Von Martin Buber
Der aufrichtige Dank, den ich hier Seiner Königlichen Hoheit dem Prinzen Bernhard und denen, die über die Zuerkennung des Preises entschieden haben, aussprechen möchte, ist nicht ein Dank allgemeiner Art für eine mir zugefallene hohe Ehre; es ist ein ganz besonderer Dank dafür, daß ich gerade diesen Preis empfange, der mit dem Namen des Erasmus verbunden ist. Denn wenn ich meine tiefste Lebensauffassung mit einem Begriff bezeichnen soll, so kann es nur derjenige sein, mit dem wir seine, des Erasmus, Lebensanschauung bezeichnen: der Begriff eines gläubigen Humanismus.
Doch müssen wir hier einen notwendigen, grundsätzlichen Unterschied machen.
Der gläubige Humanismus des Erasmus bedeutet das Zusammengehen zweier Prinzipien, die im Leben des Menschen nebeneinander Geltung haben, ohne einander zu berühren: die natürliche Menschlichkeit, in der der Mensch zu Hause ist und die er nur zu entfalten, zu entwickeln braucht, und ein gläubiges Aufblicken, in dem er sich, sich gleichsam vom Menschlichen loslösend, zu Gott erhebt. Im Leben des menschlichen Individuums sind das – für diese Form des Humanismus – zwei getrennte Bereiche, die einander nicht beschränken; sie gehören je besonderen Zeiten und besonderen Lebensgebieten an.
Ganz anders steht es mit der Lebensanschauung, die man in unserer Zeit als gläubigen Humanismus bezeichnen kann und die auch die meine ist. Hier manifestieren sich die Menschlichkeit und der Glaube nicht als zwei getrennte Gebiete, von denen jedes unter einem eigenen Zeichen steht und von einem besonderen Gesetz beherrscht wird; sie durchdringen einander, sie. wirken zusammen, ja sie stehen in so inniger gegenseitiger Beziehung, daß wir sagen dürfen: Unser Glaube beruht auf unserer Menschlichkeit und unsere Menschlichkeit auf unserem Glauben.
Um dieses Verhältnis näher zu verdeutlichen, empfiehlt es sich, einen nicht unwesentlichen Unterschied zwischen dem Denken der Hochrenaissance, zu der man Erasmus zählen muß, und dem unserer eigenen Zeit zu beachten. Es geht hier um die unterschiedliche Anschauung vom Humanismus, die zweierlei Sichtweise dessen, was das dem Menschen Eigene ausmacht, was ihn entscheidend vor der ganzen übrigen Natur auszeichnet, des humanum in der positivsten Bedeutung, wie wir es zu erkennen, zu ehren und zu veredeln, haben.
In dieser zweiten Antwort geht es nicht um das Verhältnis der menschlichen Person zu sich selbst, nicht darum, daß der Mensch in seinem eigenen Nachdenken das zum Bewußtsein seiner selbst gelangte „Sein“ entdeckt, sondern es geht um das Verhältnis des Menschen zu allem „Seienden“. Was sich hier als das humanum darbietet, als das, wodurch der Mensch alle anderen uns bekannten Lebewesen um ein Gewaltiges übertrifft, ist sein Vermögen, aus freiem Willen – also nicht wie das Tier durch seine Notdurft und seine Bedürfnisse gezwungen, sondern aus dem Überfluß seiner eigenen Existenz – mit allem, dem er leiblich oder geistig begegnet, in unmittelbare Beziehung zu treten, es mit Lippen und Herz oder auch nur mit dem Herzen anzureden. Im Unterschied zum Tier hat der Mensch das Vermögen, alles, was ihm auf seinen eigenen Lebenswegen entgegentritt, zu begreifen als etwas, das auch außerhalb seiner, des Menschen, Interessen an und für sich besteht. Mit diesem selbständig bestehenden Anderen kann er in Beziehung kommen. Indem das Andere, den Anderen jedesmal als ein Ganzes erkennt und anerkennt, kann er selbst sich jedesmal als ein Ganzer zu ihm verhalten. Als ein Ganzer tritt er in die gemeinsamen Situationen ein, ohne in ihnen aufzugehen, denn von jeder Situation aus nimmt er doch auch das entfernte, nicht auf diese Situation bezogene besondere Dasein seines Gegenübers wahr, ohne daß dieses deshalb zum reinen Objekt seiner Wahrnehmung und Anschauung würde. Dieses andere „Seiende“ geht, wie gering es sich auch innerhalb der Totalität des Seins ausnehmen mag, doch unermeßlich über die Situation der Begegnung hinaus – und doch steht es in unverminderter Beziehungsgemeinschaft mit der menschlichen Person.
Laut dieser neuen Antwort unserer Zeit auf. die Frage nach dem humanum erscheint dies folglich als die dem Menschen angeborene Anlage, echte Begegnungen mit anderem „Seiendem“ zu haben. Da der Mensch jedoch nach unserer Erfahrung das einzige Wesen ist, das diese Anlage in sich trägt, dürfen wir wohl sagen, daß in der Geschichte des Alls erst durch den Menschen Begegnung – als Begegnung des einen mit dem anderen – möglich geworden ist.
Es ist nicht von nur nebensächlicher, sondern vielmehr. von wesentlicher Bedeutung, daß es in der Geschichte der modernen Philosophie entweder religiöse Denker -gewesen sind, die zu dieser Lebensanschauung neigten, wie z.B. in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts Jacobi, in der ersten Hälfte des 19. Kierkegaard – letzterer freilich unter Beschränkung der Begegnungssituation auf die Beziehung zwischen Mensch und Gott –, oder aber Denker wie Kierkegaards Zeitgenosse Feuerbach, die auf die Grundlegung eines neuen Glaubens ohne irgendein transzendentes Element aus waren. Wie Kierkegaard nur die Begegnung zwischen dem einzelnen und Gott als wesentlich ansah und anerkannte, so Feuerbach nur die zwischen dem einen und dem anderen Menschen. Erst in unserer Zeit beginnt deutlich zu werden, daß die Einsicht in die Beziehung zwischen ,,Ich“ und „Du“ alles-umfassend ist.
Von entscheidender Bedeutung für die Frage eines authentischen gläubigen Humanismus in unserer Zeit ist mithin die Erkenntnis, daß das wahre humanum und die Glaubenserfahrung in demselben Boden der Begegnung wurzeln. Ja, in der fundamentalen Glaubenserfahrung selbst darf man die höchste Stufe der realen Begegnung sehen. Das gilt ohne jeden Zweifel für das religiöse Leben zwischen dem Arabischen Meer und dem Stillen Ozean; es hat aber sehr den Anschein, als stände auch weit außerhalb dieses Raumes, in der ganzen Menschheit, eine Begegnung mit dem Ungreifbaren und Unbegriffenen am Anfang der persönlichen Glaubenserfahrung und als träte sie auch innerhalb dieser Erfahrung immer wieder verstärkend und erneuernd auf.
Von hier aus kommt ein moderner gläubiger Humanismus in Sicht, der das humanum und den Glauben derart miteinander verbindet, daß diese beiden nicht mehr einfach nebeneinander wohnen, sondern einander durchdringen.
Nun kann man gegen meinen Gebrauch des Adjektivs „modern“ wohl einwenden, daß gerade in unserer Zeit von einem solchen gläubigen Humanismus wenig zu spüren ist. Und in der Tat, es sieht so aus, als habe heute mehr denn je ein Menschentypus die Oberhand, der mit Vorliebe die Wesen, die er auf seinem Lebensweg antrifft, zum Gegenstand der Beobachtung und des Gebrauchs macht, statt sich mit Seele und Tat ihnen zuzuwenden. Aber gerade in dieser unserer Zeit ist ein furchtbarer Erzieher zu einem neuen und gläubigen Humanismus entstanden. Ich meine die Krisis der Menschheit, die diese mit dem Untergang bedroht. Ich meine die Technologie, die der menschlichen Lenkung entglitten ist, die unbeschränkte Herrschaft der Mittel, die sich vor keinerlei Zweck mehr zu verantworten haben; ich meine die vorsätzliche Versklavung des Menschen im Dienste des gespaltenen Atoms. In dem heraufkommenden, noch formbaren Geschlecht nimmt eine immer größere Zahl von Menschen wahr, was da vorbereitet wird; ihr täglich zunehmendes Wahrnehmen, die Erkenntnis der Krisis ruft in ihnen die einzige Gegenkraft auf den Plan, der es gelingen kann, wieder Zwecke, große, leuchtende Zwecke zum Herrn und Meister über die rebellierenden Mittel zu machen. Diese Gegenkraft ist es, die ich den neuen gläubigen Humanismus nenne.
Aus dem Lande des Erasmus grüße ich die gläubigen Humanisten – jene, die schonhandeln, und jene, die erst heranreifen – in der ganzen Welt.
Dankrede, gehalten bei der Verleihung des Erasmus-Preises am 3. Juli 1963 in Amsterdam.
Quelle: Junge Kirche 25 (1964), S. 1-3.