Heiner Bielefeldt über Menschenrechte: „Die Menschenrechte institutionalisieren den Respekt vor der Würde des Menschen rechtsprak­tisch dadurch, dass sie jedem Menschen grundlegende Freiheits-, Gleichheits- und Teil­haberechte garantieren. Freiheit, Gleichheit und Teilhabe (früher: »Brüderlichkeit«) gel­ten als gleichsam architektonische Prinzipien, die alle menschenrechtlichen Einzel­normen prägen.“

Menschenrechte

Von Heiner Bielefeldt

I. Zwischen Recht, Moral u. religiöser Ethik

Bei den Menschenrechten handelt es sich um grundlegende Freiheits-, Gleichheits- u. Teilhaberechte, die jedem Menschen schlicht aufgrund seines Menschseins zustehen. Verbindlich festgelegt sind sie in nationalen Verfassungen u. internationalen Konven­tionen. Sie finden sich etwa im Grundrechtsabschnitt des Deutschen Grundgesetzes (1949) und in vielen anderen Staatsverfassungen, in der Europäischen Menschenrechtskonvention des Europarats (1950) sowie in verschiedenen UN-Konventionen, die im Gefolge der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (1948) entstanden sind, z.B. dem Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale u. kulturelle Rechte (1966), dem Internationalen Pakt über bürgerliche u. politische Rechte (ebenfalls 1966), der Kinderrechtskonvention (1989) oder der Behindertenrechtskonvention (2009). Auch die Europäische Union hat ihre eigene Charta der Grundrechte erlassen, die 2009 in Kraft getreten ist.

Die im Begriff der Menschenrechte enthaltene Komponente des »Rechts« ist nicht nur metapho­risch gemeint. Erst im Medium des positiven Rechts erhalten die Menschenrechte ihre präzisen Konturen sowie ihre (relative) Durchschlagskraft. Ihre Reichweite und die Vorausset­zungen ihrer Inanspruchnahmen werden genauso bestimmt wie die Kriterien für Abwägungen mit ggf. konkurrierenden Rechtsgütern. Mit der positiv-rechtlichen Verbürgung von Menschenrechten verbinden sich außerdem nationale u. internationale Monitoring- und Durchsetzungsmechanismen. Kurz: Ohne Ernstnehmen der spezifisch rechtli­chen Dimension lassen sich Menschenrechte nicht verstehen.

Der grundlegende Charakter der Menschenrechte impliziert zugleich einen moralischen An­spruch, der sich häufig auch in einer Semantik der »Werte« manifestiert. Dies ist durchaus angemessen. Denn in den Menschenrechten geht es nicht lediglich um den fairen Ab­gleich konkurrierender Rechtspositionen, sondern zugleich um die normative Orien­tierung der Gesellschaft im Ganzen. Menschenrechte stehen für Respekt u. Förderung mündiger Selbst- u. Mitverantwortung, gleichberechtigte Partnerschaft, solidarisches fürei­nander Eintreten (Solidarität) und andere Grundwerte. Das Nebeneinander einer »Rechte«-Semantik und einer »Werte«-Semantik kann allerdings gelegentlich zu Miss­verständnissen führen, bspw. gerät die rechtliche Garantenstellung, die dem Staat zugunsten der Menschenrechte zukommt, bei der Übersetzung in eine Werte-Semantik oft aus dem Blick. Im Gegenzug kommt es manchmal dazu, dass die Dominanz einer juristisch-»technischen« Terminologie das den Menschenrechten zugrunde liegende moralische Anliegen un­angemessen überlagert.

Die Menschenrechte – als grundlegende Rechte und gleichzeitig fundamentale Werte – prägen zunehmend zugleich das Selbstverständnis religiöser Gemeinschaften und Institutio­nen, keineswegs nur innerhalb des Christentums, sondern auch im Kontext anderer Religionen. Menschenrechte werden dementsprechend längst auch in der Sprache der religiösen Ethik formuliert. Dies birgt vor allem Chancen, wirft allerdings zugleich Fragen auf. Kann man Menschenrechte etwa als »christl. Werte« bezeichnen? Auf der einen Seite setzt sich christl. Diakonie aus genuin christl. Motivation für die Rechte bspw. von Flücht­lingen oder Menschen mit Behinderungen ein. Auf der anderen Seite repräsentie­ren Menschenrechte weltweit verbindliche normative Eckpunkte, die für Menschen mit ganz unter­schiedlichen religiösen (oder nicht-religiösen) Überzeugungen gelten und plausibel sein sollen. Dies spricht dafür, Menschenrechte jedenfalls nicht schlicht mit »christl. Werten« gleichzusetzen. Dass sie gleichwohl auch im Horizont christl. Theologie u. Diakonie gewürdigt, begründet u. praktiziert werden können, bleibt unbenommen.

II. Die strukturgebenden Prinzipien der Menschenrechte

Die Menschenrechte beziehen sich auf die unterschiedlichsten Lebensbereiche. Es geht darin z.B. um Fragen von Glauben u. Gewissen, freie Religionsausübung, Meinungs- u. Informationsfreiheit, Versammlungsfreiheit, Vereinigungsfreiheit, politische Mitbestimmung, Respekt der Privatsphäre, freie Wahl des Ehegatten, Gleichberechtigung der Geschlechter, Zugang zu einem fairen Gerichtsverfahren, Verbot von Folter und grausamer u. unmenschlicher Behandlung, Recht auf Bildung, Asyl, Zugang zum Gesundheitswesen, Teilhabe am kulturellen Leben usw. Dementsprechend fächern sich die Menschenrechte in eine Fülle von Einzelrechten auf, die traditionell in bürgerliche, politi­sche, wirtschaftliche, soziale u. kulturelle Rechte eingeteilt werden. Hinzu kommt, dass deren Verbürgung auf unterschiedlichen Ebenen – in nationalen Verfassungen, regional-völkerrechtlichen Konventionen u. internationalen Konventionen – oft paral­lel geschieht, was dazu führt, der Gesamtbestand geltender Menschenrechtsnormen und -verfah­ren nicht leicht zu überblicken ist. Um eine Fragmentierung der Menschenrechte zu vermeiden, ist es wichtig, ihre normative Grundstruktur zu verstehen.

Allen Menschenrechten gemeinsam ist zunächst die Orientierung an der Würde des Menschen. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen von 1948, also das »Mutter­dokument« des internationalen Menschenrechtsschutzes, setzt mit der »Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen u. unveräußerlichen Rechte« ein (Präambel). Die somit als Ausgangs- u. Zielpunkt der Menschenrechte verankerte Menschenwürde ist religiös-weltanschaulich ausdrücklich offen – und in diesem Sinne »säkular« – formuliert. Im Vorfeld aufgebrachte Vorschläge, der Men­schenwürde ein theologisches, genauer: biblisches Fundament einzuziehen, wurden mit dem Argument zurückgewiesen, dass dadurch eine interreligiöse u. interkulturel­le Aneignung der Menschenrechte blockiert werden würde. Die säkulare Formulierung der Menschenwürde bzw. der Menschenrechte lässt Raum für theologische u. religiös-ethische Würdigun­gen, die allerdings als solche nicht rechtlich festgeschrieben werden können.

Die Menschenrechte institutionalisieren den Respekt vor der Würde des Menschen rechtsprak­tisch dadurch, dass sie jedem Menschen grundlegende Freiheits-, Gleichheits- u. Teil­haberechte garantieren. Freiheit, Gleichheit u. Teilhabe (früher: »Brüderlichkeit«) gel­ten als gleichsam architektonische Prinzipien, die alle menschenrechtlichen Einzel­normen prägen. Viele Rechte tragen den Freiheitsanspruch schon im Titel: Religions­freiheit, Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, freie Wahl des Ehegatten usw. Gelegentlich übersehen wird, dass nicht nur die bürgerlichen u. politischen Rechte, sondern auch die wirtschaftlichen u. sozialen Menschenrechte Freiheitsansprüche darstellen. Bei­spielsweise beinhaltet das Menschenrecht auf Gesundheit u.a. das Prinzip der Patientenautono­mie. Das Gleichheitsprinzip findet seine konkrete Ausgestaltung im Verbot von Dis­kriminierungen, z.B. aufgrund von ethnischer Herkunft, Geschlecht, Religion/Welt­anschauung, sozialem Status usw. Die Liste der explizit aufgeführten Diskriminie­rungsmerkmale bleibt offen und ist in jüngster Zeit etwa durch die Merkmale Behin­derung, Alter, sexuelle Orientierung und Gender-Identität erweitert worden. Um deutlich zu machen, dass Menschenrechte nicht nur die Freiheit u. Gleichheit isolierter Individuen rechtlich schützen, sondern gerade auch die gemeinschaftlichen Dimensionen mensch­lichen Lebens anerkennen, fügte man früher den Begriff der »Brüderlichkeit« hinzu, wodurch die Trias der menschenrechtlichen Kernprinzipien an die Trikolore der Französischen Revolution erinnerte. Stattdessen spricht man heute eher von Teilhabe oder von Inklusion. Der Begriff Inklusion ist durch die Behindertenrechtskonven­tion zu einem Leitprinzip der Menschenrechte – weit über den Anwendungsbereich Behinderung hinaus – geworden.

III. Praktische Durchsetzung der Menschenrechte

Die Verwirklichungschancen der Menschenrechte hängen vom koordinierten Zusammenwir­ken unterschiedlicher Akteursgruppen ab. Dem Staat kommt dabei die förmliche Garantenfunktion zu. Die Verpflichtungen des Staates werden oft als Pflichtentrias formuliert, wonach es dem Staat obliegt, die Menschenrechte in seinem eigenen Handeln stets zu achten (»obligation to respect«), sie zugleich gegen Beeinträchtigung durch Dritte zu schützen (»obligation to protect«) und darüber hinaus eine angemessene menschen­rechtliche Infrastruktur aufzubauen (»obligation to fulfil«).

Die menschenrechtlichen Durchsetzungsmechanismen sind vielfältig. Dazu zäh­len u.a.:

  • periodische Berichtsverfahren, in denen Staaten international Rechenschaft über die Lage der Menschenrechte in ihrem Jurisdiktionsbereich ablegen müssen;
  • anlassunabhängige Überprüfungen, die z.B. im Rahmen der Folterprävention unangekündigt in typischen Risikobereichen (Gefängnissen, psychiatrischen An­stalten usw.) durchgeführt werden;
  • Mechanismen informeller Konfliktlösung u. Beschwerde, wie sie etwa in Gestalt von Ombudsinstitutionen vorliegen;
  • gerichtliche Klagen, die Menschen gegen die Verletzung ihrer eigenen Rechte innerhalb des nationalen Gerichtswegs oder auch bei internationalen Gerichten (etwa dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg) betreiben können.

Nicht-staatliche Organisationen (NGOs) haben innerhalb der unter­schiedlichen Durchsetzungsmechanismen weitreichende Mitwirkungsmöglichkeiten, die sie zunehmend nutzen. Ein Beispiel bieten die Parallelberichte der NGOs (gern auch »Schattenberichte« genannt), die im Rahmen der staatlichen Berichterstattung an Menschenrechtsgremien der Vereinten Nationen gerichtet werden und erheblichen Einfluss auf das Verfahren nehmen.

Ein Erfolgsfaktor für die Durchsetzung der Menschenrechte ist die systematische Verklamme­rung internationaler Normierung bzw. Supervision mit nationalen Monitoring-Mecha­nismen. Vorbildlich dafür ist die UN-Behindertenrechtskonvention, die die Staaten dazu verpflichtet, nationale Infrastrukturentwicklung zu leisten, die zugleich regel­mäßig international überprüft wird. Bei der Verklammerung internationaler und nationaler Menschenrechtspolitik kommt den »National Human Rights Institutions« (NHRIs) eine Schlüsselrolle zu. In Deutschland hat das Deutsche Institut für Menschenrechte diesen Status inne. Die Chancen der Menschenrechte auf dauerhafte Verwirklichung hängen wesentlich davon ab, dass das Bewusstsein über ihre Bedeutung u. Wirkungsweise in der Bevölkerung breit verankert wird. Menschenrechtlicher Bildung in Schulen und den Institutionen au­ßer-schulischer Bildungsarbeit kommt hier zentrale Bedeutung zu.

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