Karl Barth, Dieses und das zukünftige Leben. Zu 1. Korinther 15,19-20: „Es gibt nichts Erbärmlicheres als das christliche Leben, wenn ihm jene Hoffnung fehlt: nichts Erbärmlicheres als dieses Leben unter dem Zei­chen des ewigen Lebens, wenn das Zeichen uns doch gar nichts zeigt, wenn das ewige Leben doch gar nicht ist; nichts Erbärmlicheres als ein Pfeil zu sein, der doch nie zum Ziele fliegen wird. Armer Christ — und wenn er Christus noch so viel Stärkung, Vertiefung und Verbes­serung, und wenn er ihm die größte Verklärung in diesem Leben zu verdanken hätte — ohne die Zukunft des ewigen Lebens!“

Dieses und das zukünftige Leben

Von Karl Barth

Wenn wir nur in diesem Leben auf Christus hof­fen, so sind wir erbärmlicher dran als alle Men­schen. Nun aber ist Christus von den Toten erweckt als Erstling der Entschlafenen. (1. Kor. 15,19–20.)

Wir dürfen und sollen auch in diesem Leben auf Chri­stus hoffen. In diesem Leben: im Verlauf und in der Ent­faltung dieses unsres zeitlichen Daseins, im Blick auf das, was jetzt und hier aus uns werden soll. Lesen wir doch an anderer Stelle (1. Tim. 4,8) ausdrücklich, dass die Fröm­migkeit „die Verheißung dieses und des zukünftigen Le­bens“ habe. Christus hat unzähligen Menschen zur Auf­richtung und Stärkung, zur Bereicherung und Vertiefung, zur durchgreifenden Verbesserung, er hat manchem zu einer förmlichen Verklärung dieses Lebens verholfen. Er ist seiner Kirche und er ist ganzen Völkern zum Führer, Lehrer und Erzieher in diesem Leben geworden. Wir dürfen und sollen wohl hoffen, dass er auch uns ein großes Licht dieses Lebens werden, sein und bleiben möchte.

Wir können aber nicht nur in diesem Leben auf Chri­stus hoffen. Denn was er uns in diesem Leben werden und sein kann, das ist wie das Brot und der Wein des Abendmahls nur das Zeichen dessen, dass er uns mit seinem Leib und Blut speist und tränkt zum ewigen Leben. Wir sind in diesem Leben dazu erwählt, berufen und bestimmt, in diesem künftigen, ewigen Leben ganz und für immer bei Gott zu sein, um ihn in der Gemeinschaft aller Kinder Gottes zu lieben und zu loben in vollkom­mener Freude und Gerechtigkeit. Wir sind Pfeile, auf Gottes Bogen gelegt, nach diesem Ziele gerichtet. Es hat alles, was Christus uns in diesem Leben werden und sein kann (und damit alles, was uns in diesem Leben zugute kommen kann), seinen Sinn in dieser Zukunft. Es ist Wegzehrung für das ewige Leben. In dieser Hoffnung sind und haben wir, was wir als Christen in diesem Leben sein und haben dürfen. So können wir nicht nur in diesem Leben auf Christus hoffen.

Der Apostel hat aber etwas Schärferes zu dieser Sache gesagt: „Wenn wir nur in diesem Leben auf Christus hof­fen, so sind wir erbärmlicher dran als alle Menschen.“ Und Luther hat dieses Wort noch schärfer übersetzt: „so sind wir die elendesten unter allen Menschen.“ Also: Wenn wir nur in diesem Leben auf Christus hoffen, dann leiden wir nicht nur an einem Mangel, den man allen­falls übersehen und ertragen könnte. Wir erleiden dann vielmehr ein Unglück, das größer ist als das größte Un­glück, das irgendwelche Menschen, z. B. die armen Heiden oder die ausgesprochen Bösen und Gottlosen in diesem Leben erleiden können. Denn es gibt nichts Erbärmlicheres als das christliche Leben, wenn ihm jene Hoffnung fehlt: nichts Erbärmlicheres als dieses Leben unter dem Zei­chen des ewigen Lebens, wenn das Zeichen uns doch gar nichts zeigt, wenn das ewige Leben doch gar nicht ist; nichts Erbärmlicheres als ein Pfeil zu sein, der doch nie zum Ziele fliegen wird. Armer Christ — und wenn er Christus noch so viel Stärkung, Vertiefung und Verbes­serung, und wenn er ihm die größte Verklärung in diesem Leben zu verdanken hätte — ohne die Zukunft des ewigen Lebens! Denn weil er ein Christ ist, wird ihm fehlen, was die andern haben: die glückliche Ahnungslosigkeit eines Lebens ohne Gott und also ohne letzte Fragen und ohne gründliche Sorge, und wird er erleiden, was die an­dern nicht leiden müssen: das Wissen um Gottes Gesetz und Gericht, die Anfechtung seiner eigenen Sünde, die Not, mit sich selbst und mit der Welt im Kampfe stehen zu müssen Tag und Nacht bis an sein Lebensende. Und weil er die Zukunft des ewigen Lebens nicht hat, darum wird sein ganzes Christsein doch nur eine unnütze Übung sein: eine große Leere und Sinnlosigkeit, eine einzige Säure und Bitternis. Wollten wir wirklich nur in diesem Leben auf Christus hoffen, so würde das heißen, dass wir unser Leben zwar verlieren, aber närrischer Weise nun doch nicht erhalten wissen wollten. Könnten wir uns selbst und andern unter diesen Umständen verbergen, dass es uns bes­ser wäre, Heiden oder Gottlose als gerade Christen zu sein?

„Nun aber ist Christus von den Toten erweckt als Erst­ling der Entschlafenen.“ Das ist die Tatsache, in deren Licht das Christentum von solchen, die nur in diesem Leben auf Christus hoffen und damit das ganze unbeschreibliche Elend eines solchen Christentums zu einem bösen Traume wird, zu einem hölzernen Eisen, könnte man auch sagen: zu einer Unmöglichkeit, die niemand leben kann und also auch niemand leben muss. Wir können auch in diesem Le­ben und gerade in diesem Leben nur darum auf Christus hoffen, weil er, von den Toten erweckt zum ewigen Le­ben, als Erstling der Entschlafenen uns in dasselbe ewige Leben ruft und nach sich zieht. Indem er das ist und tut, indem er uns allen voran und für uns alle in der ewigen Herrlichkeit Wohnung genommen hat, indem er von dort­her mit uns redet, kommt es dazu, dass wir in diesem Leben auf ihn hoffen dürfen. So und nicht anders! Das wäre gar nicht er, auf den wir nur in diesem Leben hoffen würden, wenn wir das schon wollten und könnten. „Was suchet ihr den Lebendigen bei den Toten? Er ist nicht hier, er ist auserstanden!“ Dort steht er: nicht diesseits, sondern gerade jenseits der Gräber, die dieses Lebens unerbittliche Grenze sind. Und das ist er: der aus dem unzähligen Heer der Toten Herausgenommene, der erste Entschlafene, dessen Todesschlaf ein Erwachen folgte, als wäre er ein Nacht­schlaf gewesen, wie wir ihn alle schlafen, der neue Mensch, der zweite Adam, unser zukünftiges Leben in Person! In­dem er das ist und dort steht, indem er um unsertwillen gen Himmel gefahren ist, wie er um unsertwillen auf Er­den gekommen war, indem er uns nicht allein lässt, son­dern uns nach sich zieht, indem er bei uns ist bis an der Welt Ende durch den Geist seines Wortes — so und nicht anders kommt es doch dazu, dass wir in diesem Le­ben auf ihn hoffen dürfen. Wie denn anders? Wer sollte also jemals nur in diesem Leben auf ihn gehofft haben? Wer nur in diesem Leben hoffte, der hätte wohl noch gar nicht angefangen, auf ihn, auf Christus zu hoffen. Wenn wir zu den sauer und bitter gewordenen Christen gehören sollten, dann wollen wir uns sagen lassen, dass das wirkliche Christentum, das dem Rufen und Ziehen des lebendigen Christus gehorcht, noch auf uns wartet.

Quelle: Leben und Glauben. Evangelisches Wochenblatt, 14. Jahrgang, Heft 43, Laupen-Bern, 23. März 1940, Seite 3.

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