Von Friedrich Gogarten
1.
Das ist das Schicksal unserer Generation, daß wir zwischen den Zeiten stehen. Wir gehörten nie zu der Zeit, die heute zu Ende geht. Ob wir je zu der Zeit gehören werden, die kommen wird? Und wenn wir von uns aus zu ihr gehören könnten, ob sie so bald kommen wird?
So stehen wir mitten dazwischen. In einem leeren Raum. Wir gehören nicht zu den Einen, nicht zu den Andern. Nicht zu denen, die vor uns gehen und die uns zu ihren Nachfolgern machen und uns ihre Gedanken und Überzeugungen als Erbe lassen möchten. Wir können ihnen nicht folgen. Wir konnten es nie. Wo wir es taten, taten wir es nur, um zu sehen, wie sie es machten. Aber nie um ein Vorbild, ein Beispiel für unser eigenes Tun zu haben. Wir sind gescholten worden darum, als Individualisten, als Nörgler, als Eigenbrödler. Wir haben darunter gelitten. Aber wir konnten nicht anders. Eure Gedanken waren uns fremd, immer fremd. Wenn wir sie dachten und gebrauchten, war es uns, als wenn uns eine Leere von innen her würgte. Wo wir Euch hörten, hörten wir den besten, treusten Willen, aber es klang unseren Ohren hohl, hohl. Weil wir sonst nichts hörten als den besten Willen. Aber das war doch Eure Absicht und unsere Sehnsucht, mehr zu sagen und mehr zu hören. Ihr sprachet doch von Göttlichem und nicht nur von Menschlichem. Ihr wolltet es.
Ihr wißt nicht, wie uns das gequält hat, daß wir nicht mehr hören könnten. Denn wir konnten uns selbst nicht finden (wir suchten ja bei Euch; ja, wir suchten) und Ihr ließet uns leer. Nie hat uns darum die quälende Frage verlassen, ob wir, die wir mit dem Wort einmal Alles geben sollten, überhaupt einmal etwas zu geben hätten. Wir bekamen ja nichts. Viel Lehrreiches, viel Interessantes, ja, aber nichts, was dieses Wortes wert gewesen wäre. [96]
2.
Wir haben Euch manches Mal in unserer Not gezürnt, weil Ihr uns allein ließet. Und weil Eure Worte so schwach, so leer waren, daß sie zu Boden sanken, bevor sie uns erreichten. Und dann am meisten, wenn uns die Not, nichts zu haben, mit dem wir einmal vor die Menschen treten konnten, zu Euch trieb und wir durch alle Eure Antworten auf Eure Fragen unsere Frage zu Euch schrien.
Heute habt Ihr auch einmal eine Not, die an Eure geistige Existenz rührt. Aber sie kommt Euch von außen, aus den äußeren Umständen. Ihr fürchtet um Eure Wissenschaft wegen der Druckerkosten und der Papierpreise. Aber diese Wissenschaft ist ja innerlich längst am Ende.
Das soll gewiß keine Schmähung sein, ganz gewiß nicht. Heute wissen wir, daß wir von Euch keine Antwort auf unsere Frage verlangen konnten, weil Ihr unsere Frage gar nicht verstandet und vielleicht auch heute noch nicht versteht. Denn Ihr gehört einer anderen Zeit als wir, die wir vielleicht keiner gehören. Könnten wir Euch unsere Frage ganz deutlich machen, wir müßten die Antwort auf sie haben. Aber noch haben wir nur ein dunkles Ahnen der Antwort und sind froh, daß es langsam, langsam heller wird.
Und weil wir nicht mehr von Euch verlangen, was Ihr uns nicht geben könnt, können wir dankbar von Euch nehmen, was Ihr habt. Aber fortsetzen können wir Eure Arbeit nicht. Und ob die es tun werden, die hinter uns kommen? Darauf brauche ich keine Antwort zu geben.
Wir gehörten nie zu Eurer Zeit. Es konnte deshalb geschehen, daß Ihr mit einem und demselben Atemzug erschraket über unseren Radikalismus und über unsere reaktionäre Gesinnung. So fern waren wir dieser Zeit, daß wir uns immer nur außer ihr suchen konnten, und Nietzsche und Kierkegaard, Meister Eckehard und Lao-Tse, sind manchen unter uns mehr Lehrer gewesen als selbst die von Euch, denen wir unser ganzes geistiges Werkzeug verdanken.
3.
Heute sehen wir Eure Welt zu Grunde gehen. Was diesen Untergang betrifft, so könnten wir über ihn so seelenruhig sein, wie wenn wir etwas vergehen sähen, dem wir durch garnichts verbunden sind. Wir [97] sind ihm auch nicht verbunden. Daß es uns trotzdem bewegt, ist nur, weil sich vor unseren Augen etwas begibt, was wir schon längst wie leibhaftig gesehen haben. Ich weiß nicht, ob in Träumen. Aber es war viel leibhaftiger, viel wirklicher als ein Traum jemals sein kann. Es war immer in uns wie eine tiefe Erfahrung. Es war wohl im Geheimen, ohne daß wir es wußten, immer die Voraussetzung für unser Verhalten dieser Zeit gegenüber. Darum erkennen wir wohl auch die Zersetzung bis in die verborgensten Winkel hinein, wo Ihr sie noch nicht seht. Wir sahen sie ja schon längst, bevor sie so offenbar wurde, wie sie es heute ist.
Wir mögen nicht die Hand rühren, um sie aufzuhalten. Was sollen wir denn da aufhalten? Und wie sollten wir es? Alle diese Dinge sind ja längst zersetzt. Sie sind längst entwicklungsgeschichtlich erklärt, längst in den Strom der allgemeinen Geschichte hineingestellt. Sie wurden es gerade in dem Augenblick, in dem Ihr sie wissenschaftlich bearbeitetet. Nicht einen Augenblick vorher hättet Ihr das gedurft. Das ist tot, worauf die Wissenschaft (soll ich sagen „unsere“ Wissenschaft?) ihren Blick richtet und was sie begreifen kann. Und was hat diese Zeit noch, was die Wissenschaft noch nicht bearbeiten durfte und was sie nicht begriff? Ich will der Wissenschaft keinen Vorwurf machen. Nicht sie tötet. So stark ist sie nicht. Sie darf nur Totes angreifen.
Nun nimmt der Strom des entwicklungsgeschichtlichen Geschehens alle diese Dinge mit. Die Welt ist bis in die fernsten Winkel erfüllt vom Brausen dieses Stromes.
Ihr dürft nicht von uns verlangen, daß wir uns gegen diesen Untergang stemmen. Denn Ihr habt uns ihn verstehen gelehrt. Nun sind wir des Unterganges nur froh, denn man lebt nicht gerne unter Leichen.
4.
Wir sehen heute rund um die Erde herum keine Formung des Lebens, die nicht zersetzt wäre. Habt Ihr uns nicht gelehrt, in allem und jedem das Menschenwerk zu sehen? Habt Ihr uns nicht selbst die Augen für das Menschliche geschärft, indem Ihr uns alles in die Geschichte und in die Entwicklung einstelltet? Wir danken Euch, daß Ihr es tatet. Ihr schult uns das Werkzeug, laßt es uns nun gebrauchen. Nun ziehen wir den Schluß: Alles, was irgendwie Menschenwerk ist, entsteht nicht nur, es vergeht auch wieder. Und es vergeht dann, wenn das Menschen-[98]werk alles Andere überwuchs. Ich sagte vorhin: wenn die Wissenschaft es begreift. Eben: das kann sie in dem Augenblick, in dem der Mensch sich durchgesetzt hat. Heute ist eine Stunde des Unterganges.
Wir sehen die Zersetzung in Allem. Das bedeutet dies: wir haben das feinste Gefühl für das Menschliche bekommen. Wir spüren, wie es sich heute in Allem durchgesetzt hat. Bis in den feinsten Gottesgedanken hinein. Und wir bewegen in allem Ernst den Gedanken bei uns, ob es heute überhaupt Menschen gibt, die wirklich Gott denken können. — Wir wissen, daß Er sich den Einfältigen (versteht Ihr dieses Wort?) nie verbarg. — Wir sind alle so tief in das Menschsein hinein geraten, daß wir Gott darüber verloren. Ihn verloren. Ja, wirklich verloren; es ist kein Gedanke mehr in uns, der bis zu ihm reicht. Sie reichen alle nicht über den menschlichen Kreis hinaus. Nicht ein einziger.
Das wissen wir nun. Und es ist uns vor diesem Wissen, als hätten wir vorher nie etwas gewußt.
5.
Ist es ein Wunder, daß wir bis in die Fingerspitzen hinein mißtrauisch geworden sind gegen alles, was irgendwie Menschenwerk ist? Ja, uns selbst ist es ein Wunder. Denn wenn das Mißtrauen gegen das Menschliche auch noch das ist, was unser Gefühl am meisten bestimmt, so ist dieses Mißtrauen, das vor nichts zurückscheut, doch nur möglich, weil ein Keim von Wissen des Anderen, des Nicht-Menschlichen in uns sein muß.
Noch können wir Gott nicht denken. Aber wir erkennen immer deutlicher, was Er nicht ist, was Er nicht sein kann. Man kann uns nicht mehr täuschen, und wir können uns selbst nicht mehr täuschen und Menschliches für Göttliches nehmen. Es ist uns viel damit genommen, aber nichts, dem wir nachtrauern könnten. Denn das flimmernde Durcheinander von Göttlichem und Menschlichem in allen unseren Gedanken, Worten und Werken war uns zu lange eine quälende Not. Und bliebe uns nichts als diese nur-menschliche Welt, schon das wäre: uns eine Erlösung nach jenem elenden Versteckenspielen, bei dem man nie wußte, was im gegebenen Augenblick nicht da sein durfte, das Menschliche oder das Göttliche.
Darum ist ein Jubel in uns über das Spenglersche Buch. Es beweist, mag es im Einzelnen stimmen oder nicht, daß die Stunde da ist, wo [99] diese feine, kluge Kultur aus eigener Klugheit den Wurm in sich entdeckt und wo das Vertrauen auf die Entwicklung und die Kultur den Todesstoß bekommt. Und das Spenglersche Buch ist nicht das einzige Zeichen. Wer lesen kann, liest es aus jedem zweiten Buch und Aufsatz und wenn auch nur aus dem „Warum“, das als das Treibende hinter ihnen stand. Muß denn jetzt nicht das große Besinnen anfangen? Oder gibt es Theologen (was ist aus diesem Namen geworden!), die kommen und diese Kultur beschwätzen, daß es doch nicht ganz so schlimm sei und daß alles schon wieder ganz gut werde?
6.
Es gab Zeiten, da meinten wir, an einer neuen kommenden Kultur arbeiten zu können, und da glaubten wir, sie brächte dann das Heil. Ihr Bild stand uns groß und reich vor der Seele. Aber dieser Traum ist ausgeträumt.
Wir wurden nicht nur gegen das Menschliche in dem, was Andere taten, mißtrauisch, wir wurden viel mißtrauischer gegen das Menschliche in dem, was wir selbst tun und planen. Und das trennt uns von denen, die heute die Zeit bestimmen.
Nicht daß wir ihr Tun ablehnen. Aber wir sehen, daß sie dieselben sind wie die, die sie ablösen. Nur daß sie es auf die umgekehrte Weise versuchen.
Was jenen selbst verborgen blieb und worüber sie sich täuschen bis auf den heutigen Tag, daß sie sich ferne von allem Göttlichen im menschlichen Kreis bewegen, das wollen diese mit klarer Bewußtheit tun. Wir können es verstehen (wir lernten ja von jenen Alles und Jeden verstehen), daß sie es so tun. Denn sie durchschauten jenen langen, frommen Irrtum. Aber sie durchschauten ihn nicht ganz. Sonst könnten sie nicht meinen, daß ihr Werk gelänge, wenn sie nichts Anderes wissen, als bewußt zu tun, was jene unbewußt taten und wobei ihr Werk zerbrach: eine Welt mit Menschenwillen und aus Menschenweisheit bauen.
Auch hier ist viel guter Wille, der uns beschämt, wenn wir nicht mit dem vollen Einsatz unserer Kraft und Überzeugung mitmachen können. Aber wir können nicht. Lockt uns der Mut, die Unbefangenheit und die Rücksichtslosigkeit gegen Dinge, die keine Rücksicht verdienen, und die junge Kraft dieser neuen Zeit und zieht unser menschlicher Gerechtigkeitssinn uns auch wirklich in ihre Reihen, weil unser Mensch-[100]liches an einer Stelle in den Zeiten stehen muß, unser Blick und unser Denken sucht ein anderes Ziel.
5.
Der Raum wurde frei für das Fragen nach Gott. Endlich. Die Zeiten fielen auseinander und nun steht die Zeit still. Einen Augenblick? Eine Ewigkeit? Müssen wir nun nicht Gottes Wort hören können? Müssen wir nun nicht seine Hand bei Seinem Werk sehen können?
Darum können wir nicht, dürfen wir noch nicht von der einen Zeit zur anderen gehen. So sehr es uns auch zieht. Erst muß hier die Entscheidung gefallen sein. Vorher können wir nichts mit ganzem Herzen tun. Solange stehen wir zwischen den Zeiten. Das ist eine furchtbare menschliche Not. Denn da zerbricht alles Menschliche und wird zu Schanden, alles was war und alles was sein wird. Aber darum können wir, begreifen wir nur die Not bis zum Letzten, nach Gott fragen. Dann verstrickt sich nicht die Frage im Menschlichen und bringt falsche Antwort aus ihm, falsche, weil es eine menschliche und keine göttliche Antwort ist, und mögen wir mit dem besten Willen gefragt haben. Es gilt kein guter Wille, auch nicht der beste, in göttlichen Dingen. Wir wissen nun, wie weit die Frage reichen muß; unser Mißtrauen gegen das Menschliche führte uns den Kreis, bis zu dem es reicht (heute muß man hinzufügen: daß die ganze geheimwissenschaftliche Jenseitigkeit des Menschlichen mit in diesen Kreis gehört) und wird ihn uns immer wieder führen.
8.
Aber bringt uns dies weiter?
Nein, in der geschichtlichen Entwicklung, in der Heilung der menschlichen Wirrsal nicht einen Schritt. Wir sind in einem anderen Kreis und suchen nach etwas Anderem als nach Fortschritt, und es bewegt uns kein kulturinteressierter Opportunismus mehr.
Wir haben deshalb auch gar keine Vorschläge, wie man es besser machen könnte. Die Praktiker werden ja alle danach fragen. Unser einziger praktischer Vorschlag, den wir machen können, ist der (und der ist nicht praktisch, weil ihn Keiner allein mit gutem Willen durchführen kann): mit Entsetzen einzusehen, daß in der Lage, in der wir [101] tatsächlich alle sind, auch wenn es bis heute nur Wenige erkannten, gute Vorschläge nicht mehr helfen können.
Versteht man noch nicht, daß unsere Stunde (aber sie läuft nicht mit den anderen, den gewöhnlichen) wahrscheinlich die Stunde der Buße ist? — Oder kann man mit ein und demselben Atem Buße tun und sein Programm für das Kommende entwickeln?
Hüten wir uns in dieser Stunde vor nichts so sehr, wie davor, zu überlegen, was wir nun tun sollen. Wir stehen in ihr nicht vor unserer Weisheit, sondern wir stehen vor Gott. Diese Stunde ist nicht unsere Stunde.
Wir haben jetzt keine Zeit. Wir stehen zwischen den Zeiten.
Ursprünglich abgedruckt in Christliche Welt 34 (1920), Heft 24, Sp. 374-378.
Quelle: Jürgen Moltmann (Hg.), Anfänge der dialektischen Theologie, Teil 2: Rudolf Bultmann, Friedrich Gogarten, Eduard Thurneysen, München: Chr. Kaiser 41987, 95-101.