Christoph Grubitz über den Aphoristiker Elazar Benyoëtz: „Was Kohelet Aktualität verleiht, ist auch in Benyoëtz’ Aphoristik zu finden: Die Desavouierung von billigen Trostreden und die Aufwertung des Vergänglichen. Ernst Blochs Wort, dass das Buch Kohelet den »oppressiv gebrauchten Jenseitsschreck wegnimmt«, gilt auch für Benyoëtz. Religion und Utopie erweisen sich so als ästhetischer Vorschein einer besseren Welt: »Das Geglaubte bleibt nicht aus, es ist das Ausbleibende.«“

Elazar Benyoëtz (geb. 24.3.1937 in der Wiener Neustadt)

Von Christoph Grubitz

Unter den deutschsprachigen jüdischen Apho­ristikern des 20. und 21. Jahrhunderts ist Benyoëtz eine Ausnahme: Kaum ein Werk ist so ausschließlich von der jüdischen Tradition und der deutsch-jü­dischen Geschichte geprägt. Der Autor hatte in Is­rael 1959 ein Rabbiner-Examen absolviert, wäh­rend er seit 1957 seine ersten Versuche als he­bräischer Lyriker un­ternahm. Es folgte 1960 eine Tätigkeit als Ar­chivar in Jerusalem, wo sich Benyoëtz besonders mit literarischen Zeitschrif­ten der Weimarer Re­publik beschäftigte. Da­raus erwuchs der Wunsch, Zeugen und Zeuginnen der deutsch-jüdischen Kultursymbiose wie Marga­rete Susman persönlich kennenzulernen. 1964 kam er im Rahmen des Programms »Artists in Residence« der Ford-Foundation nach Berlin-West und gründete dort 1965 das Archiv Bibliographia Judai­ca, das heute der Universitätsbibliothek Frankfurt am Main angeschlossen ist. Literarische Früchte dieser Zeit sind u. a. ein Buch über Annette Kolb (Annette Kolb und Israel, 1970).

Seit seiner Rückkehr nach Israel 1968 publiziert Benyoëtz ausschließlich in deutscher Sprache: in den 70er und 80er Jahren noch Aphorismen, seit Treffpunkt Scheideweg (1990) auch Gedichte, Briefe und colla­genartige Schreibverfahren. Es gehört zu Benyoëtz’ literari­schem Selbstverständnis, dass er, allerdings im Be­wusstsein der gescheiterten Assimilation, die jüdische Überlieferung in deutscher Sprache nach 1933/45 fortschreibt. Mit der Aphoristik stellt er sich in die Tradition nicht nur der hebräischen Spruchdichtung, sondern auch der deutsch-jüdi­schen Literatur des späten 19. Jahrhunderts, genau­er derjenigen Juden, die einen »dritten Weg« zwi­schen Assimilation und orthodoxer Abgrenzung suchten. Benyoëtz’ erster Aphorismenband bezieht sich auf das heikle deutsch-jüdische Verhältnis: Sahadutha. »Jegar Sahadutha« bedeutet auf Aramäisch »Stein­haufen des Zeugnisses« und meint einen wichtigen jüdischen Gedächtnisort: Es ist der »Steinhaufen« von Genesis 31,44-54, wo der exilmüde jüdische Gast­arbeiter Jakob mit seinem autoritären Schwiegerva­ter Laban Frieden schließt. Der Steinhaufen wird zum Symbol einer Identität, die sich in einem frem­den Sprach- und Rechtsraum behauptet. In den Variationen über ein verlorenes Thema arbeitet Benyoëtz die Bedeutung dieses Worts »Sahadutha« für Jakob – und für seine eigene deutsch-jüdische Dichtung – heraus: »Mit dieser Benennung […] werden das Gehör Jakobs und seine Verantwortlichkeit auf die Probe gestellt. Bei dem, was ihm bevorsteht, kommt es allerdings auf die Nuance an. Zwanzig Jahre hatte er keine andere Sprache gehört, und nun trat dieses eine Wort, wie aus jener Sprache herausgeschnitten, vor seine Seele: ein Fremdwort, eine einzige Her­ausforderung, ein Signal; in dem Augenblick kehrt sein Geist in den von ihm verlassenen Sprachkör­per zurück, der Bund wird also hebräisch besiegelt: Gal’es nennt Jakob den Steinhaufen, das heißt Steinhaufen des Zeugnisses.« Die Aphoristik er­scheint bei Benyoëtz als geeignete Form, um das Scheitern der von vielen Juden erhofften deutsch-jüdischen Symbiose zu vergegenwärtigen. Jüdische Religion und deutsch-jüdische Geschichte sind auch die zen­tralen Gegenstände von Benyoëtz’ Aphoristik: »Rom wie Jerusalem sind nur noch über Auschwitz zu errei­chen.« Deutlicher wird diese thematische, über die aphoristische Gattung jedoch hinausweisende Ori­entierung seit Treffpunkt Scheideweg (1990) – ge­meint ist die Assimilation, für Benyoëtz eine »Identitäuschung«. Die collagenartige Verbindung von Gedichten, kurzen Essays, eigenen und fremden Briefen und Zitaten, die er hier umsetzte, erweist sich als eine neuartige Form nicht-psychologisierender Erinnerungsprosa.

Von Anfang an bezieht Benyoëtz seine wortbewusste Schreibweise auf die jüdische Tradition: »Der Jude hält sich ans Wort, ist aber nicht wortgläubig.« Der mehrdeutige Titel Worthaltung (1977) weist etwa auf die skeptische Spruchdichtung im Buch Kohelet, dem das Motto entnommen ist: »Sei nicht schnell mit deinem Munde/ und laß dein Herz nicht eilen,/ etwas zu reden von Gott: denn Gott ist/ im Himmel und du auf Erden;/ darum laß deiner Worte wenig sein.« Was Kohelet Aktualität verleiht, ist auch in Benyoëtz’ Aphoristik zu finden: Die Desavouie­rung von billigen Trostreden und die Aufwertung des Vergänglichen. Ernst Blochs Wort, dass das Buch Kohelet den »oppressiv gebrauchten Jenseitsschreck wegnimmt«, gilt auch für Benyoëtz. Religion und Utopie erweisen sich so als ästhetischer Vorschein einer besseren Welt: »Das Geglaubte bleibt nicht aus, es ist das Ausbleibende.« Dass das Geglaubte das Aus­bleibende sei, lässt sich als ironische Reflexion auf ein zentrales Verfahren religiöser und utopischer Dichtungen auffassen: auf das Durchbrechen topo­graphischer und, seit der Aufklärung, auch zeit- und faktizitätsbezogener Erwartungen. Diese Vor­stellung entspricht dem Bilderverbot, auf das Benyoëtz seine Poetik des Sachprosa-Fragments begründet: »Aller Kult tendiert zu künstlerischer Vollendung. Dieser wird notwendig zur Vollendung des Gottes­bildnisses, das somit entlarvt wird. Was man in Handwerk und Kunstfertigkeit vollenden will, wird als Vollendung im Bilde (Gottes) geglaubt. Die Kunst macht glauben und läßt den Menschen im Bilde dieses Glaubens allein sein.«

Theologiegeschichtlich knüpft Benyoëtz an Versuche einer ethischen Begründung der Ontologie an, wie sie vor 1933 in Deutschland Buber und Rosen­zweig, nach 1945 von Frankreich aus Levinas versucht haben. Auch bei Benyoëtz ist die Idee der Verant­wortung als Neubegründung des göttlichen Bei­standsversprechens zentral: »Mit dem Versagen Adams begann die Ansprechbarkeit Gottes«, schreibt Benyoëtz und antwortet damit auf Rosenzweigs Deutung von Genesis 3,8f, wo Gott den sündigen Adam fragt: »Wo bist du?« Bei Rosenzweig heißt es: »Das Ich entdeckt sich in dem Augenblick, wo es das Dasein des Du durch die Frage nach dem Wo des Du behauptet.« Auch Benyoëtz konkretisiert das Dia­logische Prinzip des Alten Bundes an zwischen­menschlichen Beziehungen. Die Suche Adams soll vergegenwärtigen, dass das Ich ohne die Kategorie des Du defizient ist, dass auch die Gottes-Idee auf diesem Dialogischen Prinzip beruht und dass schließlich die Ich-Du-Beziehung in der Sprache angelegt ist. Benyoëtz’ Sprachbegriff erweist sich auch als Fortführung der sprachbezogenen Aphorismen von K. Kraus: »Meine Sprache macht mit mir, was ich will«, das ist Benyoëtz’ Antwort auf Kraus’ Aphoris­mus: »Ich beherrsche nur die Sprache der anderen. Die meinige macht mit mir, was sie will.« In diesem Sinne versteht Benyoëtz auch die Genesis als Entstehung von Verantwortung durch Sprache: »Sprache macht die Schöpfung zur Welt, den Schöpfer zum Gott, für diese Welt verantwortlich.«

Zu Benyoëtz’ Theologie gehört auch seine Umdeutung des Sündenfalls. Er versteht ihn nicht allein als Ver­dammung, sondern geradezu als Vollendung der Schöpfung des Menschen: »Aus dem Paradies ver­bannt – zur Welt gekommen.« Die Vertreibung aus dem Paradies ist kein Geschehen für sich, sondern gehört zur Erschaffung des Menschen. Mit der ers­ten Frage des Schöpfers an sein Geschöpf begann das Paradies zu schwinden, in der Vernehmlichkeit seiner Stimme ist es für immer versunken. Benyoëtz ver­bindet den Sündenfall so mit dem Dialog zwischen Menschen und Gott: »Mit dem Versagen Adams begann die Ansprechbarkeit Gottes.« Auch in der Sterblichkeit, dem Resultat des Sündenfalls, sieht Benyoëtz einen Vorzug: »Es kann keine Hoffnung geben, wo es den Tod nicht gibt. Um ihrer Hoffnung willen vertrieb Gott Adam und Eva aus dem Paradies; in die Hoffnung, in den Tod – von seiner Schöpfung, zu ihrer Zeugung.« In dieser Absage an den abend­ländischen Mythos vom Paradies und der Über­windung des Todes widerspricht Benyoëtz Elias Canetti, zu dessen dichterischen Anliegen ebenfalls ein »unerschütterter Haß gegen den Tod« zählt. Gegen Canetti hält Benyoëtz ein »Gedankenexperiment«: Ein Le­ben ohne Tod wäre das Ende der »Zeugung und der Hoffnung«. Schließlich verknüpft Benyoëtz auch den Zio­nismus mit der Idee des Sündenfalls: »Jüdische Hartnäckigkeit: das Paradies just da zu suchen, wo es der erste Mensch verloren hat.«

Zu den stilistischen Bezügen auf die jüdische Tradition gehört auch die poetische Überformung des Aphorismus mit dem biblischen Mittel des gleichförmigen Satzbaus, das in der modernen Poe­tik von Herder (Vom Geist der Ebräischen Poesie) über Goethe (Noten und Abhandlungen zum besseren Verständnis des west-östlichen Divans) bis hin zu Roman Jakobson als Keimzelle prominenter Versformen, ja als Muster von Dichtung überhaupt gilt. Benyoëtz zieht auch die hebräische Semantik ein, um wechselnde Bindungen von Ausdruck und Inhalt zu produzieren. Nur so wird die Assoziation »Ein Wort, ein Kuß, eine Lippenstiftung« möglich. Sie beruht auf dem hebräischen Nomen »Safa«, das Sprache und Lippe bedeutet. Die Metapher erin­nert an Sprüche Salomonis 24, 26, wo es heißt: »Eine richtige Antwort ist wie ein lieblicher Kuß.«

Goethe hat den Spruch wörtlich in seine Maxi­men und Reflexionen aufgenommen. Auch diese intertextuelle Möglichkeit nutzt B., um deutsch-jü­dische Tradition – und die jüdischen Quellen der deutschen Literatur und Sprache – zu vergegenwär­tigen.

Neben der deutsch-jüdischen Geschichte bleibt auch die Religion selbst ein wichtiges, wenn auch – nach dem Titel von 1997 – »verlorenes« Thema (Variationen über ein verlorenes Thema), aber auch als Maßstab für die beiden zentralen Ereignisse der Moderne: die Französische Revolution und den Holocaust. Das Buch Brüderlichkeit. Das älteste Spiel mit dem Feuer nimmt Brüderlichkeit zum An­lass einer Reflexion über das wohl berühmteste Brüderpaar der Weltliteratur: Kain und Abel. Auf die deutsch-jüdische ist die Geschichte vom bibli­schen Brudermord für Benyoëtz allerdings nur bedingt zu beziehen: »Kain für Nazi zu setzen, ist biblisch wie sprachlich eine Roheit, moralisch wie religiös ein Frevel.« Allerdings ist für eine Institution wie die »Woche der Brüderlichkeit« viel vom biblischen Brüderpaar zu lernen: Benyoëtz deutet die Geschichte von Kain und Abel als Eifersuchtsgeschichte. Kain habe demnach Abel für dessen höheres Ansehen bei Gott gehasst und getötet: »Gegen Vorzüge eines an­deren ist man wehrlos; machen sie sich bemerkbar, sind Entsagung oder Totschlag ihr Resultat.« Auf die Beziehung von Deutschen und Juden verweist auch eine Definition des Judentums in Form eines Wortspiels, das so wohl nur in der deutschen Spra­che möglich ist: »Die Geschichte des Judentums und sein Denken dreht sich um dieses Wortpaar ›verlassen und Verlaß‹, beide haben sie ihren Ur­sprung in Abraham.«

Benyoëtz schätzt die jüdische Literatur deutscher Spra­che nicht bloß als Kunst, sondern »als eine Art ba­bylonischen Talmud« (Allerwegsdahin, 94). Ihren Untergang im Nationalsozialismus begreift er als »Amputation« (ebd., 51). Benyoëtz schöpft seine rastlose Produktivität aber nicht allein aus dem starken Be­zug zur Vergangenheit, der sich vor allem in Zitaten vergessener Zeugen der jüdisch-deutschen Ge­schichte und in Kontrafakturen der Literaturspra­che der Klassischen Moderne ausdrückt. Zuneh­mend wird in seinem Werk auch das Verhältnis zu seinen – mittlerweile immer jüngeren – Lesern und Kommentatoren bestimmend. Beides zusammen genommen erst bildet das, was im jüdischen Hori­zont »Tradition« genannt wird. Am deutlichsten zeigt dies die Auswahl der Briefe aus den Jahren 1958 bis 2007. Entsprechende Spuren finden sich aber mit zunehmendem Alter des Autors auch in seinem aphoristischen Montagewerk. Damit steht er auch in der reichen, spezifisch jüdischen Traditi­on der epistolographischen Selbstprüfung und Be­ratung des Gesetzes.

Werke: Treffpunkt Scheideweg, München 1990; Brüder­lichkeit. Das älteste Spiel mit dem Feuer, München 1994; Variationen über ein verlorenes Thema, München 1997; Die Zukunft sitzt uns im Nacken, München 2000; Allerwegsdahin. Mein Weg als Israeli und Jude ins Deutsche, Hamburg/Zürich 2001; ›Vielzeitig‹. Briefe 1958-2007, Bochum 2009; Fraglicht. Aphorismen 1977-2007, Wien 2010; Olivenbäume, die Eier legen, Wien 2012; Sandkronen, Wien 2012.

Literatur: Ch. Grubitz, Der israelische Aphoristiker Elazar Benyoëtz, Tübingen 1994; ders., Eine Gattung im Exil. Adorno, Canetti, Benyoëtz und die deutsche Aphoristik nach 1933, in: Fragment(s), Fragmentation, aphorisme poétique, hg. M.-J. Ortemann, Nantes 1998, 61-75; W. Mieder, »Des Spruches letzter Schluss ist der Widerspruch«. Zu den redensartlichen Aphorismen von Elazar Benyoëtz, in: Modern Austri­an Literature 31 (1998), 104-134; F. Spicker, Der deutsche Aphorismus im 20. Jahrhundert. Spiel, Bild, Erkenntnis, Tübingen 2004, 786-808; R. Dausner, Schreiben wie ein Toter. Poetologisch-theologische Analysen zum deutsch­sprachigen Werk des jüdisch-israelischen Dichters Elazar Benyoëtz, Paderborn u. a. 2007.

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