Karl Barth
Von Thomas F. Torrance
Karl Barth starb in den frühen Morgenstunden des 10. Dezember 1968 – Gottes größtes Geschenk an die theologische Wissenschaft in der gesamten Neuzeit. Albert Einstein schrieb einst über Isaac Newton: „An ihn zu denken, heißt, an sein Werk zu denken. Denn ein solcher Mann kann nur verstanden werden, wenn man ihn als eine Bühne begreift, auf der der Kampf um die ewige Wahrheit stattfand.“ So müssen wir uns auch an Karl Barth erinnern, denn in ihm vollzog sich ein tiefer Kampf um das ewige Wort Gottes, in dem das gesamte Gefüge des kirchlichen Gottesverständnisses von der Antike bis zur Moderne einer kritischen und konstruktiven Prüfung unterzogen wurde – auf der Suche nach einer einheitlichen und umfassenden Grundlage aller Theologie in der Gnade Gottes. Er bedarf keines Lobes von uns, denn das Werk, das ihm zu vollbringen gegeben war, wird noch viele Jahrhunderte lang die Welt segnen. Wenn Karl Barth keine „Schule der Barthianer“ hinterlassen hat, dann deshalb, weil er der gesamten Welt der Theologie angehört – in einer Weise, wie es kein bloßer Führer einer neuen Denkrichtung je könnte.
Wir stehen ihm noch zu nahe, um seine Leistung in vollem Umfang ermessen zu können, doch darf mit Sicherheit gesagt werden: Auch nachdem sein Werk in den kommenden Generationen gesichtet, geprüft und durchdacht worden ist, wird es sich als reich an bleibenden theologischen Errungenschaften erweisen, die in die geschichtliche Struktur der christlichen Theologie aufgenommen werden. Sowohl in seiner Erhabenheit als auch in seiner Tiefe hat Barths monumentale Auslegung unserer Gotteserkenntnis einen solchen Bezug zur Wirklichkeit hergestellt, dass sie eine ständige Quelle der Überraschung und Entdeckung für jene Studierenden bleiben wird, die etwas von jener Ehrfurcht und Demut, jener Mischung aus Freude, Staunen und Verantwortung in sich tragen, die Karl Barth selbst auszeichnete. Wie bei den Newtons und Einsteins auf ihrem Gebiet, so auch bei Karl Barth auf dem seinen: Seine gewaltigen Leistungen haben die gesamte Perspektive der theologischen Wissenschaft so weit geöffnet, dass wir, stehend auf seinen Schultern, mit Begeisterung weit in das blicken können, was noch zu tun ist.
Indem wir in dieses verheißene Land weiter voranschreiten, ehren wir ihn am besten – und wenn wir dort die Fruchtbarkeit seines Grunddenkens selbst erfahren, werden wir sein Werk so beurteilen können, wie es ihm gebührt. Bis dahin aber wollen wir in Dankbarkeit und Ehrfurcht einige Bereiche der christlichen Theologie betrachten, auf die er auf eine völlig unvergleichliche Weise seinen Stempel aufgedrückt hat.
1. DOGMATISCHE WISSENSCHAFT
Das große Problem der modernen Theologie besteht darin, das christliche Gottesverständnis von all den verdrehten Vorstellungen zu entwirren, die der Mensch aus den Tiefen seines eigenen Wesens ersinnt, und von all den phantasievollen Projektionen seines Selbstverständnisses zu befreien. Unsere Zeit ist das große Zeitalter der Wissenschaft – aber ebenso ist es das Zeitalter massenhafter Bewegungen in romantischen Naturalismus und Irrationalität hinein, in dem für unzählige Menschen Selbstausdruck und Selbstverwirklichung das einzig Sinnvolle darstellen. Karl Barth hat sein ganzes Leben lang danach gestrebt, diese Welle der Flucht vor der Vernunft aufzuhalten, und er hat hart gegen den barbarischen Versuch gekämpft, Religion in eine Art soziale Technik zu verwandeln, die den eigensüchtigen Wünschen des Menschen entspricht.
Gerade in der Theologie hat er sich mit allen rationalen und wissenschaftlichen Mitteln, die er zur Verfügung hatte und anpassen konnte, bemüht, das Denken des Menschen freizuräumen, damit der Mensch Gott unmittelbar aus dessen eigenem Wort heraus sprechen hören könne. Zugleich hat er sich darum bemüht, die christliche Theologie auf eine tragfähige wissenschaftliche Grundlage zu stellen, auf der die Wahrheit Gottes in ihrer Reinheit und Kraft bestimmt, wie wir von Gott in einer Weise denken sollen, die Gottes eigener Rationalität und Gnade entspricht. Für Karl Barth ist die Theologie die schönste aller Wissenschaften.
Obwohl nur noch wenige Menschen seine Bedeutung zu würdigen scheinen, war genau dies die Absicht seiner unermüdlichen Kritik an der „natürlichen Theologie“ in ihrer traditionellen Form, die seit dem Mittelalter eine tiefe Spaltung in unserem Zugang zu Gott impliziert. In diesem Punkt ist Barth weitaus moderner als seine Kritiker, denn was er ablehnte, war der radikale Dualismus, der überholten Vorstellungen von Wissenschaft und Philosophie sowie der daraus hervorgegangenen Kosmologie angehört. So wie es uns heute nicht mehr möglich ist, Geometrie als eine von der Physik unabhängige Wissenschaft zu betreiben, sondern sie – wie Einstein betonte – untrennbar mit der Physik verbunden und in gewisser Weise selbst eine Naturwissenschaft ist, so hat Karl Barth immer wieder darauf bestanden, dass es völlig unwissenschaftlich sei, natürliche Theologie im alten Stil als praeambula fidei zu betreiben, die uns mit den grundlegenden Begriffen und Beziehungen zur Auslegung der offenbarten Theologie versorgt. Vielmehr muss wissenschaftliche Theologie ihren Ausgangspunkt in der tatsächlichen Situation nehmen, in der das Denken bereits mit der Erfahrung koordiniert ist, und innerhalb dieser die „fundamentale Geometrie“ unserer Gotteserkenntnis – sozusagen – entfalten. An dieser Stelle wird die „natürliche Theologie“ natürlich tiefgreifend umgestaltet, denn sie wird nun „natürlich“ in Bezug auf ihren eigenen Gegenstand – also rationales Denken, das streng der Natur seines eigentlichen Objekts entspricht. Und genau deshalb konnte Barths Zugang zum Problem der „natürlichen Theologie“ in ihrer Abstraktion und Loslösung von der Wirklichkeit des Glaubens und seines Verstehens als rigorose Kritik des natürlichen Menschen dargestellt werden, die aus der Rechtfertigung allein aus Gnade hervorgeht. Es wäre daher ein völliges Missverständnis, Barths Haltung zur „natürlichen Theologie“ als Produkt eines deistischen Dualismus zu kritisieren, denn das Gegenteil ist der Fall: sie gründet auf einem durchgreifenden Interaktionismus zwischen Gott und Natur, der von der Theologie jene Verbindung von wissenschaftlichem und evangelischem Zugang fordert, die Barth zu etwas ganz Eigenem gemacht hat.
2. DIE LEHRE VON GOTT
Gerade in seiner Gotteslehre, so denke ich, erhebt sich Barths Denken über die moderne Theologie wie ein Alpenmassiv. Das gilt ganz besonders für die Lehre von der Heiligen Dreieinigkeit, die Barth mit einer Einsicht und Tiefe, wie sie seit dem Höhepunkt der patristischen Theologie nicht mehr erreicht wurde, als zum Grundvokabular unserer Gotteserkenntnis zugehörig ausgewiesen hat. Je näher unser Gottesdenken mit unserer Gotteserfahrung im grundlegenden Gegebenen der Offenbarung koordiniert ist, desto unausweichlicher drängt sich unserem Verstehen auf, dass Gott in Seiner Wirklichkeit als Vater, Sohn und Heiliger Geist erkannt wird und dass wir, soweit es uns möglich ist, in unserem Erfassen dieser trinitarischen Beziehungen in Gott in die letztliche Einfachheit und logische Grundlage der Theologie eindringen. Das gilt aber auch für die Weise, in der Barth versucht hat, die Wirklichkeit Gottes als das Sein Gottes in Seinem Handeln und das Handeln Gottes in Seinem Sein zu entfalten, wobei er die ontologische und relationale Trinitätslehre als den Grund der Gemeinschaft durchdacht hat, die Gott zwischen Sich und uns sucht und schafft. Dies beinhaltet die Zurückweisung jeder Vorstellung eines Gottes, der in eintöniger Einsamkeit in sich selbst gefangen ist oder in der abgehobenen Isolation erhabener „Eigenschaften“ verschlossen. Vielmehr ist es ein Verständnis des ewigen Seins Gottes als dessen, der Er ist im Handeln Seiner Selbstoffenbarung – der Gott, der uns bedingungslos liebt und nicht ohne uns sein will, zugleich aber der Gott, der Sein Leben aus sich selbst in Seiner eigenen transzendenten Freiheit hat. Weil dies die Bedeutung ist, in der Barth die einfache Aussage „Gott ist“ versteht, wird er nicht von den seltsamen Pseudoproblemen hinsichtlich der „Existenz“ Gottes beunruhigt, die so viele unserer Zeitgenossen beschäftigen, und kann dem gesamten Bereich der kontingenten Wirklichkeit und ihrer eigenen echten Freiheit vollen Wert beimessen. Das hilft zu erklären, warum Barth einen so großen Teil seiner Kirchlichen Dogmatik der Schöpfungslehre und einem theologischen Verständnis des geschöpflichen und menschlichen Seins gewidmet hat und warum es nun auf Grundlage dieser Art von Theologie möglich ist, in einen engen und anhaltenden Dialog zwischen Theologie und Naturwissenschaft einzutreten. Was den gemessenen Fortschritt der historischen Theologie betrifft, so hat Barth eine unvergleichliche Synthese zwischen der Betonung der Kirchenväter und der mittelalterlichen Theologen auf das Sein Gottes in Seinem Handeln und der Betonung der Reformatoren und Modernen auf das Handeln Gottes in Seinem Sein erreicht – eine Synthese, die es nicht erlaubt, das Denken über Gott in statische Begriffe zu zerlegen und tabellarisch aufzuteilen, aber auch nicht in einen dynamischen Prozess auflöst, der schließlich in bedeutungslosen, zeitlosen Ereignissen verpufft.
3. DIE ZENTRALITÄT VON JESUS CHRISTUS
Das evangelische Herzstück von Barths Theologie ist die Lehre von Christus als dem göttlichen Versöhner. Bemerkenswert ist, dass er sich dabei nicht von der Gotteslehre entfernt, denn Jesus Christus ist der Ort, an dem wir den Vater erkennen. Was die Christologie offenbart, ist die Treue und Barmherzigkeit des ewigen Gottes, die Tatsache, dass Er dem Menschen freundlich gesinnt ist und nichts Ihn davon abbringen wird, auf der Seite des Menschen zu stehen – gegen alles, was dessen menschliche Existenz bedroht oder zerstören will. Das ist es, was Barth als die Menschlichkeit Gottes beschreibt, in der Er sich in Jesus Christus dem Menschen zugewandt hat, um der Gott des Menschen zu sein und ihn in die Gemeinschaft mit sich aufzunehmen als den menschlichen Partner Seiner göttlichen Herrlichkeit. Barths Darstellung macht deutlich, dass der große Wendepunkt der Theologie die Inkarnation Gottes des ewigen Sohnes ist – die erschütternde Tatsache der tatsächlichen Gegenwart des persönlichen Wesens Gottes innerhalb unserer leiblichen Existenz in Raum und Zeit. Wer die Inkarnation ablehnt, verurteilt sich selbst zu den vergeblichen Prozessen reduktionistischer und entmythologisierender Umdeutung dessen, was er für menschliche Objektivierungen innerer religiöser Unmittelbarkeit hält; wer jedoch die Inkarnation annimmt, muss die ungeheure Tatsache der Selbsterniedrigung Gottes ernst nehmen, dass Er in Jesus Christus eines mit uns geworden ist, sodass das Herz Gottes in unserem menschlichen Fleisch schlägt und unser Schmerz und Leid in das Leben Gottes aufgenommen werden. So beginnt das versöhnende Werk Gottes in Christus mit der Inkarnation und ist in ihr durchgängig begründet – in jenem grundlegenden Akt, in dem Gott die verlorene Sache des Menschen zu seiner eigenen gemacht hat und sie bis zu ihrem Ziel trägt: der Erhebung des Menschen zur Teilhabe am Leben und an der Liebe der Heiligen Dreieinigkeit.
Es ist kennzeichnend für Barths gesamtes Denken, dass er Christus nicht zuerst danach interpretiert, was Er für uns getan hat, sondern danach, wer Er ist – denn es ist die Person Christi, wahrer Gott und wahrer Mensch, die Seinem Erlösungswerk Sinn verleiht. Daher wird seine Lehre von der sühnenden Versöhnung mit ihrer doppelten Betonung des Gehorsams des Sohnes Gottes und der Erhöhung des Menschensohnes unter dem Gesichtspunkt Gottes (sub ratione Dei) entfaltet. In der Majestät des wahren Gottes wurde der ewige Sohn des ewigen Vaters gehorsam, indem Er sich selbst darbrachte und erniedrigte, um der Bruder des Menschen zu sein, seinen Platz unter den Übertretern einzunehmen, ihn zu richten, indem Er sich selbst richtete und an seiner Stelle starb, und es war in der Treue desselben Gottes, dass Er von den Toten auferweckt und erhöht wurde als der königliche Mensch, der Anteil am Wesen, Leben und der Herrschaft Gottes hat. Es ist diese Beziehung Jesu, des Dieners, zu Gott, dem Vater, die dem Leiden Christi als unserer Erlösung vom Tod zum Leben Wirksamkeit verleiht und Christus als Haupt, Repräsentanten und Retter aller Menschen auf den Thron des Universums setzt. In diesem Jesus Christus stehen wir vor einem Geheimnis, das mehr zur Anbetung als zur Erklärung auffordert, sodass all unsere Bemühungen, Ihm gerecht zu werden, hinter Seiner menschgewordenen Herrlichkeit zurückbleiben. Dennoch müssen wir uns dem Gehorsam Christi hingeben und unser Denken von Ihm gefangen nehmen lassen, denn nur wenn wir im Denken Christus gleichgestaltet werden, können wir unsere Lehre von Gott, dem Vater, dem Sohn und dem Heiligen Geist richtig formulieren. Darum hat Barth niemals aufgehört zu betonen, dass die Christologie uns das bestimmende Zentrum liefert, von dem her alle Gottes- und Schöpfungserkenntnis ihre Gestalt gewinnen muss.
4. DIE NEUE KREATUR IN CHRISTUS
In mancher Hinsicht ist der auffälligste Aspekt von Barths Theologie seine Betonung der neuen Menschheit in Jesus Christus – dem Menschgewordenen, Gekreuzigten, Auferstandenen und dem, der wiederkommen wird, um alles neu zu machen. Dies ist es, was Barth manchmal eine dritte Dimension genannt hat. Damit meint er, dass viele Theologen hauptsächlich in zwei Dimensionen denken – Gott und Mensch, Ewigkeit und Zeit –, während sein eigenes Denken von der Dimension der Einheit Gottes und des Menschen in Christus bestimmt wird, was ihn einerseits von der Menschlichkeit Gottes sprechen lässt – also von Gottes liebevoller Hinwendung zum Menschen – und andererseits vom christlichen Humanismus, das heißt von der Relevanz der Menschlichkeit Christi für alle Bereiche unseres menschlichen Lebens: im Persönlichen, Sozialen, Politischen, Natürlichen ebenso wie im Religiösen.
Die zentrale Frage hierbei, wie Barth mir noch vor wenigen Wochen sagte, ist die leibliche Auferstehung Jesu Christi. Wenn Jesus Christus nur „im Geist“ auferstanden ist – was auch immer das heißen soll – dann ist Er, sozusagen, nur ein Geistwesen ohne Relevanz für Männer und Frauen aus Fleisch und Blut in der Geschichte. Wenn Jesus Christus nicht mehr als Mensch existiert, dann haben wir wenig Grund zur Hoffnung in diesem Leben, ganz zu schweigen vom Jenseits. Es ist die auferstandene Menschlichkeit Jesu Christi, die das eigentliche Zentrum der christlichen Hoffnung bildet, denn sie ist der Grund und das Fundament der gesamten Schöpfung. Die christliche Kirche, die an die Auferstehung Jesu Christi von den Toten glaubt, hat kein Recht, an dieser „müden Welt“ zu verzweifeln oder Angst zu haben, sie könnte im Nichts verschwinden. Der Christ ist der Einzige mit einer echten Botschaft der Hoffnung – er ist der wahre Optimist.
Die Lehre von der neuen Menschheit in Christus ist der neue Wein, der die alten Weinschläuche zerreißt. Weil die christliche Kirche bereits durch den Geist am auferstandenen Jesus teilhat, muss die Kirche sich weigern, in den Grabtüchern der Vergangenheit zu leben. Sie muss stets bestrebt sein, die wahren Formen ihres neuen Lebens in Christus in der Gegenwart zu entfalten und diese Lebensformen in konkrete Gehorsams- und Diensthandlungen in dieser Welt zu übersetzen. Es ist Barths leidenschaftliches Anliegen in diese Richtung, das nicht nur hinter dem Vorrang steht, den er dem Dienst der göttlichen Barmherzigkeit gibt, sondern auch hinter der neuen Gestalt, die er der Taufe als dem bestimmenden Ausgangspunkt christlichen Gehorsams als Antwort auf den stellvertretenden Gehorsam Jesu Christi zu geben versucht hat.
5. DAS GEBOT GOTTES
Barth hat uns gesagt, dass ihn aus dem theologischen Liberalismus, der sein frühes Denken prägte, herausgerissen hat die ethische Bankrotterklärung des Protestantismus, die ihm mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs ins Gesicht starrte. Es besteht kein Zweifel, dass er von Anfang bis Ende seiner theologischen Laufbahn entschlossen war, die Ethik auf ein solides Fundament zu stellen – diese Entschlossenheit zeigt sich darin, dass die umfangreichen ethischen Diskussionen, die in den dreizehn Bänden der Kirchlichen Dogmatik eingebettet sind, allein ausreichen würden, zwei ganze Bände ähnlichen Umfangs zu füllen. Seine radikale Auffassung von der Rechtfertigung allein durch Gnade erzeugte bei ihm die ethische Erschütterung, die ihn auf der Suche nach einem weitaus angemesseneren Fundament vorantrieb, das er in der Lehre von Gott selbst fand. Theologische Ethik, wie er sie jetzt verstand, musste unter der Rubrik des Gebots Gottes ausgelegt werden, denn sie ist durch und durch mit der Gnade des Gottes verbunden, der sich dem Menschen frei gegeben hat, um dessen Gott zu sein, und der im Jesus Christus den Menschen sich selbst gibt, um Gottes Mensch zu sein. Weil der Gott, der dem Menschen gebietet, der Gott ist, der sich für den Menschen verantwortlich gemacht hat, fällt die christliche Ethik in die Lehre vom gnädigen Gott, der den Menschen in einen Bund mit sich genommen hat und so in eine erwählte Übereinstimmung mit seinem eigenen Willen. Sie wurzelt im eigenen Leben und Sein Gottes, ist im Zusammenhang der göttlichen Vollkommenheiten gegründet und nimmt ihre Gestalt an aus der entscheidenden Selbsthingabe Gottes an den Menschen in Jesus Christus. Deshalb ist unser menschliches Dasein aufgrund dessen, was Gott uns in Jesus Christus getan hat, nicht mehr sich selbst oder irgendeiner unabhängigen Ethik menschlicher Selbstbestimmung überlassen, sondern in das göttliche Dasein Gottes in Jesus Christus einbezogen und in die Erwählung und Bestimmung unserer Menschlichkeit im Menschen Jesus. So liegt unmittelbar im Vordergrund der christlichen Ethik die zwingende und gebietende Wirklichkeit der Menschlichkeit Gottes in Jesus Christus, die zugleich die schöpferische Quelle und Kraft der echten Humanisierung des Menschen ist. Es genügt, Barths ungemein bewegende Predigten im Basler Gefängnis mit seiner detaillierten Untersuchung zutiefst menschlicher Probleme im vierten Band der „Lehre von der Schöpfung“ zusammenzusehen, um zu erkennen, wie eng Barths humane Theologie und seine eigene Menschlichkeit miteinander verknüpft sind.
6. DIE LEHRE VON DER KIRCHE
Karl Barths Theologie ist eine ökumenische Kraft geworden, nicht nur weil sie das Herz der Sache trifft, wie sie jede Kirche betrifft, und weil sie die gesamte Breite der Theologie im Lauf der Jahrhunderte umfasst, sondern auch, weil sie die Lehre von der Kirche auf unwiderstehliche Weise hervorgehoben hat. Das war nicht seine bewusste Absicht. Sein Ziel war es stets, den romantischen Subjektivismus der protestantischen Theologie zu zerstören, der den Menschen mit Gott verwechselt und den Menschen an Gottes Stelle setzt, um wieder Raum zu schaffen für den heiligen und transzendenten Gott der Bibel und die Kirche mit dem klaren Wort Gottes zu konfrontieren, also mit Gott, der direkt und persönlich mit aller Macht und Majestät göttlicher Souveränität spricht. Um das zu tun, musste Barth schaffen, was er Diastase nannte, um die falschen Verbindungen im Verständnis der Kirche zu zerschlagen, damit die tiefgründige Verbindung, die Gott selbst in seinem Bund mit Israel und dessen Erfüllung in der Inkarnation seines Wortes in Jesus Christus bewirkt hat, ihren Platz einnehmen kann. Je mehr die Inkarnation Barth dazu zwang, den liberalen Schrecken vor aller Körperlichkeit zu hinterfragen und Raum und Zeit ernst zu nehmen, desto realistischer wurde seine Eschatologie und desto überraschender sein Verständnis der Kirche als Leib Christi, also Christi eigene irdisch-historische Existenzform, der einen heiligen, katholischen und apostolischen Kirche, die Jesus Christus durch die belebende Kraft des Heiligen Geistes gebildet hat und fortwährend erneuert als seinen Leib. Durch seine eigene theologische Entwicklung hat Barth unserer Generation eine Neubewertung der gesamten Lehre von der Kirche auferlegt, ausgehend von ihrem bildenden Grund in der Lehre von Christus und seinem Willen, nicht ohne uns zu sein, sondern uns in sein eigenes vollständiges Dasein einzubeziehen, und zugleich aus der Natur der Theologie als der Tätigkeit, in der die Kirche ihr Verständnis von Gott klärt und ihre Verkündigung des Evangeliums von Jesus Christus prüft, um sicherzustellen, dass das Wort Gottes und die Botschaft des Evangeliums tatsächlich den Inhalt der Verkündigung und Lehre der Kirche bilden.
Die Kraft von Barths Denken in diesem Bereich zeigt sich am gewaltigen Einfluss, den er auf die römisch-katholische Kirche ausgeübt hat. Als in den frühen dreißiger Jahren die Idee von der Kirche als Leib Christi den römischen Theologen als ernsthafte Lehre vorgelegt wurde, die dogmatisch zu klären sei, winkten sie ab und stuften sie als etwas ein, das eher in den Bereich der Andachtsmeditation gehöre – in Erinnerung daran, dass das Erste Vatikanische Konzil eine Konstitution De Ecclesia abgelehnt hatte. Dass das Zweite Vatikanische Konzil diese Entscheidung vollständig umgekehrt hat und eine umfassende Konzilsdefinition der Kirchenlehre vorlegte, und das zudem mit einer bemerkenswerten christologischen Durchdringung und Kraft, ist in weit größerem Maße als allgemein bekannt auf die Theologie Karl Barths zurückzuführen. Deshalb ist es kaum überraschend, dass der Papst ihn als den größten Theologen seit Thomas von Aquin bezeichnete.
Wenn es wahr ist, dass „der Mensch der Raum ist, den seine Tätigkeit füllt“, dann müssen wir Größe Karl Barths in seinem Werk suchen und seine theologische Bedeutung in der Fruchtbarkeit und Erleuchtung messen, die sein Denken auf ein weites Spektrum von Fragen geworfen hat. Dennoch sind seine kindliche Schlichtheit, sein unbändiger Humor und seine reine menschliche Größe Eigenschaften, die niemand vergisst, der das Privileg hatte, sein Schüler zu sein.
Quelle: Scottish Journal of Theology 22 (1969), S. 1–9.