Martin Luther zu den zwei Naturen Christi (Auslegung zu Psalm 5,2f, Operationes in psalmos, 1519): „Christus muss man zuerst als Menschen und dann erst als Gott ergreifen, und ebenso soll man zuerst nach dem Kreuz seiner menschlichen und dann erst nach der Herrlichkeit seiner göttlichen Natur trachten. Wo man Christus nach seiner menschlichen Gestalt hat, da wird er ganz von selbst auch seine göttliche Gestalt mit sich bringen.“

Über die beiden Naturen Christi (Auslegung zu Psalm 5,2f, Operationes in psalmos, 1519)

Von Martin Luther

Christus ist es, der nach seiner doppelten Natur dies beides bewirkt. Im Reich seiner menschlichen Natur oder – wie der Apostel sagt – »seines Fleisches« (Hebräer 5,7), da man noch im Glauben lebt, macht er uns sich selbst gleich und lässt uns kreuzigen. Dadurch macht er aus uns unseligen und hoffärtigen Göttern wahre Menschen, das heißt elende Sünder. Denn weil wir Menschen in Adam hinaufgestiegen sind zum Ebenbilde Gottes, deshalb ist Christus in unser Ebenbild herabgestiegen, um uns wieder zurückzuführen zur Erkenntnis dessen, was wir eigent­lich sind. Dies geschieht in dem heiligen Geheimnis der Mensch­werdung. So ist also das Reich des Glaubens das, in dem das Kreuz Christi regiert. Es macht das verkehrte Streben nach Göttlichkeit zu­nichte und ruft [uns] zurück in unsre menschliche Natur und in die verachtete Schwachheit des Fleisches, von der wir uns in unserer Verkehrtheit lossagten. Im Reich seiner göttlichen Natur und Herrlichkeit aber wird er uns seinem verklärten Leib ähnlich machen, so dass wir ihm gleich sein werden. Dann werden wir nicht mehr sündig noch schwach sein und nicht mehr der Führung und Regie­rung bedürfen; dann werden wir vielmehr selber Könige sein und Kinder Gottes wie die Engel. Dann wird das Wort ›mein Gott‹ in Erfüllung gehen, während es jetzt erst in Hoffnung gesagt wird. Deshalb sagt der Psalmist mit vollem Bedacht hier zuerst »mein König« und dann erst »mein Gott«, wie auch der Apostel Thomas sagt: »Mein Herr und mein Gott!« (Johannes 20,28) Denn Christus muss man zuerst als Menschen und dann erst als Gott ergreifen, und ebenso soll man zuerst nach dem Kreuz seiner menschlichen und dann erst nach der Herrlichkeit seiner göttlichen Natur trachten. Wo man Christus nach seiner menschlichen Gestalt hat, da wird er ganz von selbst auch seine göttliche Gestalt mit sich bringen. (Übersetzung nach Wolfgang Metzger)

Hier der lateinische Text:

Christus enim gemina natura utrumque horum efficit: Humanitatis seu, ut Apostolus loquitur, carnis regno, quod in fide agitur, nos sibi conformes facit et crucifigit faciens ex infelicibus et superbis diis homines veros, id est, miseros et peccatores. Quia enim ascendimus in Adam ad similitudinem dei (Gen 1,26), ideo descendit ille in similitudinem nostram (Phil 2,7), ut reduceret nos ad nostri / cognitionem; atque hoc agitur sacramento incarnationis. Hoc est regnum fidei, in quo crux Christi dominatur divinitatem perverse petitam deiciens et humanitatem camisque contemptam infirmitatem perverse desertam revocans.

At regno divinitatis et gloriae configurabit nos corpori claritatis suae (Phil 3,21), ubi „similes ei erimus“ (1Joh 3,2) iam nec peccatores nec infirmi, nec ductiles aut rectiles, sed ipsi reges et filii dei sicut angeli (Lc 20,36). Tunc dicetur deus meus in re, quod nunc in spe dicitur.

Quare non inepte prius dicit: rex meus, et postea: deus meus, sicut et Thomas apostolus Ioh ultimo (20,28): „Dominus meus et deus meus“, quod prior sit Christus homo quam deus apprehendendus, prior humanitatis eius crux quam divinitatis eius gloria petenda. Christus homo habitus Christum deum sponte sua adducet.

Vgl. WA 5, S. 128,36 – 129,11.

Quelle: D. Martin Luther, Operationes in psalmos, Teil 2, Psalm 1 bis 10 (Vulgata), hrsg. v. Gerhard Hammer und Manfred Biersack, AWA 2, Köln: Böhlau, 1981, S. 226f.

Hier der Text als pdf.

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