen Sprache entnommenen, zugleich scharf unterscheidenden und genau verbindenden Begriffspaares zu bedienen: Es geht in der einen ganzen Wahrheit um den lebendigen, in seinem Wort und Werk das Geschöpf konstituierenden, mit sich selbst versöhnenden und zur vollen Gemeinschaft im Leben mit ihm erlösenden Schöpfer. Und es geht in derselben einen ganzen Wahr­heit um das durch das Wort und Werk dieses seines Schöpfers konstituierte, mit ihm versöhnte, durch ihn zu erlösende Geschöpf. Kürzer und prägnanter formuliert: Es geht um die Freiheit Gottes für seinen Menschen. Und es geht um die dem Menschen durch seinen Gott geschenkte Freiheit für ihn. So der Theologe. Von zwei Wahrheits­momenten hört er laut der Geschichte der Philosophie auch diese reden. Mit zwei entsprechenden Problemen findet er – etwas verwirrt durch die Vielheit der Philosophien freilich – auch sie beschäftigt. Die Idee und die Erscheinung, die causa prima und die durch sie bewegten causae secundae, das «Ding an sich» und dessen theoretisch-praktische Apperzeption, den Logos und die Vernunft, den Geist und seine Selbstentfaltungen, die Transzendenz (vielleicht auch die Essenz) und die Existenz, das Sein und das Dasein – so oder ähnlich bezeichnete, zugleich scharf unter­scheidende und genau verbindende Begriffspaare scheinen auch in der Forschung und Lehre des Philosophen zur Diskussion zu stehen. Und mindestens so etwas wie eine Analogie der Bemühungen dort und hier scheint sich aufzudrängen. Schon fragt es sich freilich: ob sie sich als solche bewähren – ob mit dem einen theologischen und den vielen philosophischen Begriffspaaren (oder doch mit dem einen oder anderen unter diesen) wirklich dieselben beiden Momente der einen ganzen Wahrheit bezeichnet sein möchten? Ob der Philosoph fähig und geneigt sein wird, in der vom Theologen angegebenen und beschriebenen Be­ziehung von «Schöpfer» und «Geschöpf» von «Gott» und «Mensch» seine eigenen Gegenüber- und Zusammenstellungen wiederzuerkennen? Und ob der Theologe seinerseits in den Begriffspaaren des Philosophen das wiederfinden wird, was er unter «Schöpfer» und «Geschöpf», «Gott» und «Mensch» versteht? Ob man sich hiervon beiden Seiten mit gutem Ge­wissen darüber verständigen könnte, daß man ja «im Grunde dasselbe» meine und sagen wolle? Ob es also gelegentlich oder gar durchgängig tun­lich sein möchte, daß der Philosoph in der Sprache des Theologen, der The­ologe in der des Philosophen redet? Mag sein: es ist ja bekanntlich beides oft genug versucht worden. Das Unternehmen ist nicht unbedenklich. Leicht ist schon die Frage des Vokabulars, wenn man auf beiden Seiten weiß, was man sagen will, weil man es sagen muß, gewiß nicht zu nehmen. Könnte es, wo es zu solchem gegenseitigen Wiedererkennen kommt, nicht sein, daß man auf der einen oder auf der anderen Seite oder auf beiden vergessen hat, vielleicht vergessen und also verleugnen wollte, was hier wie dort die eigentliche Meinung und Absicht war? Verleugnet man sie aber nicht, wie soll es dann zur Anerkennung auch nur einer analogischen Aequivalenz der auf beiden Seiten gebrauchten Worte und Begriffe anders kommen als unter der heimlichen Voraussetzung: «eigentlich» müßte philosophisch, oder «eigentlich» müßte theologisch – es könne aber zur Not auch «uneigentlich», d.h. vom Philosophen theologisch oder vom Theologen philosophisch gedacht und geredet werden? Hat man sich dann gegenseitig verstanden? Kann man sich dann für im Grunde einig halten? Könnte es nicht gerade bei dem Versuch, die anderen Worte und Begriffe des Anderen in meliorem partem, d.h. nach Maßgabe der eigenen zu interpretieren und in solcher Interpretation sich anzueignen, je ehrlicher und genauer er vorgetrieben wird, an den Tag kommen, daß er undurchführbar ist, daß man im Grunde doch nicht dasselbe meint und sagen will? Immerhin: der Idealfall ist nicht un­denkbar – er könnte sowohl in der inneren Auseinandersetzung des Philosophen mit dem auch ihn beschäftigenden theologischen, wie in der des Theologen mit dem auch ihm nicht fremden philosophischen Ansatz, wie endlich in ihrer Begegnung untereinander Ereignis werden: daß man sich im Bewußtsein der heimlichen Übervorteilung des Einen durch den Anderen, ohne die es dabei mindestens auf einer Seite nicht abgin­ge, indem man sich diese aber (ebenso heimlich oder auch offen) gegenseitig gefallen ließe, mindestens über eine analogische Äquivalenz der auf beiden Seiten gebrauchten Worte und Begriffe verständigen möchte. Der «Streit um Worte» als solcher möchte friedlich, er möchte vielleicht sogar in einer nicht uninteressanten, nicht unfruchtbaren, wer weiß: in einer für beide Seiten lehrreichen Weise vorläufig zu schlichten sein. Im «Streit um Worte» als solchem brauchte der «Streit der Fakul­täten» nicht notwendig stecken zu bleiben.

Es geht aber zwischen dem Philosophen und dem Theologen ent­scheidend um die Frage nach der Ordnung der ihnen Beiden vor Augen stehenden, von ihnen Beiden anzuzeigenden Momente der einen Wahr­heit und also der sie Beide beschäftigenden Probleme. Hier wird die Situation kritisch, ja unheimlich. Hier könnte die Aussicht auf eine Schlichtung des Streites – indem er hier auch als Streit um die Worte einen neuen gewichtigen Akzent bekommen könnte – sehr dunkel wer­den. Ein Ausschluß des einen Problems durch das andere kommt von keiner Seite in Frage. Es geht aber auf beiden Seiten eben um den Primat des einen vor dem anderen, um ihre Folge, d.h. aber darum, welches von beiden das andere in sich schließen, oder umgekehrt: im anderen einge­schlossen sein möchte.

Ihre vorhin angedeutete Formulierung war – nicht nur in der Wahl der Worte und Begriffe, sondern vor allem in der unmöglich zu verber­genden Kennzeichnung ihres Verhältnisses zueinander – keine philoso­phische, auch keine neutrale, sondern eine charakteristisch theologische Formulierung. Sie umschrieb die beiden Probleme in der Voraussetzung, daß es da ein ganz bestimmtes, unumkehrbares Vorher und Nachher, Oben und Unten gebe. Und sie geschah in dem damit vorgegebenen Gefälle. Vom lebendigen Schöpfer her zum lebendigen Geschöpf hin wurde da geblickt und gedacht: vom Wort und Werk des Schöpfers her hin auf die durch ihn begründete Bestimmtheit seines Geschöpfs, von der göttlichen Freiheit her hin zur menschlichen Freiheit. Darauf­hin dann freilich sofort und erst recht auch umgekehrt: in der Richtung vom Geschöpf, vom freien Menschen her zurück hin zu seinem Schöpfer, zum freien Gott – aber doch erst daraufhin, in einer Gegenbewegung von unten nach oben, die ganz allein durch die Kraft der ursprünglichen Bewegung von oben nach unten motiviert, möglich und wirklich wird. Der Theologe steht und fällt mit dieser Folge, und zwar mit ihrer Un­umkehrbarkeit. Mit jedem Versuch, sie umzukehren, begänne die Pseudo-Theologie. Dem Theologen, der bei der Sache ist und bleibt, steht die eine ganze Wahrheit in ihren beiden Momenten so und nicht anders vor Augen, und so und nicht anders hat er sie anzuzeigen. Ein Akt mächtiger Kondeszendenz, der als solcher einen Akt ermächtigter Elevation in sich schließt und nach sich zieht – oder anders herum: ein Akt ermächtigter Elevation, der in einem Akt mächtiger Kondeszendenz eingeschlossen und begründet ist: das ist die Wahrheit, der der Theologe in seinem Den­ken und Reden verpflichtet ist. Ob er sie wirklich ebenso gut in einer anderen Sprache anzeigen könnte, wird von da aus zweifelhaft. Es könnte ja auch sein Vokabular durch die seinem Denken und Reden vorge­schriebene Ordnung bedingt – es könnte ihm ja durch die Ordnung, in der die Wahrheit selbst ihn anspricht und verpflichtet, verwehrt sein, die Begriffe «Schöpfer» und «Geschöpf», «Gott» und «Mensch», die schon als solche auf jene Ordnung und ihre Dynamik hinweisen, mit solchen gleichzusetzen und zu vertauschen, deren Gehalt an Eindeutigkeit in dieser Hinsicht mindestens mehr zu wünschen übrig läßt. Hinsichtlich der Folge der beiden Wahrheitsmomente und der durch sie gestellten Probleme aber wird er unter keinen Umständen und auf keinen Fall wanken noch weichen können.

Sollte es eine philosophia christiana — einen christlichen Philosophen geben, der unter Verwendung eines anderen Vokabulars faktisch auch in jener Ordnung und Folge denken und reden wollte, indem die eine ganze Wahrheit ihm faktisch auch so und nicht anders vor Augen stünde, indem faktisch auch er darauf angewiesen wäre, sie so und nicht anders anzuzeigen? Warum sollte ein solcher Philosoph nicht möglich sein? Wird man nicht jedenfalls im Blick auf die Philosophiegeschichte post Christum natum – etwas kühn vielleicht – fragen dürfen: ob eine andere als eine durch die unumkehrbare Richtung des theologischen Denkens und Redens mindestens beunruhigte, alarmierte, irgendwie gestörte und in diesem schwächeren Sinn «christliche» Philosophie überhaupt möglich ist? ob sie post Christum natum nicht auch in ihren «dezidiert nicht-christlichen » Gestalten heimlich oder offen mindestens von ihrem Gegensatz zu dem ihr befremdlichen Phänomen des theologischen Denkens und Redens lebt? Sollte sie freilich in der Existenz eines philo­sophisch interessierten, verpflichteten und beschäftigten Menschen als im starken Sinn «christliche» Philosophie, nämlich darin in Erschei­nung treten, daß er seinerseits mit der dem Theologen gebotenen Folge und Ordnung seines Denkens und Redens ernst machte – was bliebe dann übrig, als ihm die Verantwortung für das von ihm verwendete Vokabular zu überlassen, im übrigen aber ihn als – Krypto-Theologen anzusprechen?

Klammern wir diese Möglichkeit aus, so ist zunächst mit der Frage fortzufahren: ob wohl der Theologe das Unternehmen des Philosophen recht sieht und versteht, wenn er der Meinung ist, es verlaufe nun doch – und das auch in der Aera post Christum natum: auch da, wo es durch das theologische Denken und Reden mindestens mitbestimmt ist – erstaunlicher Weise in der Richtung, die der, mit der er als Theologe steht und fällt, genau entgegengesetzt ist? Der Theologe kann nicht für den Philosophen sprechen, kann also in der Frage der Richtigkeit oder Un­richtigkeit seiner Sicht und seines Verständnisses des Philosophen nicht mit letzter Bestimmtheit entscheiden und reden. Er kann und muß nur sagen, daß er ihn im Blick auf die ihm bekannte bisherige Geschichte der Philosophie so — in jenem Gegensatz zu seiner eigenen Bemühung – sehen und verstehen zu müssen meint. Er übersieht zwar nicht, daß die für ihn selbst unbedingt primäre Bewegung von oben nach unten als solche dem Philosophen auch nicht fremd ist. Er meint aber zu sehen, daß sie im Denken und Reden des Philosophen gerade nicht die primäre, die das Ganze beherrschende und charakterisierende Bewegung, sondern die sekundäre ist, seine primäre dagegen die, die für ihn, den Theologen, nur jene von unten nach oben verlaufende Gegenbewegung sein kann. Er sieht den Philosophen unter den verschiedensten Vorzeichen und Titeln in einer mächtigen Elevation begriffen – etwa empor von der Erscheinung zur Idee, vom Dasein zum Sein, von der Vernunft zum Logos, von der Existenz zur Transzendenz – immer unter der Voraus­setzung und mit der Versicherung oder doch Andeutung, daß für ihn in jenem Ersten so oder so auch das Zweite schon inbegriffen und also bei der Interpretation jenes Ersten notwendig zu berücksichtigen und zu entfalten sei – um dann in der durch die Elevation zu jenem Zweiten ermächtigten Kondeszendenz zu dem für ihn Ersten zurückzukehren. Er sieht ihn (in seiner eigenen, der theologischen Sprache ausgedrückt, sofern zwischen dieser und der des Philosophen mit so etwas wie einer analogischen Äquivalenz zu rechnen sein sollte) auf dem Weg vom Geschöpf zum Schöpfer, vom Menschen zu Gott und von da wieder zurück zu seinem Ausgangsort, zum (nun auch noch mit einem Glanz von oben umstrahlten) Gegenstand seines primären Interesses: zum Ge­schöpf, zum Menschen. So trennt sich der Weg des Philosophen von seinem eigenen. Eben diesen Weg des Philosophen – hat der Theologe ihn richtig gesehen und verstanden? – darf und kann er selbst, ohne Pseudo-Theologe zu werden, nicht mitgehen und meint zugleich zu bemerken, daß der Philosoph seinen, den theologischen Weg – sollte er nicht ein Krypto-Theologe sein – mitzugehen ebenso wenig fähig und willig ist, für diesen wahrscheinlich nur ein erstauntes, mitleidiges Kopf­schütteln und Lächeln übrig hat. Ob der Philosoph zur Bezeichnung seines Ansatzes schon darum auch so ganz andere, nämlich solche Be­griffspaare wählen muß, die an Eindeutigkeit hinsichtlich der Ordnungs­frage so weit hinter dem Begriffspaar «Schöpfer und Geschöpf» oder «Gott und Mensch» zurückstehen: Worte, bei deren Interpretation die Aufrichtung der von ihm bevorzugten Ordnung ohne weiteres mög­lich, ja doch wohl näherliegend ist? Wie dem auch sei: der Theologe meint angesichts des Unternehmens des Philosophen (Irrtum über dessen Absicht vorbehalten!) Anlaß zur Verwunderung zu haben: darüber, daß dieser sich offenbar für frei hält und in der Lage sieht, angesichts der beiden Momente der einen ganzen Wahrheit so ganz anders zu denken und zu reden als er selber.

Ob die an dieser Stelle stattfindende Entscheidung und Scheidung für den Philosophen ebenso wesentlich, selbstverständlich und unwiderruf­lich notwendig ist wie für den Theologen? Der Theologe kann auch hier nur für sich selbst sprechen: Über Alles kann er mit sich reden lassen – an dieser Stelle aber gibt es für ihn ursächlich keine Alternative, kein Überlegen, keine Diskussion, keine Konzession. Die Frage nach dem Rang, der Ordnung und Folge der Probleme ist für ihn beantwortet, indem sie gestellt ist. Er kann seinen Weg beschreiben und erklären, er kann auch Rechenschaft geben über den Punkt, von dem aus er ihn an­tritt, aber nur mit der Feststellung, daß für ihn nur dieser, ein anderer aber überhaupt nicht in Betracht kommt. Daß ihm das vom Philosophen, wie er zu sehen meint, bevorzugte, dessen Denken und Reden domi­nierende Problem (er versteht es als das Problem des Geschöpfs im Blick auf dessen Schöpfer) auch nicht fremd ist, daß er es an seiner Stelle aufzu­nehmen und zu Ehren zu bringen hat, bedeutet nicht, daß er auch nur die Möglichkeit hätte, ihm seinerseits den Vorzug zu geben. Er hat dazu keine facultas. Er kann sich nur wundern, daß der Philosoph eine facultas, die Möglichkeit, in der umgekehrten Richtung zu denken und zu reden, zu haben scheint. Er könnte also nicht ebensogut Philosoph sein, ge­schweige denn, daß er als Theologe Krypto-Philosoph sein könnte. Es gibt so etwas wie ein blitzendes Schwert, das ihm den Weg des Philoso­phen abschneidet. Dessen Weg kann für den Theologen gerade nur die von ihm (in jenem auch in ihm selbst sich ereignenden Streit) abzuweisen­de Versuchung sein. Ist der Philosoph seinerseits anders dran? Es steht dem Theologen nicht an, darüber zu befinden. Er aber ist so dran. Und das ist es, was den Gegensatz zwischen dem Philosophen und ihm kritisch, ja unheimlich macht. Sicher ist er kein grenzenloser Gegensatz. Wir erinnern uns: er entsteht und besteht im Raum der ihnen Beiden leuchten­den und ihnen Beiden überlegenen einen ganzen Wahrheit, die als solche ihrer Beider Hoffnung, auch die große Hoffnung jenseits ihres Streites ist. Er ist aber in dieser Umgrenzung ein Streit, in welchem es – jedenfalls vom Theologen her gesehen, auf Biegen und Brechen geht, in welchem sachlich kein Pardon gegeben werden kann. Wie sollte ein Denken und Reden, das – ich formuliere wieder theologisch – beim Geschöpf, beim Menschen als dem Vorgegebenen einsetzt, von da aus sich zum Schöpfer, zu Gott erhebt, um von da aus zu seinem Ausgangspunkt, zum Ge­schöpf, zum Menschen, zurückzukehren, mit einem anderen zu ver­einigen sein, für das das Wort und Werk des Schöpfers das Vorgegebene und also der Ausgangspunkt ist, von dem es zum Geschöpf herabsteigt, um wieder in Wort und Werk des Schöpfers zu seinem Ziel zu kommen? Wird da nicht handgreiflich zwei verschiedenen Herren gedient? Wie sollten diese beiden Unternehmungen auf einen Nenner zu bringen sein? Wie sollte die Rechtmäßigkeit der einen neben der der anderen bestehen können? Das ist es ja, daß gerade die Wahrheitsfrage, die ihnen beiden gestellt ist, auch zwischen sie tritt: in der Weise nämlich, daß jedenfalls von der einen Seite unmöglich zugegeben werden kann, es sei die eine ganze Wahrheit, die sich ebenso in der einen wie in der anderen Ordnung und Folge ihrer Momente erschließe, es könne also ihre Erkenntnis und Anzeige ebensowohl in der Richtung eines nach rechts wie in der eines nach links laufenden Uhrzeigers vollzogen werden. Peinliches Einge­ständnis: er ist ein Gegensatz, in welchem jedenfalls von einer – der theologischen – Seite (immer innerhalb der bewußten Umgrenzung) von sachlicher «Toleranz» nicht die Rede sein kann. Mildernde Erinnerung: sachliche «Intoleranz» möchte auch auf der anderen Seite kaum zu ver­meiden sein und faktisch-praktisch auch oft und eindrucksvoll genug ausgeübt werden! Nicht auch, wenn die Philosophen unter sich sind?

Aufgefordert, darüber Rechenschaft abzulegen, von wannen der Geist, der ihn in irgendeinem Grad von Notwendigkeit auf den ihm offenbar eigentümlichen Weg führt, nun eigentlich kommt und wohin er fährt, wird der Philosoph… aber nein: es muß wieder dem Philosophen selbst überlassen sein, sich dazu zu äußern. Wieder wird der Theologe, zur selben Rechenschaft aufgefordert, nur für sich selbst reden können und wird dann, ohne sich solcher Naivität schämen zu dürfen, direkt und unverklausuliert antworten – nicht eigenmächtig, sondern auftragsgemäß bekennen und bezeugen müssen: daß Jesus Christus die eine, ganze Wahrheit ist, durch die ihm der Weg seines Denkens und Redens ebenso strikt gewiesen, wie der philosophische Weg abgeschnitten ist. Nicht eine Christusidee, sondern der Jesus von Nazareth, der unter Augustus und Tiberius gelebt hat, gestorben und auferstanden ist, um nicht mehr zu sterben – und dieser nicht als ein ausgezeichnetes (vielleicht als das ausge­zeichnetste) «Vehikel» oder Symbol, als bevorzugte Chiffre der Wahr­heit, sondern Dieser als wahrer Gott und wahrer Mensch, als der von Gott zwischen sich und dem Menschen aufgerichtete Bund in Person – er selbst die der ganzen Welt und so auch dem Philosophen und dem Theologen leuchtende Wahrheit! Von seiner Existenz kommt das theo­logische Denken und Reden her als von seinem Axiom und ihm eilt es als seinem Telos entgegen. Eben durch ihn ist es, wenn es sich selbst treu ist, nicht nur mitbestimmt, sondern einfältig allein bestimmt. Eben hier ist der Theologe über den Philosophen so verwundert, weil er nicht verstehen kann, daß dieser – post Christum natum mit ihm in der glei­chen Situation! – noch immer Wege vom Menschen zu Gott, vom Ge­schöpf zum Schöpfer zu suchen, zu finden und zu gehen, unter diesen oder jenen Vorzeichen und Titeln die Konstruktion eines von rechts nach links laufenden Uhrzeigers zu unternehmen scheint, die doch in Jesus Christus auch für ihn ein für allemal antiquiert ist. Eben von hier aus hat der Theologe keine facultas zur Beteiligung an diesem Unter­nehmen. Ist und bleibt er bei der Sache, so ist sein ganzes Nachdenken und Überlegen (pãn vóēma, 2. Kor. 10, 5) «gefangen genommen in den Gehorsam Christi». In welcher Richtung zu denken und zu reden er frei ist, ist damit klar. Denn der Weg Jesu Christi führt eindeutig von oben nach unten und von da zurück nach oben, von der Kondeszendenz des Schöpfers zur Elevation des Geschöpfs und nicht umgekehrt. In Jesus Christus ruft die freie Gnade Gottes der Dankbarkeit des Menschen, antwortet des Menschen freie Dankbarkeit der Gnade Gottes: nicht um­gekehrt: Und indem Jesus Christus die unteilbare Wahrheit ist, neben der es keine andere gibt, ist über die Ordnung und Folge ihrer beiden Mo­mente und damit über die der beiden Probleme ihrer Erkenntnis ent­schieden. Dies ist – hier in größer Kürze umrissen – die Antwort des Theologen auf die Frage: wie er dazu komme, einen Weg anzutreten, der ihn dem Philosophen gegenüber in jene unheimliche Situation führen muß.

Aber kehren wir, nachdem diese Klimax erreicht und überschritten ist, schleunigst wieder zu der Feststellung zurück, mit der hier begonnen wurde: daß wir es in dem je so anderen, ja entgegengesetzten Denken und Reden wie des Philosophen so auch des Theologen mit einem mensch­lichen (auch allzu menschlichen) Denken und Reden zu tun haben. Daran kann ja keine noch so ernstliche Entscheidung und Scheidung zwischen Beiden, keine Unvereinbarkeit ihrer Wege, keine milde oder wilde Verwunderung des Einen über den Anderen etwas ändern, daß sich das Alles auf einer und derselben Ebene abspielt, auf der jedes noch so radi­kale Gegeneinander auch ein Miteinander in sich schließt. Wie kann und soll sich die bei aller Schärfe und Unüberwindlichkeit des Gegensatzes ebenso notwendige und unübersehbare Koexistenz des Philosophen und des Theologen in der ihnen Beiden gebotenen Menschenwürde gestalten? Einige vorsichtige Erwägungen dazu werden hier offenbar nicht fehlen dürfen.

Im Bewußtsein der Menschlichkeit (der Mitmenschlichkeit!) ihrer Unternehmungen werden sich der Philosoph und der Theologe doch wohl vor allem nicht weiter als auf Hörweite aus den Augen verlieren dürfen. Gerade ihr Gegensatz ist offenbar zu aufregend, um nicht auch höchst anregend zu sein. Er fordert, daß sie sich gegenseitig präsent bleiben: daß der Eine dem Unternehmen des Anderen seine möglichst große Aufmerksamkeit zuwende. Und wäre es auch nur, um sich dabei aufs neue darüber klar zu werden, was ihm selbst im Unterschied zu Jenem geboten und verboten ist! Aber nun doch wohl nicht nur dazu, sondern auch in der aufrichtigen Teilnahme und in dem ernsten Respekt, den ein Mensch der Bemühung des anderen als der seines Mitmenschen ohne Gefährdung seiner eigenen Menschlichkeit auch dann nicht ver­weigern kann, wenn es ihm nicht gestattet ist, sich mit ihm zusammenzu­setzen, wenn er sich mit ihm gerade nur «auseinandersetzen» kann und darf. Aber darüber hinaus vielleicht doch auch darum, weil der Eine beim Anderen, vielleicht ganz unerwartet und programmwidrig, faktisch dies und das für sein eigenes Unternehmen auch positiv Bedeutsames zulernen, dankbar aufzunehmen finden möchte. Wie sollte es, da die Vor­aussetzung der einen ganzen Wahrheit auch da unerschütterlich gilt, wo die Wege zu ihrer Erkenntnis sich trennen müssen, nicht erlaubt und geboten sein, mit der Möglichkeit zu rechnen, daß der Eine dem Anderen gelegentlich auch in Zusammenhängen, in denen er ihm nicht folgen kann, faktisch als «Priester des höchsten Gottes» begegnen, ihm wie jener König Melchisedek dem Abraham Brot und Wein entgegentragen, ihn faktisch «segnen» möchte? Immer um ein freies, partielles, unver­bindliches Lernen des Einen vom Anderen wird es sich, wo das möglich und wirklich wird, handeln. Es wird ja das Lernen des Einen beim An­deren nie das bedeuten können, daß er nun seinerseits auf den Weg des Anderen hinüberträte, sondern nur das, daß er, ohne seiner eigenen Verantwortlichkeit untreu zu werden, auf irgend einer Stufe seines eigenen Weges durch dieses oder jenes Element im Denken und Reden des Anderen zu irgendeinem weiteren Schritt auf diesem seinem eigenen Weg angeleitet wird. Und so wird der Eine, von dem der Andere etwas zu lernen scheint, nicht erwarten dürfen, von diesem in seiner eigenen Intention «verstanden» zu sein; er wird sich nicht daran ärgern dürfen, den Anderen – offenbar in einem für ihn fruchtbaren Mißverständnis begriffen – seinen eigenen Weg fortsetzen zu sehen. Das ist die Grenze, die dem hier in Frage kommenden Lernen gesetzt ist. Innerhalb dieser Grenze ist es aber möglich, daß das Gegeneinander des Philosophen und des Theologen zum Miteinander und so praktisch sinnvoll wird.

Was wohl der Philosoph vom Theologen zu lernen in der Lage ist? Ob das Alles ist, wenn er zu verstehen gibt, daß er sich durch den Theo­logen als sachkundigen Ausleger, glaubwürdigen Vertreter und über­zeugten Verkündiger einer bestimmten religiösen Überlieferung gerne etwa auf das Phänomen der sog. «Religion», ihre Psychologie, Soziologie und wohl auch Ontologie aufmerksam machen lasse – oder sachlicher: auf die Notwendigkeit, im Rahmen seines Denkens und Redens auch dem mit den Begriffen «Glaube» und «Offenbarung» Gemeinten eine ange­messene Stätte und Funktion zuzuweisen? Anders denn als ein für den Philosophen offenbar fruchtbares Mißverständnis wird sich der Theologe das freilich nicht gefallen – und er wird es sich erst recht nicht einfallen lassen können, sich selbst nach Maßgabe solcher ihm zugewendeten philosophischen Würdigung zu verstehen und zu verhalten. Aber eben: er kann vom Philosophen nicht verlangen, daß er über seinen eigenen Schatten springe, kann es ihm also nicht wehren, ihn nun eben so zu verstehen, ihm im Duktus seines eigenen Unternehmens nun eben so positiv gerecht werden zu wollen. Der Philosoph tut es auf seine eigene Verantwortung. Der Theologe kann ihm nicht vorschreiben, was er von ihm lernen soll. Was er dazu zu sagen hätte, könnte ja, wenn er sein schwarzes Herz einen Augenblick öffnen sollte, auf die unverschäm­te und untragbare Zumutung hinauslaufen, daß der Philosoph das längst eingetretene Ende aller Philosophie bedenken, sich also am besten einer Analyse von deren abgeschlossener Geschichte und darüber hinaus etwa der Erstellung einer formalisierten Logik zuwenden würde. Wie sollte er es wagen, dem Philosophen damit unter die Augen zu treten? Er wird es ihm wirklich überlassen müssen, aus dem Faktum seiner, der theologischen Existenz, diese oder jene Lehre zu ziehen.

Er kann hier noch einmal nur für sich selbst, nämlich von dem reden, was er seinerseits vom Philosophen lernen zu können und zu sollen meint. Es kann ihm tatsächlich nicht nur kritisch, es muß ihm auch posi­tiv zu denken geben, daß er den Philosophen so grundsätzlich in jener anderen Ordnung und Folge der Probleme vorgehen sieht, in der dem Geschöpf, dem Menschen als Ausgangs- und Zielpunkt der Bewegung eine so ausgezeichnete, so bevorzugte Stellung zukommt. Er bewundert (verwundert, aber aufrichtig) das Pathos und das Ethos, in welchem der Philosoph, indem er in jener anderen Ordnung denkt und redet, eben dem Geschöpf – in seinem Ursprung im Schöpfer und in seiner Bezie­hung zu ihm, aber dem Geschöpf! – zugewendet ist. Er bewundert ihn als umsichtigen Ausleger von dessen Selbstverständnis und Selbstdar­stellung, als Sprecher seiner Wissenschaft, Technik, Kunst und Politik, als priesterlichen Verwalter des Geheimnisses seiner Elevation und der Weihe seiner Natur und Kultur. Er bewundert ihn – um das gute, alte Wort ohne den ironischen Beiklang, den es später bekommen hat, auf­zunehmen – als «Weltweisen». Er bewundert ihn darum aufrichtig, weil er eben in seiner Existenz als «Weltweiser» in einer Eindrücklichkeit und mit einem Nachdruck, auf den zu achten ihm selbst höchst heilsam sein dürfte, das Problem unterstreicht, das ja, (als zweites freilich) auch ihn interessieren, verpflichten und beschäftigen muß. Daß Gott die Welt geschaffen und so geliebt hat, daß er seinen einzigen Sohn für sie dahingab, daß er in ihm die Welt mit sich selbst versöhnt hat – Jesus Christus als das Licht der Welt — das ist ja sein, das theologische Thema. Er könnte aber in seinem Eifer für Gottes Wort und Werk als solches gerade diese konkrete Beziehung seines Wortes und Werkes, den in den Bund mit Gott eingesetzten geschöpflichen Partner, die in Jesus Christus mit Gott versöhnte Welt – er könnte über dem «wahren Gott» den «wahren Menschen», über der Freiheit Gottes seine eigene und die seines Mitmenschen – wenn nicht vergessen, so doch zu beiläufig be­handelt, zu unscharf gesehen, zu wenig bedacht, zu blaß angezeigt haben. Was von all dem, was den Philosophen primär bewegt, müßte sekundär, aber nicht minder dringlich und ernst auch den Theologen bewegen? Es hat ihn vielleicht praktisch zu wenig bewegt. Er hat viel­leicht die Welt der Natur und der Kultur, er hat vielleicht die Humanität zu wenig ernst genommen, hat vielleicht (in diesem Fall seinem eigenen Auftrag durchaus zuwider) in pseudo-prophetischer Leidenschaft viel zu unweltlich und inhuman gedacht und geredet. Die Existenz des Phi­losophen mag ihn daran erinnern, daß es so nicht geht, daß er laut seines eigenen Auftrags an der Stelle, wo das geschehen muß, gar nicht weltlich, natürlich, menschlich genug denken und reden, die Kondeszendenz des Schöpfers zu seinem Geschöpf und die Elevation des Geschöpfs zu seinem Schöpfer gar nicht genug preisen kann. Wann sollte der Theologe – seine Ausrichtung auf sein primäres Problem könnte ihn im Blick auf sein sekundäres leicht unachtsam und lieblos machen – diese Erinnerung nicht immer wieder, nicht nur auf einer, sondern auf allen Stufen seines Weges nötig haben? Die Existenz des Philosophen mag ihm hilfreich sein, ihn in dieser Hinsicht zu erwecken und wach zu halten. Daß ihm der Philosoph bei diesem Anlaß doch ja nicht zum advocatus diaboli werde: zu der laut der Theologiegeschichte – sie ist in dieser Hinsicht eine Katastrophengeschichte! – von jeher und bis auf diesen Tag so mäch­tigen Versuchung, aus der Rolle zu fallen, den Weg von oben nach unten, vom Ersten zum Zweiten mit dem umgekehrten zu vertauschen: zum Krypto-Philosophen und so zum Pseudo-Theologen zu werden! Daß er sich vom Philosophen mit einer angeblich allgemein und so auch für ihn gültigen Ontologie, Anthropologie, Psychologie usw. beschenken lasse, kann natürlich nicht in Frage kommen: er hat sein zweites Problem in allen seinen Entfaltungen in seinem eigenen Zusammenhang und Stil aufzunehmen. Der Philosoph soll und kann ihm aber auf alle Fälle als advocatus hominis et mundi Mahnung sein, sein zweites Problem auf der ganzen Linie energisch und konsequent aufzunehmen. Der Theologe würde nicht gut tun, wenn er den Philosophen in dieser seiner heilsamen Eigenschaft und Sendung (um deswillen, daß er seinen Ansatz und Weg für verkehrt halten muß und nicht mitmachen kann) übersehen und überhören wollte. Weiß er denn, ob es nicht Jesus Christus, das Licht, der Herr und Heiland der Welt ist, der ihn durch den Dienst des «Welt­weisen» in jener bestimmten Richtung zur Ordnung rufen, zu einer «Gottesgelehrtheit» anleiten will, die genau genommen (im Blick auf ihr doppeltes Problem) nicht «Theologie», sondern «Theanthropologie» heißen müßte? Hat er, da mit diesem Fall zweifellos zu rechnen ist, nicht Anlaß, für die Existenz des Philosophen dankbar und also auf sein Tun, so radikal verschieden es von dem seinigen ist und so wenig er ihm folgen kann, sehr aufmerksam zu sein, zu bleiben und immer wieder zu werden?

Es steht nun nicht zu erwarten, daß der Philosoph mit dem Vers, den sich der Theologe auf seine Existenz etwa in dieser Richtung zu machen versucht, zufriedener sein wird als der Theologe mit der Würdigung, die ihm der Philosoph zuzuwenden scheint. Er möchte sich gewiß für mehr halten als «nur» für einen «Weltweisen»! Er hält gewiß den Theologen seinerseits für in einem nun offenbar für ihn fruchtbaren Mißverständnis seines Unternehmens begriffen, wenn das – die beson­dere Aufmerksamkeit für die Geschöpf weit, für den Menschen und seine nächsten und fernsten Möglichkeiten – Alles ist, was er bei ihm lernen zu können und zu sollen meint. Er möchte vom Theologen gewiß noch etwas tiefer und universaler als so gesehen, verstanden, angenommen und dann auch «bewundert» sein. Und so wird sich die alte doch wohl gegen­seitige Verwunderung, gerade indem Beide sich bemühen, Alles zu prüfen und das Beste – das Beste im Denken und Reden des Mitmenschen diesmal – zu behalten, noch einmal und erst recht melden und bis auf Weiteres nicht aus der Welt zu schaffen sein. Dürfen Beide bemerken, daß der Eine nach dem Besten des Anderen in den Grenzen des ultra posse nemo obligatur jedenfalls offen und ehrlich ausschaut – und dürfen Beide der guten Zuversicht sein, daß das noch Bessere, das der Eine vom Anderen zu hören erwartet, einem Jeden in seiner Weise von ganz anderer Stelle zugesprochen werden, schon zugesprochen sein möchte – dann sollte es möglich sein, daß sich Beide an dem, was der Eine vom Anderen zugestandenerweise lernen kann und will, sei es denn kopf­schüttelnd, bis auf Weiteres genügen lassen und dann trotz allem tat­sächlich in Hoffnung koexistieren.

Und sind sie nicht nur Mitmenschen, möchten sie vielmehr Beide auch mit Ernst Christen sein, dann werden sie das trotz dieses letzten gegen­seitigen Vorbehaltes in der in dem Wort Psalm 133,1 angezeigten Rich­tung tun dürfen. Des Jubilars – dem dieses Buch und so auch dieser Auf­satz gewidmet ist – und mein Vater pflegte es uns in unseren Jugendtagen bei gewissen Anlässen mit erhobenem Finger zuzurufen: «Siehe, wie fein und lieblich ist es, wenn Brüder einträchtig beieinander wohnen!»

Quelle: Philosophie und Christliche Existenz. Festschrift für Heinrich Barth, hrsg. v. Gerhard Huber, Basel: Helbing & Lichtenhahn, 1960, S. 93–106.

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