Die Schöpfung singt der Dreieinigkeit. Das große Drama des trinitarischen Hymnus „Heilig, heilig, heilig“
Von Walter Brueggemann
Warum singen wir im Gottesdienst? Die Antwort ist weder abstrakt noch theoretisch. Sie erschließt sich durch die Praxis des Singens selbst. Die prägenden Handlungen der christlichen Gemeinschaft und das Wesen unserer Menschlichkeit in der Gegenwart Gottes werden in der Abfolge der Psalmen 104, 105, 106 und 107 deutlich:
- Psalm 104 zeigt das Staunen und die Ehrfurcht, die in überschwänglichem Lob münden.
- Psalm 105 beschreibt das Erinnern an Gottes gute Taten, das uns zu freudigem Gehorsam bewegt.
- Psalm 106 bringt das Erinnern an unser eigenes Abirren zum Ausdruck, wodurch wir unsere Not und Hoffnung auf Gottes Rettung ehrlich einordnen.
- Psalm 107 beschreibt den Dank, der konkrete Anlässe für Gottes verwandelnde Treue benennt und unsere Antwort in materieller Dankbarkeit ausdrückt.
Diese vier liturgischen Handlungen – Lobpreis, Bereitschaft zum Gehorsam, Bereitschaft zur Rettung und Dank (zu denen sich leicht weitere ähnliche Handlungen hinzufügen lassen) – stellen zusammen eine Ausgestaltung der Menschlichkeit dar, wie sie in der biblischen Tradition gegeben ist und im Gottesdienst gelebt werden kann.
Diese Dimensionen der Menschlichkeit, die durch ihre Ausführung angenommen werden, schaffen eine Welt der Gabe, die sich der herkömmlicheren und allgegenwärtigen Welt der Ware verweigert. Der momentane Ausbruch aus der Warenwelt im Gottesdienst erfordert eine Praxis der Vorstellungskraft und der emotionalen Befreiung, die gemeinsam der engen Logik der Marktideologie trotzen. Sie stellen sich auch gegen die Art von rationalem Reden, wie es viele Christen im Gottesdienst zu pflegen gewohnt sind. Singen ist Kunst, die eine Form der Freiheit beinhaltet, die sich analytischer Kontrolle entzieht. Singen ist – nach den Maßstäben der Welt – geradezu unvernünftig und bezeugt eine alternative Wirklichkeit.
Eine Antwort auf die Frage „Warum singen wir?“ lautet also: Im Singen bringen wir unsere gottgegebene Menschlichkeit zum Ausdruck und führen sie aus – geprägt von körperlicher Freiheit, unzensurierter Artikulation und ganzheitlichem, persönlichem Engagement. Israel wusste das schon beim Tanzen und Singen Miriams, die dem Pharao trotzte (vgl. 2. Mose 15,20–21). Die frühe Kirche erlebte es zu Pfingsten, was die römischen Machthaber nervös machte (vgl. Apostelgeschichte 16,25–34). Martin Luther wusste es, als er die Gnade Gottes auslegte – er wusste, dass diese Gnade gesungen werden muss. Martin Luther King Jr., der vor Sheriffs kniete, wusste, dass Singen Einschüchterung entgegentreten und Mut hervorrufen kann. Und wir wissen es in den späten Tagen des Kapitalismus, der die leibliche Menschlichkeit (mit ihren Wunden und Möglichkeiten) durch religiösen Kitsch zu überdecken sucht.
Das „Warum“ unseres Gesangs wird durch das „Was“ unseres Gesangs vertieft. Gesangbücher sind erstaunliche Schätze schöpferischer, glaubensvoller Ausdruckskraft. Ein bleibender Hymnus aus dem frühen 19. Jahrhundert ist „Heilig, heilig, heilig“, mit einem Text des anglikanischen Dichters und Bischofs Reginald Heber und einer Melodie von John B. Dykes. Dieser würdevolle, majestätische Hymnus bringt eine Dimension des Evangeliums zum Ausdruck, die im süßlichen Romantizismus vieler aktueller Kirchenmusik beinahe verloren geht. In einer verängstigten, einsamen Kultur der Entfremdung wie der unseren betont viel gegenwärtige Kirchenmusik die intime Eins-zu-eins-Beziehung mit Gott. Text und Musik bieten dabei Nähe und Trost. Doch inmitten solcher Musik steht dieser Hymnus als kraftvolles Bekenntnis, dass Gottes Wirklichkeit nicht auf tröstliche Vertrautheit reduziert werden kann. Der Hymnus besteht darauf: Der Gott, den die Kirche anbetet, ist ein ehrfurchtgebietender Herrscher, dem willige Hingabe gebührt.
Im gegenwärtigen kirchlichen Gebrauch ist der Hymnus regelmäßig mit dem Fest der Dreieinigkeit (Trinitatis) verbunden, da der Hymnus ganz bewusst jene spezifische Formulierung Gottes in voller majestätischer Geheimnisfülle bekräftigt. Das dreifache „Heilig“ wird als Anspielung auf die drei Personen der Dreieinigkeit verstanden. Das ist eine legitime kirchliche Auslegung, auch wenn in den biblischen Texten, die den Hymnus inspiriert haben (Offb. 4,6–11 und Jes. 6,1–8), keine trinitarischen Kategorien thematisiert werden. Das dreifache „Heilig“ in diesen Texten ist vielmehr eine rhetorische Übertreibung und eine sprachliche Steigerung, um das ehrfurchtgebietende Staunen über den souveränen Gott zum Ausdruck zu bringen.
Die Offenbarung 4 bietet eine Vision von „lebendigen Wesen“ und Ältesten, die sich in Doxologie um den himmlischen Thron versammeln und singen:
„Heilig, heilig, heilig ist Gott, der Herr, der Allmächtige, der war und der ist und der kommt … Du bist würdig, unser Herr und Gott, Herrlichkeit und Ehre und Macht zu empfangen, denn du hast alle Dinge erschaffen; durch deinen Willen waren sie und wurden sie erschaffen.“
Diese Vision antizipiert eine kommende Welt, die eine Alternative zur brutalen Realität des römischen Imperialismus darstellt. Der Hymnus der „lebendigen Wesen“ bezweifelt – wie das gesamte Buch der Offenbarung – nicht, dass Gott letztlich über das Reich der Gewalt triumphieren wird. Er zweifelt ebenso wenig daran, dass die Gläubigen, die dem Evangelium vertrauen, am Ende – nach dem Leiden unter dem gegenwärtigen Imperium – in doxologischer Freude über Gottes Sieg stehen werden. Die Doxologie ist somit eine vorwegnehmende Feier von Gottes sicherem und endgültigem Triumph über das historische Böse.
Der gefeierte Gott ist der beinahe unaussprechliche Schöpfergott, der alle Dinge geschaffen hat, der „das Nichtseiende ruft, dass es sei“ (Röm. 4,17), und der vor aller geschaffenen Zeit, nach aller geschaffenen Zeit und Herr über alle geschaffene Zeit ist. Von Anfang an wusste die Kirche – im Geiste Israels –, dass ein solch unaussprechlicher Anspruch an Gott nur in poetischer, doxologischer Sprache ausgedrückt werden kann. Es ist höchst bedauerlich, dass die poetisch-liturgische Formulierung der Dreieinigkeit, „Gott in drei Personen“, oft von einer poetischen Bekundung zum dogmatischen Lehrsatz reduziert wurde, der vorgibt, mit menschlicher Rationalität erklärbar zu sein. Der Zweck der Doxologie besteht jedoch gerade darin, solches erklärendes Denken zu unterlaufen – weshalb die Kirche im besten Fall singt, statt zu argumentieren oder zu streiten.
Das dreifache „Heilig“ in Offenbarung 4 ist zweifellos aus Jesaja 6 übernommen. Dieser Text beschreibt ein aufwühlendes Erlebnis des Propheten Jesaja in Jerusalem: Der Prophet hat eine Vision des ehrfurchtgebietenden, souveränen Gottes und nimmt in der Folge die mühsame Berufung zum Propheten an. Die Vision, die Jesaja schildert, zeigt JHWH als König, hoch und erhaben im himmlischen Thronsaal, wo die „lebendigen Wesen“ aus der Offenbarung – geflügelte Wesen (Seraphim und Cherubim) – um den Thron Gottes in endloser Doxologie schwirren. Sie bedecken ihre Gesichter mit zwei Flügeln, weil sie es nicht wagen, den Heiligen anzuschauen. Ihr Lied ist das dreifache „Heilig“, das in der Offenbarung und in Hebers Hymnus widerhallt:
„Heilig, heilig, heilig ist der Herr der Heerscharen; die ganze Erde ist erfüllt von seiner Herrlichkeit“ (Jes. 6,3).
Der Tempel kann die göttliche Herrlichkeit nicht fassen – sie überfließt die gesamte Schöpfung. Die Reaktion des Propheten auf diese Gottesvision ist das Bewusstsein seiner eigenen sündhaften Unwürdigkeit, seiner rituellen Unreinheit im Angesicht der Heiligkeit. Jesaja ist bis ins Innerste erschüttert, dass ihm – trotz seiner Unwürdigkeit – dennoch diese heilige Vision zuteilwird. Mehr als eine Vision: Dieser heilige Gott entfernt durch den Dienst der geflügelten Wesen seine Schuld und tilgt seine Sünde. Es ist erstaunlich, dass der Heilige sich in Vergebung investiert! Jesajas Antwort auf dieses Wunder ist seine Bereitschaft, im Auftrag dieses dreimal heiligen Gottes ausgesandt zu werden.
Bemerkenswert ist, dass die Verse, die auf diese Szene in Jesaja 6 folgen, in der Kirche meist nicht erwähnt oder zitiert werden, weil sie harte Worte enthalten. Darin sagt der heilige Gott, dass Israel in seinem Widerstand nicht „erkennen“, nicht verstehen und sich nicht „bekehren und heil werden“ kann (Vv. 9–10). Das Volk Gottes wird einem tiefen Gericht unterworfen – das ist die schwere Last der prophetischen Berufung Jesajas. Auch wenn wir diesen Aspekt regelmäßig ausblenden (wie auch die Offenbarung es tut), ist es wichtig zu bemerken, dass das Neue Testament diesen Text wiederholt als Gerichtswort über Israel zitiert – ein Urteil, das sich ohne Weiteres auch auf die Kirche übertragen lässt (Mt. 13,14–15; Mk. 4,12; Lk. 8,10; Joh. 12,37–43; Apg. 28,26–27; Röm. 11,7). In Jesaja 6 ist die Vision der Heiligkeit Gottes zwar ehrfurchtgebietend, aber zugleich auch bedrohlich – sie schließt jene leichte Vertraulichkeit aus, die wir vielleicht lieber hätten.
Schon in der ersten Strophe des Hymnus geht das Lied über Jesaja und die Offenbarung hinaus und verankert unser Singen in der dogmatischen Formulierung von Nizäa:
„Heilig, heilig, heilig! Herr Gott allmächtig!
Früh am Morgen bringen wir dir unser Lied.
Heilig, heilig, heilig! Barmherzig und mächtig!
Gott in drei Personen, gebenedeite Dreieinigkeit!“
Das eröffnende „Herr Gott allmächtig“ ist ein treues Echo auf Jesajas Bekräftigung, dass er „den König, den Herrn der Heerscharen“ gesehen habe (Jes. 6,5). Die „Heerscharen“, die den König umgeben, sind die „lebendigen Wesen“, die Engel und göttlichen Boten, einschließlich der Seraphim und Cherubim. Da der Thronsaal in der Vision von einer großen doxologischen Gemeinschaft bevölkert ist, ist es kein großer Sprung, sich diese dreifache Erscheinung der göttlichen Gegenwart vorzustellen. Es handelt sich hier nicht um einen eindimensionalen Monarchen, sondern um eine große Gemeinschaft göttlicher Wirksamkeit.
Der herrschende König wird als „barmherzig und mächtig“ erkannt. Diese beiden Themen spannen zusammen die reiche Komplexität göttlicher Fähigkeit auf: Macht, die von souveräner Autorität kündet, die sich nicht verspotten lässt – einerseits –, und Barmherzigkeit, die göttliche Majestät für gnädige Gegenseitigkeit öffnet – andererseits.
Diese beiden Themen spiegeln Israels Geschichte von Exil und Heimkehr wider und erscheinen erneut in der Jesus-Erzählung als Kreuzigung und Auferstehung. Sie werden zu wiederkehrenden Realitäten im Leben Gottes, auch wenn wir dazu neigen, jeweils nur einem Aspekt den Vorzug zu geben.
Gerade diese Spannung zwischen Macht und Barmherzigkeit hält die Zukunft offen. Kein Wunder also, dass wir schon zu Beginn des Hymnus bekennen, dass unser Lobgesang im Morgengrauen zu diesem Gott aufsteigen wird, sobald das Licht des Tages anbricht. Das Staunen über diesen dreimal heiligen Gott von Macht und Barmherzigkeit lädt nicht zur Erklärung ein – es ruft zur Doxologie auf, die sofort mit unserem Erwachen beginnen muss. Der Hymnus führt damit – durch unseren Gesang – genau das aus, was er beschreibt: Wir singen vom Lob im Morgengrauen, während wir selbst im Morgengrauen loben.
Die zweite Strophe bezeugt den Gott, der in Macht und Barmherzigkeit in allen Zeiten wirkt – vor der Zeit, nach der Zeit – und so unsere bescheidenen geschichtlichen Momente von Hoffnung und Furcht umfängt:
„Heilig, heilig, heilig! Alle Heiligen preisen dich,
werfen ihre goldnen Kronen nieder vor dem Kristallmeer;
Cherubim und Seraphim fallen nieder vor dir,
der du warst und bist und ewig sein wirst.“
Das Staunen über ein solch engagiertes Letztes – engagiert in Erhaltung, Eingreifen und Wiederherstellung – macht das Lob zur einzig angemessenen Antwort, ein freudiges Anerkennen dieser Realität, die sich unserem erklärenden Denken entzieht. Das doxologische Drama entfaltet sich im Himmel (dem Ort der Götter) ebenso wie auf Erden, wo wir die Szene aus dem himmlischen Thronsaal wiederholen.
Zu den freudigen Teilnehmern dieser doxologischen Szene gehören „alle Heiligen“, die freiwillig auf ihre Kronen des Sieges, der Tugend und des Verdienstes verzichten (Offb. 4,10). Unter den Heiligen gibt es kein Zögern, ihre größten Ansprüche niederzulegen – denn die Vision Gottes überwältigt. Neben den Heiligen – die für ihr Bekenntnis unter dem Imperium schwer gelitten haben und nun gerechtfertigt sind – steht die wimmelnde Gemeinschaft des Thronsaals, die Gott dient, wie wir sie in Jesajas Vision sehen (Seraphim und Cherubim). In unserem Gesang nehmen wir teil an diesem herrlichen Drama gemeinsam mit Gottes unmittelbaren Dienern. Die Szene ist eine reine Freude – ein Fest für den König-Gott, der die Mächte des Bösen besiegt und ein neues Reich freudiger Wohlfahrt anbietet.
Die dritte Strophe des Hymnus entfaltet diesen gefeierten Herrn der Macht und Barmherzigkeit weiter in einer Formel der Unvergleichlichkeit:
„Heilig, heilig, heilig! Auch wenn Finsternis dich verbirgt,
und das sündige Auge deine Herrlichkeit nicht sieht:
nur du bist heilig; es ist keiner dir gleich,
vollkommen in Macht, in Liebe und Reinheit.“
Die Formel „es ist keiner dir gleich“ lässt zwar zu, dass es andere Götter in der Umgebung gibt, aber keiner von ihnen ist vergleichbar mit diesem Ausüber von Macht und Barmherzigkeit. Es gibt keinen wie diesen Gott – keinen Rivalen, keine Alternative, kein besseres Angebot. Diese Formel findet sich oft in der Bibel wieder.
Die Unvergleichlichkeit JHWHs, so bezeugt der Hymnus, liegt in der Verbindung von Macht, Liebe und Reinheit. Die ersten beiden Begriffe wiederholen „barmherzig und mächtig“. Der dritte Begriff bringt eine neue Note ins Spiel – er verweist auf die ungetrübte Unschuld und Reinheit der Heiligen in der Offenbarung, deren Leben durch Leiden gereinigt wurden. Oder er erinnert an die Handlung des Seraph in der Jesajavision, der die entweihende Unreinheit des Propheten beseitigte und ihn rein machte – fähig, in Gottes Gegenwart zu stehen. Es könnte – so unwahrscheinlich es auch ist – irgendwo einen Gott der Macht geben, vielleicht auch einen Gott der Liebe oder der Reinheit. Aber es gibt keinen wie JHWH, der diese drei Eigenschaften in dramatischer und wirksamer Weise vereint und so unser Leben mit Gott möglich und freudvoll macht.
Wenn wir „Heilig, heilig, heilig“ singen, vollziehen wir den Akt des Lobpreises, den der Text beschreibt.
Obwohl in der Offenbarung nichts davon steht, dass die Ältesten oder die lebendigen Wesen sündig wären, erkennt diese Strophe die tiefe und unüberbrückbare Distanz zwischen Gott und den Anbetenden an – eine Distanz, die zwei verschiedene Ursachen haben kann. Erstens: Gott mag vor uns verborgen sein, weil die Sünde unsere Augen getrübt und unsere Sicht verzerrt hat, sodass Gott für uns verborgen bleibt. Im Jesajatext wird allerdings ein anderer Weg aufgezeigt. Der Prophet bekennt staunend, dass er – obwohl er und sein Volk „unrein“ (rituell unqualifiziert) sind – dennoch „meine Augen den König gesehen haben“ (Jes. 6,5). In diesem Moment ist Gott bereit, über Jesajas rituelle Disqualifikation hinwegzusehen, sodass er Gott tatsächlich schauen kann.
Eine zweite Möglichkeit ist, dass die „Finsternis“, die Gott in dieser Strophe des Hymnus verbirgt, eine liturgische Anordnung ist, die übermäßigen Zugang zu Gott verhindert – verhindert, um das göttliche Ehrfurchtspotenzial aufrechtzuerhalten oder vielleicht um die Anbetenden vor der Gefahr eines unmittelbaren Zugangs zu schützen. Die Abfolge der Worte legt nahe, dass es Gottes Unvergleichlichkeit ist, die der Grund für seine Verborgenheit ist.
Ich schlage vor, dass der Hymnus diese Frage offenlässt – ebenso wie die Schrift selbst in dieser Hinsicht ambivalent und uneindeutig bleibt. Viele Auslegungen neigen dazu, anzunehmen, dass es allein unsere Verstocktheit sei, die unsere Sicht auf Gott blockiert. Die dritte Strophe lässt dieses Verständnis zu. Aber vielleicht liegt die eigentliche Ursache nicht in unserem Versagen, sondern in Gottes Einzigartigkeit – in einer Einzigartigkeit, die nicht beabsichtigt, vollständig zur Schau gestellt zu werden. So erklärt Gott Mose, dass es zu gefährlich sei, ihn zu sehen: „Du kannst mein Angesicht nicht sehen; denn kein Mensch wird leben, der mich sieht“ (Ex 33,20). Doch selbst in dieser Begegnung schließt Gottes Verborgenheit seine Barmherzigkeit nicht aus: „Ich werde gnädig sein, wem ich gnädig bin, und werde mich erbarmen, wessen ich mich erbarme“ (Ex 33,19). Die Nebeneinanderstellung der Verse 19 und 20 legt nahe, dass die göttliche Verborgenheit Gottes Freiheit wahrt – auch in seiner Barmherzigkeit. So kehren wir zurück zur doppelten Aussage des Hymnus von Macht und Barmherzigkeit, Kraft und Liebe, Verborgenheit und Zugänglichkeit. Diese mehrdeutige göttliche Realität kann nur in ehrfürchtigem Staunen erkannt werden – einem Staunen, das zu freudigem Lobpreis führt.
Die vierte Strophe wiederholt vieles von dem, was wir bereits gesungen haben:
„Heilig, heilig, heilig! Herr Gott, allmächtig!
Alle deine Werke loben deinen Namen, auf Erden, im Himmel, im Meer;
Heilig, heilig, heilig! Barmherzig und mächtig!
Gott in drei Personen, gesegnete Dreieinigkeit!“
Hier jedoch finden wir einen neuen Akzent: „Alle deine Werke loben deinen Namen.“ Diese Werke (Geschöpfe?) sind Bewohner von „Erde, Himmel und Meer“ – also der Gesamtheit alles Seienden. Die Triade spiegelt das antike Weltbild mit drei Ebenen wider, doch die Aufzählung zielt auf Vollständigkeit: Kein Geschöpf bleibt ausgeschlossen. Es gibt kein Wesen, das nicht lobt.
In diesem liturgischen Akt wird der Schöpfergott gerne eine wechselseitige, abhängige Beziehung zu allen Geschöpfen anerkennen. Die angemessene Haltung aller Geschöpfe – vom bescheidenen Radieschen über den glitschigen Aal bis hin zum Menschen „im Bilde Gottes“ – ist die Doxologie.
Dass alle Geschöpfe sich in das Lob einstimmen, wird bereits in Psalmen wie Psalm 148 gefeiert:
„Lobet den HERRN von der Erde her, ihr Seeungeheuer und alle Tiefen,
Feuer und Hagel, Schnee und Dunst, Sturmwind, der sein Wort ausrichtet,
Berge und alle Hügel, Fruchtbäume und alle Zedern,
Tiere und alles Vieh, Gewürm und gefiederte Vögel,
Könige der Erde und alle Völker, Fürsten und alle Richter auf Erden,
Jünglinge und Jungfrauen, Alte mit den Jungen:
Sie alle sollen loben den Namen des HERRN“ (Ps 148,7–13a).
Das Bewusstsein, dass all diese Geschöpfe gemeinsam mit uns im frohen Lob stehen, könnte uns vor der flachen Sichtweise der Moderne bewahren, in der Kreatürlichkeit lediglich als materielles Phänomen erscheint, das uns zur Nutzung, zum Genuss oder zur Ausbeutung gegeben ist. Im Gegenteil – jedes Element ist ein doxologisches Geschöpf, das mit uns singt.
Wie in Psalm 148 richtet sich auch unser Hymnus auf den Namen Gottes – das heißt auf Gottes Identität und Ruf: „Sie sollen loben den Namen des HERRN, denn sein Name allein ist erhaben“ (Ps 148,13). Im Buch Amos lautet Gottes Name „Herr der Heerscharen“, was bedeutet: der Souverän und Befehlshaber über das ganze Heer von Engeln, Sternen und allen lebendigen Kreaturen (vgl. Amos 4,13; 5,8–9; 9,5–6). Dass solch eine Schöpfung sich im Lob vereint, zeigt eine Überzeugung: Es gibt keine leblose oder „außerkovenantliche“ Kreatur – alles ist Beziehung und Gegenseitigkeit unter willigen Partnern, die mit Freude ihre grundlegende Abhängigkeit vom und Dankbarkeit gegenüber dem Schöpfergott feiern.
So verbindet der Hymnus kühn das Mysterium der Dreieinigkeit mit allem, selbst mit den niedrigsten Kreaturen. Mit einem Verweis auf Dantes Göttliche Komödie schließen David Hardy und David Ford ihr Buch Praising and Knowing God mit diesen Worten:
„Dies sieht Lobpreis und Anbetung Gottes – und in angemessener Weise auch der Menschen – als das Wesen jeder menschlichen Berufung. … Was war der positive Beitrag der Lehre von der Dreieinigkeit? Lobpreis ist unter anderem eine Form des Denkens und zielt darauf, ‚Gott zu denken‘ – so angemessen wie nur möglich.“
Diese Aussage raubt uns den Atem, weil sie all unserem gewöhnlichen Denken widerspricht. Sie eröffnet eine weite Perspektive auf die Welt, die auf Gott antwortet, indem sie ihren wahren Status vor Gott anerkennt. Eine solche Denk- (und Sing-)weise verweigert sich der reduktionistischen Vorstellungskraft, die lieber kontrolliert als sich freudig hinzugeben. Sie entlarvt zugleich die Banalität kirchlicher Musik, die privatisiert und domestiziert wurde – und sich damit dem großen Drama widersetzt, in das wir hineingestellt sind, gemeinsam mit Gottes freudigen und dankbaren Geschöpfen.
Der Text ist eine Adaption aus Walter Brueggemann, A Glad Obedience: Why and What We Sing, Westminster John Knox Press, 2019.