Theologie gegen Mythologie. Kleine Apologie des biblischen Monotheismus
Von Johann Baptist Metz
Auf dem 14. Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Philosophie im Herbst des vergangenen Jahres in Gießen hielt der Münsteraner Fundamentaltheologe Johann Baptist Metz einen vielbeachteten Vortrag über das Verhältnis der neuen Mythenkonjunktur zum christlichen Gottesglauben. Seine Grundthese: Aus den Aporien der Moderne rettet nicht die Flucht in den Mythos; es braucht vielmehr die Rückbesinnung auf die biblische Rede von Gott und von der befristeten Zeit. Der folgende Text gibt in der Substanz den Gießener Vortrag wieder; Prof. Metz hat für die Veröffentlichung einige Veränderungen und Kürzungen vorgenommen.
Eine neue Mythenfreudigkeit prägt das geistige Klima nicht nur hierzulande. Neue Mythologien haben Konjunktur. Sowenig man von ihnen zumeist über lebenstragende neue Mythen erfährt, so ausführlich lassen sie sich in ihrer Kritik am überlieferten biblischen Monotheismus vernehmen. Der ist ihnen politisch und kulturell suspekt. Er gilt als Pate eines vordemokratischen, gewaltenteilungsfeindlichen Souveränitätsdenkens, als Vater eines obsoleten Patriarchalismus, als Ursprungs- und Vorhutsgedanke totalitätsverdächtiger Geschichtsideologien, als individualitätsgefährdende Großerzählung, die alle unschuldige Buntheit, alle umständliche Zerstreutheit und Vielfalt des Lebens absorbiert und unter ein politisch-kulturell gefährliches Einheitsdenken zwingt. Auch in der Theologie selbst geht man vielfach auf Distanz zum biblischen Monotheismus. Man sucht ihn z.B. (tiefenpsychologisch) auf eine polymythische Urgeschichte der Menschheit zu hintergehen. Oder ihn trinitätstheologisch auf eine innergöttliche Geschichte hin zu durchschauen. Wenig wiegt dabei der gegenläufige Verdacht, es könne sich um neue Göttermythen handeln, denn dieser Verdacht verdunstet schnell in der offensichtlich polytheistisch und polymythisch getönten Atmosphäre unserer sog. nachmodernen Welt. Schlechte Zeiten also für eine Apologie des biblischen Monotheismus!
Israels „Armut im Geiste“
Ich beginne meine kleine Apologie mit einem Blick auf das vorchristliche Israel. Dieses kleine, politisch-kulturell eher unbedeutende Wüstenvolk unterschied sich von den Hochkulturen seiner Zeit durch seine Art der leidvollen Verstrickung in die Wirklichkeit, durch seine „tiefe Diesseitigkeit“, oder anders ausgedrückt: durch seine Unfähigkeit, sich durch Idealisierung, durch Mythologisierung und durch Kompensationsdenken von den Schrecken der Wirklichkeit erfolgreich zu distanzieren. Gerhard von Rad betont in seiner „Theologie des Alten Testaments“ m. E. zu Recht, „daß Israel die Leiden und Bedrohungen des Lebens höchst realistisch wahrgenommen hat, daß es sich ihnen wehrlos und verwundbar preisgegeben sah und daß es wenig Begabung zeigte, sich vor ihnen in irgendwelche Ideologien zu flüchten … Es besaß vielmehr eine ungewöhnliche Kraft, auch den negativen Wirklichkeiten standzuhalten und sie auch da anzuerkennen und nicht zu verdrängen, wo sie geistig in keiner Weise zu bewältigen waren.“
Gewiß, Israel hat, militärisch immer wieder besiegt und kulturell überfremdet, Mythenangebote und Idealisierungsstrategien von verschiedenen Seiten (aus Persien, aus Ägypten, später aus dem hellenistischen Raum) importiert und nachgeahmt. Aber es hat sich dabei nicht beruhigt und sich nicht mit ihnen getröstet. Israel ist — und darin ist es in meinen Augen auch für das Christentum unüberholbar geworden – das Volk, das unfähig ist, sich durch Mythen trösten zu lassen. Das kennzeichnet Israels „Armut im Geiste“. Diese Armut ist die Voraussetzung und ist der Preis für seinen Gottesgedanken. Israel blieb immer eine „Landschaft von Schreien“ – bis zu Hiobs Klageschrei: „Wie lange noch?“ Und bis zu Jesu Verlassenheitsschrei am Kreuz. Der Glaube Israels geriet nicht einfach zur tröstend-distanzierenden Antwort auf das Leid, sondern blieb ungetröstete Rückfrage aus dem Leid, unablässige Rückfrage an – Jahwe. Wieso aber ist dieser Schrei nach Jahwe nicht doch Produkt einer Idealisierung, wieso ist er nicht doch nur „die mythologische Chiffre für das ewig Ausständige einer Zukunft, die der Mensch aus seiner eigenen Leere heraus schafft, um sie (schließlich) wieder in das Nichts zurückfallen zu lassen, aus dem sie aufsteht“ (K. Rahner)? Was heißt: Israel glaubt an Jahwe – und nicht nur an seinen Glauben an Jahwe und darin nochmals an sich selbst und an die von ihm zur Absorption von Enttäuschung und Leid produzierten Jahwe-Mythen?
Das diesseitsbegabte, weltverstrickte Israel hat – nach allen wichtigen Zeugnissen – seinen rettenden Gott nicht hinterweltlich erfahren und gedacht, nicht als das Jenseits zur Zeit, sondern als deren zukommendes befristendes Ende. Diese Gotteserfahrung gilt für die abrahamitischen Traditionen – „Gott zieht Abraham auf den Weg“ –; sie gilt für das Exoduswort „Ich werde bei euch sein, als der ich bei euch sein werde“; sie gilt für die Krisen- und Umkehrbotschaft der Propheten, in der sich die Landschaft Israels in eine eschatologische Landschaft verwandelt; und schließlich gilt sie für die spätjüdische, tief ins Neue Testament hineinreichende Apokalyptik und ihre Theodizee. Gott „ist“ im Kommen. Dieses Kommen, weder extrapolierbar noch antizipierbar, konstituiert „die Urschicht der imaginativen Wahrnehmung der Wirklichkeit“ (H. Jonas) im spätjüdisch-neutestamentlichen Denken.
Diese Apokalyptik ist ja in ihrem Ansatz nicht – wie ihr in kritischer Absicht gern unterstellt wird – eine geschichtsferne, katastrophensüchtige Spekulation über den Zeitpunkt des Endes der Welt, sondern der – gewiß kategorial verzerrte – Versuch der Aufdeckung des befristeten Wesens der Weltzeit selbst, jener Weltzeit, von der schließlich auch die geschichtliche Lebenszeit nicht abgekoppelt werden kann und darf. Es geht ihr nicht nur um eine Geschichtszeit innerhalb eines zeitenthobenen Kosmos, sondern um die Verzeitlichung des Kosmos selbst im Horizont befristeter Zeit. Hier, an dieser Gelenkstelle zwischen vorchristlichem Judentum und Christentum wird deutlich, worin das Proprium des biblischen Gottesdenkens liegt, das es von den vorderasiatisch-persischen Dualismen trennt, aber auch von seiner griechisch-hellenistischen Umwelt unterscheidet. Es wird erkennbar, was als Hintergrundannahme für die imaginative Wahrnehmung der Wirklichkeit zu gelten hat: die Verzeitlichung der Welt im Horizont befristeter Zeit.
Urchristliches Weltverständnis im Horizont befristeter Zeit
Das gilt nun unabweislich auch und gerade für die Gründungsgeschichte des Christentums. So unterschiedlich z. B. auch die einzelnen Glaubensweisen innerhalb des Urchristentums gekennzeichnet werden mögen, etwa zum einen die synoptische und zum andern die paulinische Glaubensweise, in einem konvergieren sie offensichtlich: sie erfahren und bestimmen sich innerhalb eines Weltverständnisses im Horizont befristeter Zeit. Was die Theologie später „Naherwartung“ nennen wird, umspannt die ganze neutestamentliche Szene. Schließlich hat in ihrem Horizont Jesus gelebt und gelitten und unter ihrem Zeitverständnis hat Paulus seine Christologie formuliert. Die ist selbst noch ganz und gar von der Wiederkunftslehre geprägt. Auch christologisch gilt: Gottes Gekommensein ist im Kommen. Die paulinische Christologie ist keine Ideologie der geschichtlichen Sieger. Paulus selbst sprengt in seine Christologie Zeitelemente ein; man höre nur einmal: „Wenn die Toten nicht auferweckt werden, ist auch der Christus nicht auferstanden“ (vgl. 1 Kor 15, 16 und 13f.).
Hier ist also die Wahrnehmung von Welt im Horizont befristeter Zeit noch nicht an den gnostischen Mythos der Zeitentwichtigung verschenkt. Hier sind Christologie und Eschatologie noch nicht fein säuberlich getrennt, und dieser Eschatologie ist der apokalyptische Stachel noch nicht gezogen. Hier hat sich die christliche Endzeitlehre wie das christliche Zeitverständnis noch nicht in eine sanfte, entwicklungsgläubige Eschatologie verwandelt. Hier ist die zeitliche Gespanntheit der Hoffnung, ist ihr Erwartungscharakter noch nicht – aus lauter Enttäuschungsangst – umgetauscht, semantisch umgetauscht in eine zeitlose Hoffnung. Hier ist die Zeit als befristete Zeit noch der universale Horizont der Theologie, und die Theodizeefrage ist noch „die“ eschatologische Frage.
Müßte sie nicht auch „die“ Frage der Theologie heute sein und bleiben? Doch inzwischen scheint diese Frage längst entwichtigt oder beruhigt, gewissermaßen überbeantwortet zu sein: z. B. durch universalgeschichtlich orientierte theologische Sinngebungsversuche des Weltlaufs, durch heilsoptimistische Evolutionseschatologien, durch Reduktion auf einen gnostisch anmutenden Identitäts- und Eigentlichkeitsmythos der menschlichen Existenz, durch zu viel trinitätstheologisch eingekreistes und aufgehobenes Leiden in Gott und zu wenig zeitlich gespanntes Leiden an Gott, durch zu viel theologisch kluge Antworten auf die Fragen: Wer ist Gott? Wo ist Gott?, und durch zu wenig Artikulation der biblischen Urfrage: Wo bleibt Gott? Schließlich endet mit dieser Frage, endet mit diesem nun christologisch angeschärften Schrei die Sprache des Neuen Testaments.
Weltwahrnehmung, paulinisch
An Paulus wäre die Tragweite eines Weltverständnisses zu erkennen, wie es die biblische Gottesrede leitet. Gewiß, auch das corpus paulinum ist nicht auf einen strikt einheitlichen Nenner zu bringen. In ihm gibt es auch gnosisnahe Aussagen, und nicht ganz von ungefähr wird sich später Markion als Sohn des Paulus vorstellen. Doch die Weltwahrnehmung im Horizont befristeter Zeit dominiert.
Dabei bedeutet für Paulus die Vorstellung von Zeit als befristeter nicht etwa eine Entleerung und Entwürdigung der Zeit und der in ihrem Horizont begegnenden Wirklichkeit. Sie ist für ihn keineswegs belanglose Durchgangszeit, nicht Wartezimmerzeit. Der Horizont befristeter Zeit bedeutet keine Entwichtigung von Gegenwart; im Gegenteil: erst in ihm wird „Gegenwart“ in jener emphatischen Weise erfahrbar, wie sie für Paulus kennzeichnend ist. Paulus ist Missionar. Ohne ihn und seine Sendungstätigkeit ist das geschichtliche Projekt Europa, das, was wir später „christliches Abendland“ nennen, undenkbar. Im Horizont befristeter Zeit wandelt sich Welt zur Geschichtswelt; die Erfahrung von Zeit als befristeter wird zur Wurzel des Verständnisses von Welt als Geschichte und zum Auftakt geschichtlichen Bewußtseins.
Paulus ist offensichtlich auch keineswegs ein Untergangsfanatiker; er überzieht und vergiftet nicht die politische Landschaft mit zelotisch angeschärften Untergangsphantasien. Man lese nur einmal sein (uns heute eher irritierendes) nüchternes Plädoyer für den römischen Staat in Röm 13. Der Horizont befristeter Zeit macht uns weder zu Voyeuren noch zu Terroristen des eigenen Untergangs. Totalitäts- und aggressionsanfällig wurde das Christentum eigentlich erst, seit es versucht, den Naherwartungsgedanken und den Wiederkunftsgedanken völlig zu entzeitlichen: etwa durch strikte Moralisierung, also durch die Verwandlung der Eschatologie in reine Ethik. Das führte zur apokalyptischen Überanstrengung des sittlichen Handelns; und hier lauert tatsächlich die Gefahr des Fanatismus.
Die paulinische Gottesrede als Wahrnehmung und Auslegung der Welt im Horizont befristeter Zeit zwingt dieses Ende der Zeit keineswegs mit apokalyptischem Terror herbei. Sie erzählt, erinnert und feiert es als „Fest der Erwartung“. Bis heute steht im Zentrum des eucharistischen Kultes das Bekenntnis „… bis Du wiederkommst in Herrlichkeit“. Doch ist diese Feier noch ein „Fest der Erwartung“? Und hat die Theologie dieses „Erwarten“, das zur Wahrnehmung von Welt im Horizont befristeter Zeit gehört, nicht längst aus ihrem Logos ausgeschieden und an Frömmigkeit und Liturgie delegiert?
Die gnostische Dauerversuchung
Früh frißt diese Gefahr der Entzeitlichung an der Seele des Christentums. Man behauptet zwar heute vielfach, die Enttäuschung der Naherwartung, die ausbleibende Parusie habe keine Grundlagenkrise des frühen Christentums hervorgerufen. Doch diese Behauptung überspielt bzw. verharmlost m.E. einen wichtigen Befund. Ich nenne ihn die markionitisch-gnostische Dauerversuchung der christlichen Theologie, die gnostische Verwundung des biblischen Gottesgedankens. Bekanntlich tritt Markion aus Kleinasien in der Dämmerstunde des Urchristentums mit einem argumentationsstrategischen Angebot zur Absorption der Naherwartungsenttäuschung und zur Stillegung der Theodizeefrage auf. Gegen die Pointe des biblischen Gottesgedankens, daß das Heil nicht einen zeitlosen Kern, sondern einen Zeitkern habe, setzt er das gnostische Axiom von der Zeitlosigkeit des Heils und der Heillosigkeit der Zeit (Ernst Bloch, Jakob Taubes), um damit die urchristliche Naherwartung endgültig zu entspannen. Und die offene Flanke der Theodizeefrage, die in der Gestalt der Klage, des Schreis und der unbesänftigten Erwartung die geschichtliche Entfaltung des biblischen Gottesgedankens begleitet, sucht er durch den gnostischen Dualismus von Schöpfer- und Erlösergott zu schließen.
Gewiß, die frühe Kirche hat dieses Angebot dezidiert verworfen. Selbst den sublim-genialen Vermittlungsversuch des Origenes hat sie nicht gelten lassen. Nicht ihm ist sie gefolgt, sondern Irenäus, dem großen antimarkionitischen Polemiker. Sie reklamiert gegen Markion und die Gnosis das, was wir heute „universale Eschatologie“ nennen. Doch sie tut es um einen hohen Preis. Sie handelt sich nämlich eine ständige, geradezu konstitutionelle Gefahr ein, die Gefahr der Entzeitlichung, oder genauer: die ständige Gefahr der zeitlichen Halbierung der Eschatologie. Der Zeitbegriff wird lebenszeitlich und schließlich geschichtszeitlich eingeschränkt und vom Begriff der Weltzeit abgekoppelt. Die vom Kommen Gottes befristete Zeit, Horizont der biblisch bezeugten Gottesgeschichte, wird immer wieder entwichtigt oder gänzlich aus der Eschatologie verdrängt.
Dieser Rache der Gnosis am Christentum leistet übrigens, wenn ich recht sehe, sehr früh der Neuplatoniker Plotin epistemologischen Sukkurs. Sein Einfluß, der in der christlichen Religionsphilosophie zumindest bis Hegel reicht, zwingt die christliche Theologie immer wieder unter das Joch eines strikten Identitätsdenkens, gegen das sich auch die mittelalterliche Analogielehre nur schwer behaupten konnte. Durch Plotin vermittelt, tritt das erkenntnistheoretische Axiom „Gleiches kann nur von Gleichem erkannt werden“ seine anonyme Herrschaft in der christlichen Theologie an. Dieses Axiom aber stellt die höchste Reflexionsstufe einer zeitlosen Selbstreflexion des Absoluten dar (Jürgen Moltmann); die Zeit selbst hat keinerlei kognitive Würde. Das ursprüngliche Erkenntnisaxiom des biblischen Gottesgedankens müßte dagegen viel eher lauten: Nur Ungleiches erkennt einander; Verwunderung, Erwartung, Anerkennung, Konfrontation mit Neuem – das alles gehört in die Erkenntnisstruktur einer dem biblischen Gottesgedanken verpflichteten Theologie. Doch früh setzt die Gefahr der Entzeitlichung des christlichen Logos ein. Noch vor den großen christologischen und trinitätstheologischen Grundlagendiskussionen und Streitigkeiten ab dem 4. Jahrhundert gibt es eine Krise des Zeitverständnisses im Christentum, eine Krise, die bis heute schwelt. Ich möchte dazu hier nur noch einige Beobachtungen mitteilen, die auf die anhaltende gnostische Versuchung der Theologie und auf ihre damit gegebene Anfälligkeit für gnostische oder gnosisnahe Mythen der Zeitentwichtigung zielt.
Zeiteskapismus der Theologie
Es scheint, daß die Theologie immer wieder in der Gefahr steht, das ihr von ihrem biblischen Erbe aufgedrängte Zeitverständnis und die damit zusammenhängende Weltwahrnehmung preiszugeben und ihr eigenes Zeit-Wort von der Befristung der Zeit zu vergessen. Sie lebt vielfach von fremden, geborgten Zeitverständnissen, die es fraglich machen, wie in Verbindung mit ihnen der Gott der biblischen Überlieferung überhaupt noch zu denken sei: so von der zyklischen Zeit; so von der in den prästabilierten Kosmos eingeborgenen Zeit; so von der linear-teleologischen Zeit; so vom Fortschrittskontinuum, entweder evolutionistisch leer ins Unendliche wachsend oder aber auch dialektisch verzögert; so von der strikt lebensgeschichtlich individualisierten Zeit, abgekoppelt von der Welt- und Naturzeit – und so vermutlich gar bald, viele Signale weisen gegenwärtig darauf hin, erneut von gänzlich mythischen Zeitvorstellungen. Symptomatisch für diese Zeitvergessenheit in der Theologie ist für mich übrigens auch die Art und Weise, in der Martin Heidegger theologisch beerbt wurde: nicht etwa als derjenige, der mit „Sein und Zeit“ begann, die Prämissen einer zeit-losen Metaphysik (wenn vielleicht auch in die falsche Richtung!) zu hinterfragen, sondern als der existentiale Analytiker des Daseins.
Vermutlich hängt dieser Zeiteskapismus in der Theologie damit zusammen, daß die Theologie immer wieder dazu neigt, sich durch Selbstzensur ihres biblischen Gottesgedankens von dessen anstößigsten Zumutungen zu befreien: von Naherwartung und Wiederkunftslehre. Entweder werden sie argumentationsstrategisch überhaupt ausgelassen, oder sie werden in ihrer Zeitstruktur interpretatorisch übertüncht und hermeneutisch stillgestellt. Wie sollte man sich auch sonst das Odium der Lächerlichkeit oder der Unzurechnungsfähigkeit heute ersparen können? So etwa formuliert die berühmte Entmythologisierungsthese Bultmanns: „Die mythologische Eschatologie ist im Grunde durch die einfache Tatsache erledigt, daß Christi Parusie nicht, wie das Neue Testament erwartet, alsbald stattgefunden hat, sondern daß die Weltgeschichte weiterlief und – wie jeder Zurechnungsfähige überzeugt ist – weiterlaufen wird.“ Aus lauter Angst vor Unzurechnungsfähigkeit wirft sich hier die Theologie in die Arme einer evolutionistisch entfristeten Zeit („die einfach weiterläuft“) – und dies offensichtlich ohne den geringsten Verdacht, daß gerade sie der zu diskutierende Zeitmythos sein könnte, von dem gleich noch zu sprechen sein wird.
Früher schon hatte der junge Karl Barth die sog. „konsequente Eschatologie“ und deren Konzentration auf die „ausgebliebene Parusie“ mit der sarkastischen Frage abgetan, wie denn wohl etwas solle „ausbleiben“ können, was seinem Wesen nach überhaupt nie „eintreten“ könne.
So berechtigt Barths Kritik an der Vorstellung ist, wonach die Wiederkunft Christ „innerhalb“ der Zeit „eintritt“, so wenig ist mit dieser Kritik doch die theologische Zeitfrage überhaupt erledigt oder geklärt; es ginge vielmehr darum, die Wiederkunftslehre gerade als Lehre von der befristeten Zeit zu begreifen. Karl Rahner, der mir immer nahe Lehrer, hat mich gleichwohl mit seiner Formulierung „Christus kommt wieder, insofern alle bei ihm ankommen“ irritiert. Drückt sich denn nicht auch darin eine völlige Entzeitlichung des Wiederkunftsgedankens bzw. die Projektion der Zeit auf die individuelle Lebenszeit aus?
Christologie als Logik befristeter Zeit?
Die in der zeitgenössischen Theologie häufigste Form, sich von Naherwartung und Wiederkunft zu entlasten, ist die sog. Weltbildthese. Man verschenkt beides freimütig an die mythischen Weltbilder archaisch-biblischer Zeit, wie man das nennt, so als gäbe es ein weltbildfreies, gewissermaßen ein nacktes Christentum, einen nackten biblischen Gottesgedanken, den man dann je nach Bedarf und Geschmack mit unterschiedlichen Weltbildern umkleidet. Doch die imaginative Wahrnehmung von Welt im Horizont befristeter Zeit steht für den biblischen Gottesgedanken nicht zur Disposition! Es sei denn, man habe ihn selbst schon längst an einen Mythos der Zeitentwichtigung verschenkt, so wie man vorher schon die Zeitkategorien der Erinnerung und der Erzählung aus dem Logos der Theologie ausgeschieden und an den Mythos verschenkt hat. Denn natürlich muß der Logos der Theologie selbst erinnern und erzählen, wenn er die Wahrnehmung von Welt im Horizont befristeter Zeit besprechen und verteidigen will. Nicht die „Kompensation“ des Logos durch Mythen wäre die entscheidende Aufgabe, sondern die Einbeziehung der Erinnerung und der Erzählung in den Logos der Theologie selbst.
Und das gilt gerade auch für die spezifisch christliche Gottesrede. Denn wenn die Christologie betont, Gott habe sich in Jesus Christus „endgültig“ mitgeteilt, Gott sei in Jesus Christus „unwiderruflich“ bei uns angekommen, dann impliziert sie damit eine Zeitaussage. „Endgültigkeit“ nämlich, „Unwiderruflichkeit“ – für alle und alles – kann nur im Horizont befristeter Zeit ausgesagt werden; im Horizont induktiv unendlicher Zeit gibt es nichts Endgültiges, nur Hypothetisches. Die Logik befristeter Zeit aber hat anamnetische, hat narrative Tiefenstrukturen.
Auf den Spuren des Mythos der Moderne
Nun zeigt sich auch in der gegenwärtigen intellektuellen Kultur eine neue Erzählfreudigkeit. Es geht um den – vor allem in den gegenwärtigen Philosophien Europas und Nordamerikas inszenierten – Versuch der Wiedergewinnung, des Rückrufs von Mythen, die ja schon ihrem Wortsinn nach „Erzählungen“ bzw. „Geschichten“ bedeuten. Mit dieser Revitalisierung der Polymythie – bis hin zum Neopolytheismus – sucht man sich vom Bann der weltdeutenden „Großerzählungen“, der sog. Monomythen der Religionen und ihrer Säkularisate, der totalitätsanfälligen Geschichts- und Gesellschaftsideologien der Moderne zu befreien. Das Lob der Polymythie hat bis in die Theologie hinein Konjunktur. Deshalb ist um so genauer zuzusehen. Denn m. E. bleibt ein Abgrund zwischen dem im biblischen Gottesdenken verwurzelten geschichtlichen Erzählen und Erinnern und den postmodernen Remythologisierungstendenzen.
Um diese Konfrontation zwischen Theologie und neuen Mythologien sichtbar und diskutierbar zu machen, bediene ich mich einer Vermittlung, die durch die vorausgehenden Überlegungen vorbereitet ist: der Vermittlung durch die Frage nach der Zeit. Dadurch ergibt sich eine Problemkonstellation, die ich zunächst in (allzu) geraffter Form vorstellen möchte.
Der Großmythos, der selbst weder begründungsfähig noch begründungsbedürftig erscheint, der als mythische Totalität im Hintergrund der Moderne wirksam ist und unter dessen anonymem Druck wir „vernünftig“ denken und handeln, ist ein Zeitmythos: die Imagination von Welt im Horizont unbefristeter, evolutionistisch entfristeter Zeit. Das verschwiegene Interesse der herrschenden Rationalität ist die Fiktion von Zeit als einer leeren, überraschungsfreien Unendlichkeit, die allenfalls verendet, nie aber endet und in die alles und alle gnadenlos eingeschlossen sind und die jede substantielle Erwartung zersetzt. Die Herrschaft dieses Zeitmythos vollendet sich im Tod der Geschichte und des uns geschichtlich vertrauten und anvertrauten Menschen.
Anzeichen für diese Herrschaft des Zeitmythos lassen sich nicht zuletzt im politisch-kulturellen Leben ausmachen. Nicht Überpolitisierung, nicht zu viel distanzlose Praxis sehe ich als heraufziehende Gefahr unserer politischen Kultur, sondern eher eine Form tiefer Politiklosigkeit, ein privatistisches, anpassungsschlaues Nischendenken, einen eher voyeurhaften Umgang mit gesellschaftlichen und politischen Krisen. Es sind nicht eigentlich revolutionär angeschärfte Naherwartungsattitüden, die unser politisches Leben bedrohen, sondern weit eher eine evolutionistisch entspannte, von der Erfahrung leerer, gewissermaßen zeitloser Zeit überwältigte Resignation, die schon längst die seelischen Grundlagen unseres gesellschaftlichen Lebens erreicht hat, ehe wir unter dem Stichwort der neuen Mythen auch noch erfolgreich in sie eingeübt werden sollen. Denn, und das ist entscheidend, die Herrschaft dieses Zeitmythos wird durch die noch- oder nachmodernen Mythologien, durch das neue Lob der Polymythie nicht gebrochen, sondern ohnmächtig und perspektivenlos gespiegelt.
Die neuen Mythologien sind eine Kompensationsveranstaltung gegenüber der herrschenden Wahrnehmung von Welt. Wie aber läßt sich durch Kompensation zurückgewinnen, was die wahrnehmende Vernunft längst preisgegeben hat? Das Erzählen und Erinnern sind durch den Zeitmythos im Hintergrund der Moderne längst entsubstantialisiert, ihrer kommunikativen Würde beraubt und dem Verdacht der Beliebigkeit unterworfen. Hier rettet keine Remythologisierung, keine mythische Kompensation technischer Rationalität, sondern nur, wenn ich recht sehe, ein Wandel in der imaginativen Wahrnehmung von Welt und Wirklichkeit überhaupt. Die Theologie kämpft in dieser Situation um den jüdisch-christlichen Gottesgedanken und die ihm korrespondierende Wahrnehmung von Welt im Horizont befristeter Zeit. Diese Wahrnehmung rettet in ihren Augen die Substanz geschichtlichen Lebens und die subjekthafte, unbeliebige Freiheit der Menschen. Sie allein kann auch die kognitive und praktische Verbindlichkeit von Erinnerungen und Erzählungen garantieren.
Die Konfrontation auf den Punkt gebracht: Nietzsche
Ich kann in diesem Zusammenhang die Konfrontation zwischen Theologie und neuen Mythologien nur unter einem Gesichtspunkt näher erläutern. Es geht um einen Blick auf Nietzsche. Unbestreitbar ist er der (wenn zuweilen auch genierlich verleugnete) Vater der neuen Mythologien. Und von ihm ist ganz genau zu erfahren, worum es geht. Er kennt und nennt die Prämissen des neuen Mythendenkens. Die erste Voraussetzung lautet: Gott ist tot. Nietzsche formuliert den Nachruf auf Gott im Herzen des europäischen Abendlandes. Doch Nietzsche spricht von einer zweiten Voraussetzung, die sich unerbittlich aus der ersten ergibt: Der Mensch ist tot. Nietzsche formuliert auch den Nachruf auf den Menschen, wie er uns bisher geschichtlich vertraut und anvertraut war. Er redet vom Tod des Subjekts, hält das Subjekt für eine bloße „Fiktion“ und die Rede vom „Ich“ für einen Anthropomorphismus. Er beschreibt den Zerfall der wahrheitsfähigen Sprache im subjektlosen Taumel der Metaphern. Er verkündet das Ende der Geschichtszeit, weil Geschichte, ist nur einmal der Horizont des Gottes weggewischt, in eine anonyme, zeitlich entfristete Evolution stürzt, die nichts will und nichts sucht als Evolution.
Nietzsche enttarnt die mythische Totalität im Hintergrund der Moderne. Er legt sie auf ihre Konsequenzen fest, die er als die Prämissen seiner eigenen Mythenlehre formuliert: Tod Gottes, Tod des Menschen. So wäre also, was wir treuherzig und naiv immer noch „den Menschen“ nennen, längst ein Anachronismus. Diesen Menschen, sollte es ihn je gegeben haben, gibt es eigentlich nicht mehr. Um zu wissen, was der Fall ist, ist von seinem Tod auszugehen. Zumindest bei französischen Denkern ist, im Gefolge Nietzsches, dieser Tod des Menschen eine ausgemachte Sache. Und deutsche Gründlichkeit hat ihn auch schon systemtheoretisch erläutert und eingeordnet: Es gibt keine Subjekte, nur selbstreferentielle Systeme. In ihnen herrscht nicht etwa die Spontaneität einer geschichtlichen Freiheit, sondern die Weltraumkälte einer unendlich gleichgültigen Evolution. Was in ihr an den Menschen erinnert, der wir einmal waren, ist allenfalls gestaltlose, wahrnehmungsferne und handlungsferne Angst. Gewiß, das ist nicht Nietzsche, sondern der eher mythenskeptische Niklas Luhmann.
Doch kann sich denn Nietzsche selbst dem Bann des von ihm durchschauten Zeit- und Menschenbildes entziehen? Er formuliert bekanntlich seine Gegenbotschaft auch als eine Zeit-Botschaft: als die Lehre von der ewigen Wiederkehr des Gleichen. Sie nennt er seinen „abgründigsten Gedanken“. Diese Lehre von der Wiederkehr des Gleichen ist, worauf vor allem Martin Heideggers einschlägige Überlegungen immer wieder hingewiesen haben, engstens verknüpft mit der Lehre vom Übermenschen. Beide gehören zusammen wie die zwei Seiten einer Münze. Nietzsche mißtraut jeder bloßen Kompensationsanthropologie. Sie bleibt für ihn – zu Recht, wie ich meine – ein für allemal an das verloren, gegen das sie angeht; sie kann am Menschen nicht gutmachen, was sie durch Resignation in den herrschenden Zeitmythos längst preisgegeben hat. Nietzsche geht es nicht um Kompensation, sondern um die substantielle Umkehrung des Prozesses der Moderne. Dem fristlosen Werden soll, als höchstem Ausdruck des Willens zur Macht, der Charakter des Seins aufgeprägt werden, wie es in einer als „Rekapitulation“ bezeichneten Notiz Nietzsches von 1885 heißt. Das Vergehen soll als ständiges Werden in der ewigen Wiederkunft des Gleichen vorgestellt und so ständig und beständig gemacht werden, um damit „des Willens Widerwillen gegen die Zeit“ zu überwinden.
Ich möchte hier die Vermutung äußern, daß auch Nietzsches Radikalmythologie eine Beute jenes Zeitmythos bleibt, gegen den sie hellsichtig anzugehen sucht. Diese Vermutung wäre wohl am ehesten am Schicksal des Gedankens vom Übermenschen zu erläutern. Nun haben wir inzwischen einige geschichtliche Inszenierungen unter Berufung auf diesen Übermenschen-Gedanken Nietzsches erlebt, die es verbieten, mit ihm ohne Schreckensverdacht umzugehen. Mein Erschrecken bezieht sich darauf, daß die trivialste Verwirklichung des Übermenschen die wahrscheinlichste sein könnte. Schließlich hat erst vor einigen Jahren das New Yorker Magazin „Time“ diesen Menschen nach dem Tod des Menschen, diesen Nachfolger des Menschen als „Mann des Jahres“ porträtiert: den Roboter, eine computerisierte Intelligenz, die an keinem Vergehen mehr leidet, weil sie nichts vergessen kann, an keinem „Widerwillen des Willens gegen die Zeit“; eine Intelligenz ohne Geschichte, ohne Pathos und ohne Moral, die zur Maschine erstarrte Rhapsodie der Unschuld. So könnte der Übermensch gerade zur Apotheose jener mythischen Totalität geraten, die er mit seinem Willen, das fristlose Werden in Beständigkeit umzuprägen, endgültig brechen wollte. Ich will und muß es hier bei dieser Vermutung belassen.
Nicht die Flucht in den Mythos rettet
Den Apologeten in mir interessiert an Nietzsche noch etwas anderes. Es handelt sich um den bei ihm hellsichtig hergestellten Konnex zwischen dem Tod Gottes und dem Tod des Menschen. Nietzsche kennt das Echo auf den Schrei seines „tollen Menschen“: Wohin ist Gott? Es lautet: Wohin denn der Mensch? Daraus ziehe ich hier, apologetisch verkürzt, einen Umkehrschluß: Wer dem Dahinschwinden des Menschen und seiner geschichtlichen Welt, wer der Auflösung seines Gedächtnisses ins reine Experiment widerstehen will, wer seine subjekthafte Identität, seine wahrheitssuchende Sprache, seine Verständigungsmöglichkeiten, seinen ungesättigten Hunger und Durst nach Gerechtigkeit retten will, der kann das nicht durch Flucht in den Mythos und in die Polymythie, sondern nur durch eine theologische Hintergrundannahme. Und was die auf den Tod des Menschen und seiner Geschichte bereits mythisch eingeschworene Noch- oder Nachmoderne in Rechnung zu stellen hätte, wäre die Subversion des in den jüdisch-christlichen Traditionen verwahrten Gottesgedankens mit seiner Wahrnehmung und Gründung von Welt im Horizont befristeter Zeit. Er wird uns auch weiterhin nötigen und ermöglichen, von Humanität und Solidarität, von Unterdrückung und Befreiung zu reden und gegen himmelschreiende Ungerechtigkeit zu protestieren. So wäre also nicht die Polymythie, sondern der biblische Monotheismus eine Verteidigung des Menschen. Und die neue Mythologie mit ihren Polymythen wäre am Ende so etwas wie die Religion, die Weltanschauung und Weltgründung nach dem Tod der Geschichte und nach dem Tod des Menschen.
Wenn die Theologie auf den Mythos evolutionistisch entfristeter, leerer Zeit im Hintergrund der europäischen Moderne aufmerksam macht, dann ruft sie damit keineswegs – hilflos oder arrogant – nach der Abschaffung unserer wissenschaftlich-technischen Zivilisation und ihrer Errungenschaften. Sie proklamiert nicht etwa den fahrlässigen Wunsch nach Euthanasie der Technik. Sie fragt vielmehr nach einer imaginativen Wahrnehmung von Welt, in der Wissenschaft und Technik auf ihren instrumentellen Charakter festgelegt bleiben. Sie fragt nach Befristungsmöglichkeiten der immer mehr selbstlaufenden, immer subjektloser wirkenden Modernisierungsprozesse, in denen der Mensch immer weniger sein eigenes Gedächtnis und immer mehr nur noch sein eigenes Experiment ist. Ehe wir auf diese Fragen nach Antworten, nach Orientierungs- und Widerstandsreserven in fernen Kulturen suchen, hätten wir auf die Tiefendimensionen unserer eigenen zu achten – und reichten sie zurück bis in die Wurzeln des biblischen Gottesdenkens.
Herder Korrespondenz 42, 1988, S. 187-193.