Die Natur der Tugenden: Von Homer bis Benjamin Franklin
Von Alasdair MacIntyre
Eine mögliche Reaktion auf die Geschichte des griechischen und mittelalterlichen Denkens über die Tugenden wäre der Vorschlag, dass es selbst innerhalb dieser relativ kohärenten Denktradition einfach zu viele unterschiedliche und unvereinbare Auffassungen einer Tugend gibt, als dass man von einer wirklichen Einheit des Konzepts oder gar der Geschichte sprechen könnte. Homer, Sophokles, Aristoteles, das Neue Testament und mittelalterliche Denker unterscheiden sich in zu vielerlei Hinsicht voneinander. Sie bieten uns unterschiedliche und miteinander unvereinbare Tugendkataloge; sie geben den verschiedenen Tugenden eine unterschiedliche Rangordnung in ihrer Wichtigkeit; und sie vertreten unterschiedliche und inkompatible Theorien der Tugenden. Wenn wir spätere westliche Autoren zu den Tugenden hinzuziehen, würde sich die Liste der Unterschiede und Unvereinbarkeiten noch weiter vergrößern; und würden wir unsere Untersuchung auf beispielsweise japanische oder amerikanisch-indianische Kulturen ausdehnen, wären die Unterschiede noch gravierender. Es wäre nur allzu leicht, daraus zu schließen, dass es eine Vielzahl rivalisierender und alternativer Auffassungen gibt, aber selbst innerhalb der frühen westlichen Tradition keine einheitliche Kernvorstellung.
Das Argument für eine solche Schlussfolgerung ließe sich kaum besser aufbauen als durch den Ausgangspunkt, die sehr unterschiedlichen Listen von Eigenschaften zu betrachten, die verschiedene Autoren zu unterschiedlichen Zeiten und an unterschiedlichen Orten in ihre Tugendkataloge aufgenommen haben. Ich möchte einige der zentralen Merkmale einiger dieser Kataloge – die von Homer, Aristoteles und dem Neuen Testament – in Erinnerung rufen und dann zum weiteren Vergleich Benjamin Franklin und Jane Austen einführen.
Das erste Beispiel ist Homer. Mindestens einige der Punkte auf einer homerischen Liste der aretai würden von den meisten von uns heutzutage ganz offensichtlich nicht als Tugenden betrachtet werden – körperliche Stärke ist das offensichtlichste Beispiel. Darauf könnte man entgegnen, dass wir vielleicht das Wort arete bei Homer nicht mit unserem Wort „Tugend“, sondern besser mit „Exzellenz“ übersetzen sollten; und vielleicht, wenn wir es so übersetzen würden, erschiene der anscheinend überraschende Unterschied zwischen Homer und uns auf den ersten Blick als beseitigt. Denn wir könnten ohne Weiteres anerkennen, dass der Besitz körperlicher Stärke eine Form der Exzellenz darstellt. Doch tatsächlich hätten wir den Unterschied nicht beseitigt, sondern lediglich verlagert. Denn nun würde es scheinen, dass Homers Begriff von arete, also Exzellenz, etwas anderes ist als unser Begriff von Tugend, da eine bestimmte Eigenschaft in Homers Augen eine Exzellenz sein kann, aber keine Tugend in unseren – und umgekehrt.
Natürlich unterscheidet sich Homers Tugendliste nicht nur von unserer, sondern bemerkenswerterweise auch von der des Aristoteles. Und Aristoteles’ Liste wiederum unterscheidet sich ebenfalls von unserer. Zum einen lassen sich manche griechischen Tugendbegriffe nicht leicht ins Englische – oder generell aus dem Griechischen – übersetzen. Zudem ist etwa die Bedeutung der Freundschaft als Tugend in Aristoteles’ Liste ganz anders gewichtet – wie sehr unterscheidet sich das von unserer Vorstellung! Oder der Stellenwert der phronesis, der Tugend, die sich in hervorragender praktischer Urteilskraft zeigt – wie anders im Vergleich zu Homer und zu uns! Der Geist erhält von Aristoteles die Art von Würdigung, die bei Homer dem Körper zuteilwird. Doch es geht nicht nur um Unterschiede in der Aufnahme oder Auslassung bestimmter Punkte in den jeweiligen Katalogen. Die Unterschiede zeigen sich auch darin, wie diese Kataloge geordnet sind, welche Eigenschaften als zentral für menschliche Exzellenz und welche als eher randständig betrachtet werden.
Darüber hinaus hat sich das Verhältnis der Tugenden zur gesellschaftlichen Ordnung gewandelt. Für Homer ist der Krieger das Paradigma menschlicher Exzellenz; für Aristoteles ist es der athenische Edelmann. Tatsächlich sind laut Aristoteles bestimmte Tugenden nur den Reichen und Hochgestellten zugänglich; dem armen Mann – selbst wenn er ein freier Mann ist – stehen sie nicht offen. Und diese Tugenden sind aus aristotelischer Sicht zentrale Tugenden des menschlichen Lebens; Großherzigkeit (megalopsuchia – ein Begriff, der sich kaum zufriedenstellend übersetzen lässt) und Freigebigkeit sind nicht nur Tugenden, sondern wichtige Tugenden innerhalb des aristotelischen Schemas.
Man kann kaum umhin zu bemerken, dass der auffälligste Kontrast zu Aristoteles’ Tugendkatalog weder bei Homer noch bei uns selbst zu finden ist, sondern im Neuen Testament. Denn das Neue Testament lobt nicht nur Tugenden, von denen Aristoteles nichts weiß – Glaube, Hoffnung und Liebe – und sagt nichts über Tugenden wie phronesis, die für Aristoteles zentral sind, sondern es preist mindestens eine Eigenschaft als Tugend, die Aristoteles als Laster im Vergleich zur Großherzigkeit ansieht: nämlich die Demut. Außerdem ist für das Neue Testament ganz klar, dass die Reichen für die Qualen der Hölle bestimmt sind; daraus folgt, dass ihnen die wichtigsten Tugenden gar nicht zugänglich sind – sie sind vielmehr den Sklaven zugänglich. Und das Neue Testament unterscheidet sich sowohl von Homer als auch von Aristoteles nicht nur hinsichtlich der aufgenommenen Tugenden, sondern erneut auch in ihrer Rangordnung.
Wenden wir uns nun dem Vergleich der drei bisher betrachteten Tugendkataloge – dem homerischen, dem aristotelischen und dem des Neuen Testaments – mit zwei sehr viel späteren Listen zu: einer, die sich aus den Romanen Jane Austens zusammenstellen lässt, und einer, die Benjamin Franklin für sich selbst erstellt hat. Zwei Merkmale stechen in Jane Austens Tugendvorstellung hervor. Erstens ist da die große Bedeutung, die sie der Tugend beimisst, die sie „Beständigkeit“ (constancy) nennt. In mancher Hinsicht spielt Beständigkeit bei Jane Austen eine ähnliche Rolle wie phronesis bei Aristoteles; es handelt sich um eine Tugend, deren Besitz eine Voraussetzung für den Besitz anderer Tugenden ist. Zweitens behandelt sie das, was Aristoteles als Tugend der Gefälligkeit beschreibt – eine Tugend, für die er sagt, dass es keinen Namen gebe – lediglich als ein Trugbild einer echten Tugend. Die echte Tugend in diesem Zusammenhang ist das, was sie „Liebenswürdigkeit“ (amiability) nennt. Denn der Mensch, der Gefälligkeit übt, tut dies laut Aristoteles aus Gründen der Ehre und Zweckmäßigkeit; Jane Austen hingegen hielt es für möglich und notwendig, dass der Träger der Tugend eine echte Zuneigung zu Menschen als solchen empfindet. (Hier ist es wichtig zu betonen, dass Jane Austen Christin war.) Man erinnere sich daran, dass Aristoteles selbst militärischen Mut als ein Trugbild des wahren Mutes angesehen hatte. Wir haben es hier also mit einer weiteren Art von Meinungsverschiedenheit über die Tugenden zu tun – nämlich mit der Frage, welche menschlichen Eigenschaften echte Tugenden sind und welche lediglich Trugbilder.
In Benjamin Franklins Liste finden wir fast alle Arten von Abweichungen, die wir bereits in mindestens einem der bisherigen Kataloge festgestellt haben – und noch eine zusätzliche. Franklin nimmt Tugenden auf, die in unseren bisherigen Überlegungen neu sind, wie etwa Reinlichkeit, Schweigsamkeit und Fleiß; er betrachtet offenbar den Drang zu erwerben selbst als Teil der Tugend, während dies für die meisten antiken Griechen das Laster der pleonexia (Habgier, Maßlosigkeit) war. Er behandelt einige Tugenden, die frühere Zeiten als nebensächlich ansahen, als Haupttugenden; aber er definiert auch manche bekannten Tugenden um. In der Liste der dreizehn Tugenden, die Franklin als Teil seines Systems privater moralischer Buchführung zusammengestellt hat, erläutert er jede Tugend durch das Zitieren einer Maxime, deren Befolgung die Tugend ausmacht. Im Fall der Keuschheit lautet die Maxime: „Gebrauche die Wollust selten, nur zur Gesundheit oder zur Fortpflanzung – niemals zur Abstumpfung, Schwächung oder zum Schaden deines eigenen oder eines anderen Friedens oder Rufes.“ Das ist ganz eindeutig nicht das, was frühere Autoren unter „Keuschheit“ verstanden hätten.
Wir haben also eine erstaunliche Zahl von Unterschieden und Unvereinbarkeiten in den fünf erklärten und impliziten Tugendverständnissen angesammelt. Die eingangs gestellte Frage wird damit umso dringlicher: Wenn verschiedene Autoren zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten – aber alle innerhalb der Geschichte der westlichen Kultur – so unterschiedliche Arten und Gruppen von Eigenschaften in ihren Listen aufführen, auf welcher Grundlage können wir dann annehmen, dass sie tatsächlich versuchen, Eigenschaften einer und derselben Art aufzulisten? Gibt es überhaupt ein gemeinsames Konzept? Ein zweiter Gesichtspunkt verstärkt die Vermutung, dass die Antwort auf diese Frage negativ ausfällt: Es ist nicht nur so, dass jeder dieser fünf Autoren unterschiedliche und voneinander abweichende Eigenschaften nennt; vielmehr ist jede dieser Listen Ausdruck einer jeweils anderen Theorie.
In den homerischen Epen ist eine Tugend eine Eigenschaft, deren Ausübung es jemandem ermöglicht, genau das zu tun, was seine klar definierte soziale Rolle verlangt. Die primäre Rolle ist die des kriegerischen Königs, und dass Homer jene Tugenden auflistet, die er tut, wird sofort verständlich, wenn man erkennt, dass die entscheidenden Tugenden daher diejenigen sein müssen, die einem Mann ermöglichen, im Kampf und in den Wettspielen hervorzuragen. Wir können die homerischen Tugenden nicht erkennen, bevor wir nicht die entscheidenden sozialen Rollen in der homerischen Gesellschaft und deren jeweilige Anforderungen bestimmt haben. Das Konzept dessen, was jemand in einer bestimmten Rolle tun soll, ist dem Konzept der Tugend vorgelagert; Letzteres kann nur durch Ersteres Anwendung finden.
„Und Hektor tötete Periphetes, einen Mykenäer, Sohn des Kopreus … der Sohn übertraf den Vater an jeder Art von Tugend, an Schnelligkeit des Fußes und als Krieger, und er wurde unter den Mykenäern wegen seines Verstandes hoch geschätzt.“
Homer, Ilias XV, 638–643
Bei Aristoteles hingegen liegt der Sachverhalt ganz anders. Auch wenn einige Tugenden nur bestimmten Menschentypen zugänglich sind, so haften Tugenden doch nicht den Menschen als Trägern sozialer Rollen an, sondern dem Menschen als solchem. Es ist das telos (Ziel, Zweck) des Menschen als Gattung, das bestimmt, welche menschlichen Eigenschaften Tugenden sind. Wir müssen uns allerdings daran erinnern, dass Aristoteles den Erwerb und die Ausübung der Tugenden zwar als Mittel zu einem Ziel behandelt, das Verhältnis von Mittel und Zweck aber ein inneres, kein äußeres ist. Ich nenne ein Mittel dann innerlich zu einem bestimmten Zweck, wenn sich dieser Zweck nicht angemessen beschreiben lässt, ohne gleichzeitig das Mittel zu beschreiben. So verhält es sich mit den Tugenden und dem telos, das das gute Leben für den Menschen bei Aristoteles darstellt. Die Ausübung der Tugenden ist selbst ein entscheidender Bestandteil des guten Lebens für den Menschen. Diese Unterscheidung zwischen inneren und äußeren Mitteln zu einem Zweck wird von Aristoteles in der Nikomachischen Ethik, wie ich bereits zuvor bemerkt habe, nicht explizit getroffen, doch ist sie eine wesentliche Unterscheidung, wenn wir verstehen wollen, was Aristoteles meint. Diese Unterscheidung wird ausdrücklich von Thomas von Aquin in seiner Verteidigung von Augustinus’ Definition der Tugend vorgenommen, und es ist klar, dass Aquin sich dabei im aristotelischen Denkhorizont bewegte.
Der Tugendbegriff des Neuen Testaments weist – so sehr er sich inhaltlich auch von dem des Aristoteles unterscheidet (Aristoteles hätte Jesus Christus sicherlich nicht bewundert und wäre von Paulus entsetzt gewesen) – dennoch dieselbe logische und begriffliche Struktur wie der des Aristoteles auf. Eine Tugend ist, wie bei Aristoteles, eine Eigenschaft, deren Ausübung zur Erreichung des menschlichen telos führt. Das Gute für den Menschen ist freilich ein übernatürliches und nicht nur ein natürliches Gut, aber das Übernatürliche erlöst und vollendet die Natur. Darüber hinaus ist das Verhältnis der Tugenden zu dem Ziel – der Aufnahme des Menschen in das göttliche Reich des kommenden Zeitalters – ein inneres, kein äußeres, ebenso wie bei Aristoteles. Gerade dieser Parallelismus ist es, der Thomas von Aquin die Synthese von Aristoteles und dem Neuen Testament ermöglicht. Ein zentrales Element dieses Parallelismus ist die Art und Weise, in der der Begriff des guten Lebens für den Menschen dem Begriff der Tugend vorausgeht – so wie im homerischen Modell der Begriff der sozialen Rolle vorausgeht. Wieder ist es die Anwendung des einen Begriffs, die bestimmt, wie der andere angewendet werden kann. In beiden Fällen ist der Tugendbegriff sekundär.
Jane Austens Theorie der Tugenden verfolgt jedoch eine ganz andere Absicht. C.S. Lewis hat mit Recht betont, wie zutiefst christlich ihre moralische Weltsicht ist, und Gilbert Ryle hat ebenso zu Recht auf ihr Erbe von Shaftesbury und Aristoteles hingewiesen. Tatsächlich vereint ihre Auffassung auch Elemente aus Homer, denn sie setzt sich mit sozialen Rollen in einer Weise auseinander, wie es weder das Neue Testament noch Aristoteles tun. Deshalb ist sie wichtig in dem Sinne, dass sie zeigt, wie es möglich ist, auf den ersten Blick disparat erscheinende theoretische Auffassungen der Tugend miteinander zu verbinden. Aber der Versuch, die Bedeutung dieser Synthese Jane Austens zu beurteilen, muss vorerst zurückgestellt werden. Zunächst ist die ganz andere Art von Theorie zu betrachten, die Benjamin Franklins Tugendlehre artikuliert.
Franklins Auffassung ist wie die des Aristoteles teleologisch; aber anders als bei Aristoteles ist sie utilitaristisch. Laut Franklin in seiner Autobiografie sind Tugenden Mittel zu einem Zweck, aber das Mittel-Zweck-Verhältnis stellt er sich als äußerlich und nicht als innerlich vor. Das Ziel, dem die Pflege der Tugenden dient, ist das Glück – aber Glück verstanden als Erfolg, als Wohlstand in Philadelphia und letztlich auch im Himmel. Die Tugenden sollen nützlich sein, und Franklins Darstellung betont durchgehend den Nutzen als Kriterium im Einzelfall: „Mache keine Ausgaben, es sei denn zum Wohl anderer oder deines eigenen; d. h. verschwende nichts“, „Sprich nur, wenn es anderen oder dir selbst nützt. Vermeide belangloses Gerede“, und wie bereits gesehen: „Gebrauche die Wollust nur selten, zur Gesundheit oder Fortpflanzung …“ Als Franklin in Paris war, war er entsetzt über die Pariser Architektur: „Marmor, Porzellan und Gold werden verschwendet – ohne Nutzen.“
Wir stehen somit mindestens drei sehr unterschiedlichen Tugendbegriffen gegenüber: Eine Tugend ist eine Eigenschaft, die es einem Menschen ermöglicht, seine soziale Rolle zu erfüllen (Homer); eine Tugend ist eine Eigenschaft, die es einem Menschen ermöglicht, sich auf das spezifisch menschliche telos hin zu bewegen – sei es natürlicher oder übernatürlicher Art (Aristoteles, das Neue Testament und Thomas von Aquin); eine Tugend ist eine Eigenschaft, die nützlich ist zur Erreichung irdischen wie himmlischen Erfolgs (Franklin). Sollen wir diese als drei konkurrierende Auffassungen ein und derselben Sache betrachten? Oder handelt es sich vielmehr um Darstellungen dreier völlig verschiedener Dinge? Vielleicht waren die moralischen Strukturen im archaischen Griechenland, im Griechenland des vierten Jahrhunderts v. Chr. und im Pennsylvania des 18. Jahrhunderts so unterschiedlich, dass wir sie als Ausdruck ganz verschiedener Begriffe ansehen sollten – deren Unterschiedlichkeit uns zunächst durch den historischen Zufall eines gemeinsamen Vokabulars verschleiert wird, das uns durch sprachliche Ähnlichkeit in die Irre führt, lange nachdem die begriffliche Identität und Ähnlichkeit erloschen ist. Unsere Ausgangsfrage kehrt nun mit doppelter Dringlichkeit zurück.
Und doch – obwohl ich ausführlich dargelegt habe, dass die Unterschiede und Unvereinbarkeiten zwischen den verschiedenen Auffassungen zumindest nahelegen, dass es keinen einheitlichen, zentralen Kernbegriff der Tugend gibt, der universelle Geltung beanspruchen könnte – sollte ich zugleich darauf hinweisen, dass jede der fünf moralischen Auffassungen, die ich so knapp skizziert habe, eben diesen Anspruch auf universelle Gültigkeit erhebt. Genau dies ist es, was diese Theorien über bloß soziologisches oder antiquarisches Interesse hinaushebt. Jede dieser Auffassungen beansprucht nicht nur theoretische, sondern auch institutionelle Hegemonie: Für Odysseus sind die Zyklopen zu verurteilen, weil ihnen Ackerbau, agora und themis fehlen. Für Aristoteles sind die Barbaren zu verurteilen, weil sie keine polis haben und daher unfähig zur Politik sind. Für Christen des Neuen Testaments gibt es kein Heil außerhalb der apostolischen Kirche. Und wir wissen, dass Benjamin Franklin die Tugenden in Philadelphia mehr zu Hause fand als in Paris, und dass für Jane Austen der Prüfstein der Tugend eine bestimmte Art von Ehe war – und in der Tat eine bestimmte Art von Marineoffizier (nämlich ein bestimmter Typ englischer Marineoffizier).
„Tugend betrifft Leidenschaften und Handlungen; und Übermaß wie Mangel sind Irrtümer im Bereich der Leidenschaften und Handlungen, während das rechte Maß gelobt wird und zum Erfolg führt. Und Lob und Erfolg sind beides Folgen der Tugend.“
– Aristoteles, Nikomachische Ethik 1106b 25
Die Frage kann daher nun direkt gestellt werden: Sind wir in der Lage oder nicht, aus diesen konkurrierenden und verschiedenen Auffassungen einen einheitlichen Kernbegriff der Tugenden herauszulösen, für den sich eine überzeugendere Darstellung geben lässt als für jede der bisherigen Auffassungen? Ich werde darlegen, dass wir in der Tat einen solchen Kernbegriff entdecken können – und dass er sich als das erweist, was der von mir dargestellten Tradition ihre begriffliche Einheit verleiht. Er wird es uns tatsächlich ermöglichen, jene Vorstellungen von den Tugenden klar von jenen zu unterscheiden, die tatsächlich zur Tradition gehören, und von denen, die es nicht tun. Es ist vielleicht wenig überraschend, dass es sich um ein komplexes Konzept handelt, dessen verschiedene Teile aus unterschiedlichen Phasen der Traditionsentwicklung stammen. Der Begriff selbst verkörpert in gewisser Weise die Geschichte, deren Ergebnis er ist.
Ein Merkmal des Tugendbegriffs, das sich aus der bisherigen Argumentation mit einiger Klarheit herausgeschält hat, ist, dass seine Anwendung stets die Akzeptanz einer vorausgehenden Darstellung bestimmter sozialer und moralischer Gegebenheiten erfordert, in deren Rahmen er definiert und erklärt werden muss. So ist im homerischen Modell der Tugendbegriff dem der sozialen Rolle untergeordnet, bei Aristoteles dem des guten Lebens für den Menschen, das als telos menschlichen Handelns verstanden wird, und in Franklins viel späterer Auffassung dem der Nützlichkeit (utility). Was ist es nun in der Auffassung, die ich gleich darlegen werde, das in vergleichbarer Weise den notwendigen Hintergrund liefert, vor dem der Tugendbegriff verständlich gemacht werden muss? Gerade in der Beantwortung dieser Frage wird der komplexe, geschichtliche und vielschichtige Charakter des zentralen Tugendbegriffs deutlich. Denn es gibt nicht weniger als drei Stufen in der logischen Entwicklung des Begriffs, die identifiziert werden müssen, wenn man den Kernbegriff der Tugend verstehen will. Jede dieser Stufen hat ihren eigenen begrifflichen Hintergrund. Die erste Stufe erfordert eine grundlegende Darstellung dessen, was ich eine Praxis nennen werde; die zweite eine Darstellung dessen, was ich bereits als die narrative Ordnung eines einzelnen menschlichen Lebens charakterisiert habe; und die dritte eine Darstellung – weit ausführlicher, als ich sie bisher gegeben habe – dessen, was eine moralische Tradition ausmacht. Jede spätere Stufe setzt die vorhergehende voraus, nicht jedoch umgekehrt. Jede frühere Stufe wird zwar durch die spätere modifiziert und neu interpretiert, bildet jedoch gleichzeitig eine wesentliche Voraussetzung für die jeweils spätere Stufe. Der Fortschritt in der Entwicklung des Begriffs steht in engem Zusammenhang mit – auch wenn er keineswegs einfach die Geschichte wiederholt – der Tradition, deren Kern er bildet.
Im homerischen Tugendbegriff – und im Kontext heroischer Gesellschaften allgemein – zeigt sich die Ausübung einer Tugend in Eigenschaften, die notwendig sind, um eine soziale Rolle auszufüllen und Exzellenz in einem klar umrissenen Bereich sozialen Handelns zu zeigen: Hervorragend zu sein heißt, sich im Krieg oder in Wettkämpfen hervorzutun – wie Achill –, einen Haushalt aufrechtzuerhalten – wie Penelope –, im Rat weise zu sprechen – wie Nestor – oder Geschichten zu erzählen – wie Homer selbst. Wenn Aristoteles von Exzellenz im menschlichen Handeln spricht, bezieht er sich manchmal, wenn auch nicht immer, auf einen klar bestimmten Typ menschlicher Praxis: Flötenspiel, Krieg oder Geometrie. Ich werde nun vorschlagen, dass gerade diese Vorstellung eines bestimmten Typs von Praxis als Schauplatz der Tugenden und als Grundlage ihrer primären, wenn auch unvollständigen Definition entscheidend für das ganze Vorhaben ist, einen Kernbegriff der Tugenden zu bestimmen. Ich möchte jedoch zwei Vorbehalte anfügen.
Erstens wird mein Argument in keiner Weise bedeuten, dass Tugenden nur im Rahmen dessen ausgeübt werden, was ich Praxen (practices) nenne. Zweitens möchte ich darauf hinweisen, dass ich das Wort „Praxis“ in einer speziell definierten Weise verwenden werde, die nicht vollständig mit dem gewöhnlichen Sprachgebrauch – auch nicht mit meinem eigenen bisherigen Gebrauch – übereinstimmt.
Unter einer Praxis verstehe ich jede kohärente und komplexe Form gesellschaftlich etablierter kooperativer menschlicher Tätigkeit, durch die Güter realisiert werden, die dieser Tätigkeitsform immanent sind, und zwar im Rahmen des Strebens nach jenen Exzellenzstandards, die dieser Form angemessen sind und sie teilweise definieren – mit dem Ergebnis, dass menschliche Fähigkeiten zur Exzellenz systematisch erweitert werden, ebenso wie menschliche Vorstellungen von Zielen und Gütern. „Drei gewinnt“ ist in diesem Sinne kein Beispiel für eine Praxis, auch das geschickte Werfen eines Footballs nicht; das Spiel Football hingegen ist eine Praxis, ebenso wie Schach. Ziegelmauern hochziehen ist keine Praxis; Architektur ist es. Steckrüben pflanzen ist keine Praxis; Landwirtschaft schon. Auch die Forschungen in Physik, Chemie und Biologie gehören dazu, ebenso wie die Arbeit des Historikers, ebenso Malerei und Musik. In der Antike und im Mittelalter galt auch die Gründung und Erhaltung menschlicher Gemeinschaften – von Haushalten, Städten, Nationen – allgemein als Praxis in dem Sinne, wie ich ihn definiert habe. Die Spannweite der Praktiken ist also weit: Künste, Wissenschaften, Spiele, Politik im aristotelischen Sinne, die Gestaltung und Pflege des Familienlebens – all das fällt unter diesen Begriff. Doch ist die genaue Reichweite der Praktiken an dieser Stelle noch nicht entscheidend. Stattdessen möchte ich zunächst einige der zentralen Begriffe meiner Definition erläutern – beginnend mit dem Begriff der immanenten Güter einer Praxis.
Nehmen wir das Beispiel eines hochintelligenten siebenjährigen Kindes, das ich lehren möchte, Schach zu spielen, obwohl es von sich aus kein besonderes Interesse an diesem Spiel hat. Das Kind hat jedoch ein starkes Verlangen nach Süßigkeiten – und wenig Gelegenheit, an welche zu gelangen. Ich sage dem Kind also, dass es von mir jedes Mal Süßigkeiten im Wert von 500 (Währungseinheit) bekommt, wenn es einmal pro Woche mit mir Schach spielt. Außerdem verspreche ich, so zu spielen, dass es für das Kind schwierig, aber nicht unmöglich ist, zu gewinnen – und dass es bei einem Sieg eine zusätzliche Belohnung desselben Wertes erhält. Auf diese Weise motiviert, spielt das Kind – und spielt, um zu gewinnen. Beachte jedoch: Solange die Süßigkeit allein der einzige Grund für das Kind ist, Schach zu spielen, hat es keinen Grund, nicht zu schummeln – und alle Gründe zu schummeln, sofern es damit erfolgreich sein kann. Doch – so hoffen wir – wird der Moment kommen, in dem das Kind in jenen Gütern, die spezifisch zum Schach gehören, also im Erwerb einer ganz bestimmten Art analytischer Fähigkeit, strategischer Vorstellungskraft und wettbewerbsorientierter Konzentration, eine neue Art von Gründen entdeckt – Gründe nun nicht mehr bloß dafür, bei einer konkreten Partie zu gewinnen, sondern dafür, im Sinne dessen, was das Spiel selbst verlangt, nach Exzellenz zu streben. Wenn das Kind nun schummelt, besiegt es nicht mehr mich, sondern sich selbst.
Es gibt also zwei Arten von Gütern, die man durch das Schachspiel möglicherweise gewinnen kann. Auf der einen Seite stehen jene Güter, die dem Schachspiel und anderen Praktiken äußerlich und zufällig durch soziale Umstände zugeordnet sind – im Fall des gedachten Kindes Süßigkeiten, im Fall realer Erwachsener Güter wie Prestige, Status und Geld. Für solche externen Güter gibt es immer alternative Wege, sie zu erreichen, und ihr Erwerb ist nie ausschließlich durch das Ausüben einer bestimmten Praxis möglich. Auf der anderen Seite stehen die immanenten Güter der Schachpraxis – also jene, die nur durch das Spielen von Schach oder eines Spiels dieser spezifischen Art zu erlangen sind. Wir nennen sie „immanent“ aus zwei Gründen: Erstens, weil wir sie – wie bereits angedeutet – nur in Begriffen des Schachs oder ähnlicher Spiele beschreiben können und durch Beispiele aus solchen Spielen erläutern müssen (ansonsten zwingt uns die Begrenztheit unseres Vokabulars für derartige Güter zu Umschreibungen wie „eine ganz bestimmte Art von …“); und zweitens, weil sie nur durch das eigene Erleben und Teilnehmen an der betreffenden Praxis erkannt und verstanden werden können. Wer nicht über diese relevante Erfahrung verfügt, ist daher unfähig, über immanente Güter kompetent zu urteilen.
„Wo Eifersucht und ehrgeiziger Streit herrschen, da gibt es Unordnung und jede Art von bösem Tun. Die Weisheit von oben aber ist zuerst rein, dann friedfertig, gütig, bereit, sich belehren zu lassen, voller Barmherzigkeit und guter Früchte, unparteiisch und ohne Heuchelei. Die Frucht der Gerechtigkeit wird in Frieden gesät für die, die Frieden stiften.“
Neues Testament, Jakobusbrief 3,16–18
Dies trifft ganz offensichtlich auf alle wichtigen Beispiele von Praktiken zu. Nehmen wir etwa – wenn auch nur kurz und unvollständig – die Porträtmalerei, wie sie sich in Westeuropa von der Spätgotik bis ins 18. Jahrhundert entwickelte. Ein erfolgreicher Porträtmaler kann viele Güter erlangen, die im soeben definierten Sinn extern zur Praxis der Porträtmalerei gehören: Ruhm, Reichtum, sozialen Status, gelegentlich sogar Macht und Einfluss an Fürstenhöfen. Doch diese äußeren Güter dürfen nicht mit den immanenten Gütern der Praxis verwechselt werden.
Die immanenten Güter bestehen darin, dass man durch fortwährendes Bemühen versucht zu zeigen, wie Wittgensteins Diktum „Der menschliche Körper ist das beste Bild der menschlichen Seele“ (Investigations, S. 178e) auf eine Weise wahr werden könnte, indem man uns lehrt, „das Bild an unserer Wand als das eigentliche Objekt zu betrachten (den Menschen, die Landschaft usw.), das dort dargestellt ist“ (S. 205e) – und zwar auf eine völlig neue Art. Irreführend an Wittgensteins Aussage ist, dass sie jene Wahrheit vernachlässigt, die George Orwells These enthält: „Mit 50 hat jeder das Gesicht, das er verdient.“ Was Maler von Giotto bis Rembrandt darzustellen lernten, war, wie das Gesicht eines Menschen in jedem Alter als das verdiente Gesicht enthüllt werden kann.
In den mittelalterlichen Heiligenbildern war das Gesicht ursprünglich ein Ikone: Die Frage, ob das dargestellte Gesicht Christi oder des heiligen Petrus irgendeine Ähnlichkeit mit ihrem tatsächlichen Antlitz hatte, stellte sich gar nicht. Den Gegenpol zu dieser Ikonographie bildete der relative Naturalismus mancher flämischen und deutschen Malerei des 15. Jahrhunderts. Die schweren Augenlider, das hochgesteckte Haar, die Falten um den Mund zeigen unzweifelhaft eine bestimmte Frau – ob nun real oder imaginiert. Die Ähnlichkeit hat die ikonische Beziehung verdrängt. Doch mit Rembrandt kommt es gewissermaßen zur Synthese: Das naturalistische Porträt wird nun als Ikone dargestellt – aber als eine Ikone ganz neuer, bis dahin undenkbarer Art. Ähnlich geschieht in einer ganz anderen Entwicklungslinie ein Wandel: Mythologische Gesichter in einer bestimmten Art französischer Malerei des 17. Jahrhunderts werden zu aristokratischen Gesichtern im 18. Jahrhundert. Innerhalb jeder dieser Entwicklungslinien werden mindestens zwei verschiedene Arten von immanenten Gütern der menschlichen Porträtmalerei erreicht.
Zunächst einmal ist da die Exzellenz der Ergebnisse: sowohl die Exzellenz in der Ausführung durch den Maler als auch die Exzellenz eines jeden einzelnen Porträts. Diese Exzellenz – das Verb „sich auszeichnen“ deutet es an – muss historisch verstanden werden. Die Entwicklungsreihen ergeben ihren Sinn und Zweck im Fortschritt hin zu und über verschiedene Typen und Formen von Exzellenz hinaus. Natürlich gibt es auch Phasen des Niedergangs ebenso wie des Fortschritts, und Fortschritt verläuft nur selten geradlinig. Doch gerade in der aktiven Teilnahme am Bemühen, Fortschritt aufrechtzuerhalten, und im kreativen Umgang mit solchen Momenten liegt die zweite Art des immanenten Guts der Porträtmalerei. Denn was der Künstler im Streben nach Exzellenz in der Porträtmalerei entdeckt – und was für die Porträtmalerei gilt, gilt allgemein für die bildenden Künste – ist das Gut einer bestimmten Lebensform. Dieses Leben mag keineswegs das ganze Leben eines Malers ausfüllen – oder es mag ihn, wie bei Gauguin, für eine gewisse Zeit völlig beanspruchen, auf Kosten fast aller anderen Lebensbereiche. Doch in dem Maße, in dem der Maler einen größeren oder kleineren Teil seines Lebens als Maler lebt, besteht darin das zweite immanente Gut der Malerei. Und ein Urteil über diese Güter erfordert zumindest eine Art von Kompetenz, die man entweder durch das Malen selbst oder durch systematisches Lernen von dem, was der Maler zu lehren hat, erwerben muss.
Eine Praxis beinhaltet nicht nur das Streben nach Gütern, sondern auch Standards der Exzellenz und Gehorsam gegenüber Regeln. In eine Praxis einzutreten bedeutet, die Autorität dieser Standards anzuerkennen und die Unzulänglichkeit der eigenen Leistung im Lichte dieser Standards zu akzeptieren. Es bedeutet, die eigenen Einstellungen, Entscheidungen, Vorlieben und Geschmäcker den Maßstäben zu unterwerfen, die die Praxis momentan und teilweise definieren. Praktiken, wie gerade angedeutet, haben natürlich eine Geschichte; Spiele, Wissenschaften und Künste entwickeln sich geschichtlich. Daher sind die Standards selbst nicht vor Kritik gefeit. Doch trotzdem kann man nicht in eine Praxis eingeführt werden, ohne die Autorität der bisher erreichten besten Standards anzuerkennen. Wenn ich beim Hören von Musik nicht akzeptiere, dass ich zunächst unfähig bin, richtig zu urteilen, werde ich niemals lernen, Bartóks letzte Streichquartette zu hören, geschweige denn zu würdigen. Wenn ich beim Baseballspiel nicht anerkenne, dass andere besser wissen als ich, wann man einen „Fastball“ wirft und wann nicht, werde ich niemals gutes Pitching zu schätzen lernen – geschweige denn selbst gut pitchen. Im Bereich der Praktiken wirkt die Autorität sowohl der Güter als auch der Standards in einer Weise, die alle subjektivistischen und emotivistischen Urteilstheorien ausschließt. De gustibus est disputandum.
Wir sind nun in der Lage, einen wichtigen Unterschied zwischen dem, was ich immanente und dem, was ich externe Güter genannt habe, zu erkennen. Für externe Güter ist es charakteristisch, dass sie, wenn sie erreicht werden, immer Eigentum und Besitz eines Individuums sind. Außerdem ist es typisch für sie, dass – je mehr jemand davon hat – desto weniger für andere übrig bleibt. Dies ist manchmal notwendig so, etwa bei Macht und Ruhm, und manchmal durch äußere Umstände bedingt, wie etwa beim Geld. Externe Güter sind daher charakteristischerweise Objekte von Konkurrenz, in der es notwendig Verlierer wie Gewinner geben muss. Immanente Güter hingegen sind zwar ebenfalls das Ergebnis eines Wettstreits um Exzellenz, aber es ist für sie charakteristisch, dass ihre Verwirklichung ein Gut für die ganze Gemeinschaft ist, die an der Praxis teilnimmt. Als Turner die Darstellung der Meereslandschaft in der Malerei transformierte oder W. G. Grace die Kunst des Schlagens im Cricket auf völlig neue Weise voranbrachte, bereicherten ihre Leistungen die gesamte jeweilige Gemeinschaft.
„…es war meine Absicht, diese Lehre zu erklären und zu bekräftigen: Dass lasterhafte Handlungen nicht deshalb schädlich sind, weil sie verboten sind, sondern verboten, weil sie – betrachtet allein im Lichte der menschlichen Natur – schädlich sind; dass es also im Interesse eines jeden liegt, tugendhaft zu sein, der auch in dieser Welt glücklich sein möchte … Keine Eigenschaften verhelfen einem armen Mann so sehr zu seinem Glück wie Rechtschaffenheit und Integrität.“
— Benjamin Franklin, Autobiografie
Doch was hat all das mit dem Begriff der Tugenden zu tun? Es zeigt sich, dass wir nun in der Lage sind, eine erste – wenn auch noch vorläufige und unvollständige – Definition einer Tugend zu formulieren: Eine Tugend ist eine erworbene menschliche Eigenschaft, deren Besitz und Ausübung uns in die Lage versetzt, die immanenten Güter von Praktiken zu erlangen – und deren Fehlen uns effektiv daran hindert, solche Güter zu erreichen. Später wird diese Definition ergänzt und verfeinert werden müssen. Doch schon als erste Annäherung an eine angemessene Definition wirft sie ein erhellendes Licht auf die Stellung der Tugenden im menschlichen Leben. Denn es ist nicht schwer, für eine ganze Reihe zentraler Tugenden zu zeigen, dass uns ohne sie die immanenten Güter von Praktiken auf eine sehr bestimmte Weise verschlossen bleiben.
Zum Begriff einer Praxis, wie ich ihn umrissen habe – und wie wir ihn alle bereits aus unserem tatsächlichen Leben kennen, ob wir nun Maler oder Physiker oder Quarterbacks sind oder einfach nur Liebhaber guter Malerei, erstklassiger Experimente oder eines wohlgeworfenen Passes – gehört, dass ihre Güter nur dann erreicht werden können, wenn wir uns den bisher besten errungenen Standards unterordnen. Das bedeutet zugleich, dass wir uns innerhalb der Praxis auch in unserem Verhältnis zu anderen Praktizierenden unterordnen müssen. Wir müssen lernen zu erkennen, wem was zusteht; wir müssen bereit sein, die Risiken auf uns zu nehmen, die auf dem Weg erforderlich sind, selbst wenn sie uns selbst gefährden; und wir müssen sorgfältig zuhören, wenn man uns unsere Unzulänglichkeiten aufzeigt, und mit derselben Sorgfalt hinsichtlich der Tatsachen antworten.
Mit anderen Worten: Wir müssen die Tugenden der Gerechtigkeit, des Mutes und der Ehrlichkeit als notwendige Bestandteile jeder Praxis mit immanenten Gütern und Standards der Exzellenz akzeptieren. Wer das nicht tut – wer also, wie unser eingangs beschriebenes Kind beim Schach, bereit ist zu betrügen –, dem bleibt die Erreichung jener Standards oder immanenter Güter so sehr verwehrt, dass die gesamte Praxis für ihn sinnlos wird – außer als Mittel zur Erreichung externer Güter.
Wir können denselben Punkt auch anders formulieren: Jede Praxis verlangt eine bestimmte Art von Beziehung zwischen denen, die an ihr teilnehmen. Und die Tugenden sind eben jene Güter, anhand derer wir – ob wir wollen oder nicht – unsere Beziehungen zu den Menschen definieren, mit denen wir die Art von Zielen und Standards teilen, die eine Praxis ausmachen. Betrachten wir nun ein Beispiel, das zeigt, wie sich auf Tugenden in bestimmten Arten menschlicher Beziehungen notwendigerweise bezogen werden muss.
A, B, C und D sind Freunde in jenem Sinne von Freundschaft, den Aristoteles als primär ansieht: Sie teilen das Streben nach bestimmten Gütern. In meinen Begriffen: Sie teilen eine Praxis. D stirbt unter undurchsichtigen Umständen, A findet heraus, wie D gestorben ist, und erzählt B die Wahrheit darüber, während er C anlügt. C entdeckt die Lüge. Was A nun nicht sinnvoll behaupten kann, ist, dass er zu beiden, B und C, dasselbe freundschaftliche Verhältnis hat. Indem er dem einen die Wahrheit sagt und den anderen belügt, hat er einen Unterschied in der Beziehung definiert. Natürlich steht es A frei, diesen Unterschied auf verschiedene Weise zu erklären – vielleicht wollte er C vor Schmerz bewahren oder vielleicht betrügt er C einfach. Aber in jedem Fall existiert nun ein Unterschied in der Beziehung infolge der Lüge. Denn die gemeinsame Loyalität im Streben nach gemeinsamen Gütern ist infrage gestellt.
Ebenso wie wir, solange wir die Standards und Zwecke einer Praxis teilen, unsere Beziehungen zueinander – ob wir es zugeben oder nicht – anhand von Maßstäben der Wahrhaftigkeit und des Vertrauens definieren, so definieren wir sie auch durch Maßstäbe von Gerechtigkeit und Mut. Wenn A, ein Professor, B und G die Noten gibt, die ihre Arbeiten verdienen, D aber anders bewertet, weil ihn D’s blaue Augen anziehen oder D’s Schuppen abstoßen, dann hat er sein Verhältnis zu D anders gestaltet als zu den anderen Mitgliedern der Klasse – ob er es will oder nicht. Gerechtigkeit verlangt, dass wir andere hinsichtlich ihrer Verdienste oder Leistungen nach einheitlichen und unpersönlichen Maßstäben behandeln; davon in einem konkreten Fall abzuweichen, heißt, unsere Beziehung zur betreffenden Person als besonders oder abweichend zu definieren.
Beim Mut liegt der Fall ein wenig anders. Wir betrachten Mut als Tugend, weil die Fürsorge und Sorge für Individuen, Gemeinschaften und Anliegen – die für viele Praktiken entscheidend sind – die Existenz einer solchen Tugend erfordern. Wenn jemand sagt, er kümmere sich um ein Individuum, eine Gemeinschaft oder ein Anliegen, aber nicht bereit ist, im Namen dessen Schaden oder Gefahr auf sich zu nehmen, dann stellt er die Echtheit seiner Fürsorge infrage. Mut, also die Fähigkeit, Schaden oder Gefahr für sich selbst in Kauf zu nehmen, hat seinen Platz im menschlichen Leben gerade wegen dieser Verbindung mit Fürsorge und Sorge. Das bedeutet nicht, dass ein Mensch nicht wirklich sorgen kann und gleichzeitig ein Feigling ist. Es bedeutet unter anderem, dass jemand, der wirklich sorgt, aber nicht den Mut aufbringt, sich einer Gefahr zu stellen, sich selbst – und anderen – als Feigling definieren muss.
Ich nehme also an, dass aus der Perspektive jener Beziehungsarten, ohne die Praktiken nicht bestehen können, Wahrhaftigkeit, Gerechtigkeit und Mut – und vielleicht auch einige andere – echte Vollkommenheiten, Tugenden sind, im Licht derer wir uns selbst und andere charakterisieren müssen – unabhängig von unserem persönlichen moralischen Standpunkt oder den besonderen Normen unserer Gesellschaft. Denn diese Erkenntnis, dass wir der Definition unserer Beziehungen durch solche Güter nicht entkommen können, ist völlig vereinbar mit der Einsicht, dass verschiedene Gesellschaften unterschiedliche Vorstellungen von Wahrhaftigkeit, Gerechtigkeit und Mut hatten und haben. Lutherische Pietisten erzogen ihre Kinder dazu, zu glauben, man solle unter allen Umständen stets die Wahrheit sagen – und Kant war eines dieser Kinder. Traditionelle Bantu-Eltern brachten ihren Kindern bei, Fremden nicht die Wahrheit zu sagen, da sie glaubten, dies mache die Familie für Hexerei anfällig. In unserer Kultur sind viele von uns so erzogen worden, älteren Großtanten nicht die Wahrheit zu sagen, wenn sie uns bitten, ihre neuen Hüte zu bewundern. Doch jede dieser Normen enthält ein Eingeständnis der Tugend der Wahrhaftigkeit. Und ebenso ist es mit den verschiedenen Normen der Gerechtigkeit und des Muts.
„Dass ihn in gerechtem Maß Schande trifft, ist, wie wir wissen, kein Hindernis, das die Gesellschaft der Tugend in den Weg stellt; aber wir dürfen mit Recht annehmen, dass ein verständiger Mann wie Henry Crawford sich selbst mit beträchtlichem Kummer und Bedauern bestrafen muss – dafür, dass er so auf Gastfreundschaft reagiert, den Familienfrieden so verletzt und die Frau verloren hat, die er sowohl mit Vernunft als auch mit Leidenschaft geliebt hat.“
— Jane Austen, Mansfield Park, Kapitel 48
Praktiken können also sehr wohl in Gesellschaften mit ganz unterschiedlichen Normensystemen gedeihen; was sie jedoch nicht können, ist in Gesellschaften zu gedeihen, in denen die Tugenden nicht geschätzt werden – auch wenn Institutionen und technische Fähigkeiten, die einem einheitlichen Zweck dienen, sehr wohl weiterhin florieren mögen. (Ich werde gleich noch mehr über den Gegensatz zwischen Institutionen und technischen Fähigkeiten, die einem einheitlichen Ziel dienen, auf der einen Seite, und Praktiken auf der anderen Seite sagen.) Denn die Art der Kooperation, die Anerkennung von Autorität und Leistung, der Respekt vor Standards und die Bereitschaft zum Risiko, die Praktiken kennzeichnen, verlangen zum Beispiel Fairness im Urteil über sich selbst und andere – jene Fairness, die in meinem Beispiel mit dem Professor fehlt; eine schonungslose Wahrhaftigkeit, ohne die Fairness gar nicht zur Anwendung kommen kann – jene Wahrhaftigkeit, die im Beispiel mit A, B, C und D fehlt; und die Bereitschaft, den Urteilen derjenigen zu vertrauen, deren Leistungen innerhalb der Praxis ihnen Autorität verleihen – Urteile, die wiederum Fairness und Wahrhaftigkeit voraussetzen – sowie, von Zeit zu Zeit, Risiken, die das eigene Wohlergehen, den eigenen Ruf oder sogar den eigenen Erfolg gefährden können. Es gehört nicht zu meiner These, dass große Geiger keine schlechten Menschen oder brillante Schachspieler nicht bösartig sein können. Wo Tugenden gefordert sind, können auch Laster gedeihen. Aber: Die Böswilligen und Gemeinen sind notwendigerweise auf die Tugenden anderer angewiesen, damit die Praktiken, an denen sie teilnehmen, überhaupt gedeihen können – und sie verweigern sich selbst zugleich der Erfahrung, jene internen Güter zu erreichen, die selbst mittelmäßige Schachspieler und Geiger erfüllen können.
Um die Tugenden weiter im Rahmen der Praktiken zu verorten, ist es nun nötig, das Wesen einer Praxis etwas weiter zu klären – und zwar durch zwei wichtige Gegenüberstellungen. Die bisherige Diskussion – so hoffe ich – hat deutlich gemacht, dass eine Praxis im hier gemeinten Sinn niemals bloß eine Ansammlung technischer Fertigkeiten ist, selbst wenn diese einem einheitlichen Zweck dienen und selbst dann, wenn ihre Ausübung gelegentlich um ihrer selbst willen geschätzt oder genossen werden kann. Was eine Praxis auszeichnet, ist unter anderem die Art und Weise, wie sich die Vorstellungen von den relevanten Gütern und Zielen – auf die sich die technischen Fähigkeiten richten (denn jede Praxis erfordert deren Einsatz) – verwandeln und bereichern durch diese Erweiterung menschlicher Fähigkeiten und durch die Achtung vor ihren internen Gütern, die jedes besondere Praxisfeld zumindest teilweise definieren. Praktiken haben niemals ein für alle Zeiten festgelegtes Ziel – die Malerei hat kein solches Ziel, ebenso wenig wie die Physik –, sondern die Ziele selbst wandeln sich im Lauf der Geschichte der Tätigkeit. Es ist kein Zufall, dass jede Praxis ihre eigene Geschichte hat – und zwar eine Geschichte, die mehr ist als bloß die Verbesserung technischer Fähigkeiten. Diese historische Dimension ist entscheidend im Hinblick auf die Tugenden.
In eine Praxis einzutreten bedeutet, in eine Beziehung nicht nur zu den heutigen Praktizierenden zu treten, sondern auch zu jenen, die vor uns da waren – insbesondere zu jenen, deren Leistungen das Feld der Praxis bis zu seinem heutigen Stand erweitert haben. Man steht also der Leistung – und damit auch der Autorität – einer Tradition gegenüber, von der man lernen muss. Und für dieses Lernen und die Beziehung zur Vergangenheit, die darin besteht, sind die Tugenden von Gerechtigkeit, Mut und Wahrhaftigkeit ebenso unerlässlich – und aus denselben Gründen – wie für die Aufrechterhaltung gegenwärtiger Beziehungen innerhalb von Praktiken.
Natürlich darf man Praktiken nicht nur mit technischen Fertigkeiten verwechseln. Praktiken sind auch nicht dasselbe wie Institutionen. Schach, Physik und Medizin sind Praktiken; Schachvereine, Labore, Universitäten und Krankenhäuser sind Institutionen. Institutionen befassen sich charakteristischerweise und notwendigerweise mit dem, was ich externe Güter genannt habe. Sie streben nach Geld und anderen materiellen Gütern; sie sind strukturiert durch Macht und Status und verteilen Geld, Macht und Status als Belohnungen. Und sie müssen das auch tun, wenn sie sich selbst – und damit auch die Praktiken, deren Träger sie sind – aufrechterhalten wollen. Denn keine Praxis kann lange Zeit ohne institutionelle Unterstützung bestehen. Tatsächlich ist die Beziehung zwischen Praktiken und Institutionen so eng – und damit auch zwischen den externen Gütern und den internen Gütern der betreffenden Praxis –, dass Institutionen und Praktiken charakteristischerweise eine gemeinsame Kausalordnung bilden. In dieser Ordnung sind die Ideale und die Kreativität der Praxis stets gefährdet durch die Besitzgier der Institution; die kooperative Fürsorge um gemeinsame Güter in der Praxis ist immer verwundbar gegenüber der Konkurrenzlogik der Institution. In diesem Zusammenhang wird die zentrale Funktion der Tugenden klar: Ohne sie – ohne Gerechtigkeit, Mut und Wahrhaftigkeit – könnten Praktiken der korrumpierenden Macht der Institutionen nicht standhalten.
Doch selbst wenn Institutionen eine korrumpierende Macht besitzen, so hat doch das Schaffen und Erhalten von Formen menschlicher Gemeinschaft – und damit von Institutionen – selbst alle Merkmale einer Praxis. Und zwar einer Praxis, die in zweierlei Hinsicht in einer besonders engen Beziehung zur Ausübung der Tugenden steht. Erstens: Die Ausübung der Tugenden verlangt oft eine sehr bestimmte Haltung zu sozialen und politischen Fragen. Zweitens: Es ist stets innerhalb einer bestimmten Gemeinschaft mit ihren je spezifischen institutionellen Formen, dass wir lernen – oder nicht lernen –, Tugenden auszuüben. Natürlich besteht ein entscheidender Unterschied zwischen der Art und Weise, wie das Verhältnis von moralischem Charakter und politischer Gemeinschaft aus Sicht des liberalen Individualismus der Moderne gesehen wird, und der Art, wie dieses Verhältnis aus Sicht jener antiken und mittelalterlichen Tradition der Tugenden gedacht wurde, die ich skizziert habe. Für den liberalen Individualismus ist die Gemeinschaft lediglich eine Arena, in der Individuen jeweils ihre selbstgewählte Vorstellung des guten Lebens verfolgen. Politische Institutionen existieren, um jenes Maß an Ordnung bereitzustellen, das eine solche selbstbestimmte Tätigkeit ermöglicht. Regierung und Gesetz sind – oder sollten – neutral sein gegenüber konkurrierenden Auffassungen vom guten Leben des Menschen. Daher ist es aus liberaler Sicht nicht Aufgabe des Staates, eine bestimmte moralische Haltung zu vermitteln; seine Aufgabe ist vielmehr die Förderung von Gesetzestreue.
Demgegenüber gilt in der antiken und mittelalterlichen Perspektive, wie ich sie skizziert habe: Die politische Gemeinschaft benötigt nicht nur die Ausübung der Tugenden zu ihrer eigenen Erhaltung, sondern es gehört auch zu den Aufgaben der Regierung, die Bürger tugendhaft zu machen – so wie es zu den Aufgaben elterlicher Autorität gehört, Kinder zu tugendhaften Erwachsenen zu erziehen. Die klassische Formulierung dieser Analogie findet sich bei Sokrates in Crito. Daraus folgt freilich nicht, dass wir dem modernen Staat jene moralische Funktion zuschreiben sollten, die Sokrates der Stadt und ihren Gesetzen zuweist. Im Gegenteil: Die Stärke des liberal-individualistischen Standpunkts ergibt sich zum Teil gerade aus der offenkundigen Tatsache, dass der moderne Staat tatsächlich völlig ungeeignet ist, als moralischer Erzieher einer Gemeinschaft zu fungieren. Aber die Geschichte des Entstehens des modernen Staates ist selbst eine moralische Geschichte. Wenn meine Darstellung der komplexen Beziehung zwischen Tugenden, Praktiken und Institutionen korrekt ist, folgt daraus, dass man eine wahre Geschichte von Praktiken und Institutionen nicht schreiben kann, ohne dass sie zugleich eine Geschichte von Tugenden und Lastern ist. Denn die Fähigkeit einer Praxis, ihre Integrität zu bewahren, hängt davon ab, wie und ob die Tugenden ausgeübt werden im Erhalt jener institutionellen Formen, die die sozialen Träger der Praxis sind. Die Integrität einer Praxis erfordert kausal die Ausübung der Tugenden durch wenigstens einige der Individuen, die sie durch ihr Handeln verkörpern; umgekehrt ist die Korruption von Institutionen immer zumindest teilweise eine Wirkung der Laster.
Die Tugenden wiederum werden natürlich auch ihrerseits von bestimmten Arten sozialer Institutionen gefördert – und von anderen gefährdet. Thomas Jefferson etwa glaubte, dass Tugenden nur in einer Gesellschaft kleiner Landwirte gedeihen könnten; und Adam Ferguson erkannte mit weit größerer Raffinesse, dass die Institutionen der modernen kommerziellen Gesellschaft zumindest einige traditionelle Tugenden gefährden. Fergusons Art der Soziologie ist das empirische Gegenstück zu der begriffsanalytischen Darstellung der Tugenden, die ich gegeben habe – eine Soziologie, die es sich zur Aufgabe macht, die empirischen, kausalen Zusammenhänge zwischen Tugenden, Praktiken und Institutionen offenzulegen. Denn diese Art der begrifflichen Analyse hat starke empirische Implikationen: Sie stellt ein erklärendes Deutungsmuster bereit, das in konkreten Fällen überprüfbar ist. Zudem enthält meine These auch auf andere Weise empirischen Gehalt: Sie bedeutet, dass ohne die Tugenden nur die sogenannten äußeren Güter anerkannt werden könnten – nicht jedoch die internen Güter im Kontext von Praktiken. Und in einer Gesellschaft, die nur äußere Güter anerkennt, würde Wettbewerb zur dominanten, ja womöglich einzigen prägenden Kraft. Ein brillantes Porträt einer solchen Gesellschaft findet sich in Hobbes’ Darstellung des Naturzustands; und Professor Turnbulls Bericht über das Schicksal der Ik legt auf erschütternde Weise nahe, dass die soziale Wirklichkeit sowohl meine These als auch Hobbes’ Beschreibung in erschreckender Weise bestätigt.
Die Tugenden stehen also in einem unterschiedlichen Verhältnis zu externen und internen Gütern. Der Besitz der Tugenden – nicht bloß ihr Schein oder Abklatsch – ist notwendig, um interne Güter zu erreichen; doch der Besitz der Tugenden kann uns sehr wohl hindern, äußere Güter zu erlangen. An dieser Stelle muss ich betonen, dass externe Güter wirklich Güter sind. Sie sind nicht nur typische Gegenstände menschlichen Begehrens – ihre Verteilung verleiht den Tugenden der Gerechtigkeit und der Billigkeit ihren Sinn –, sondern niemand kann sie ganz verachten, ohne in gewisse Heuchelei zu verfallen. Doch bekanntermaßen wird die Pflege von Wahrhaftigkeit, Gerechtigkeit und Mut uns, in einer Welt wie der unseren, häufig daran hindern, reich, berühmt oder mächtig zu werden. Wir dürfen hoffen, dass wir mit Hilfe der Tugenden nicht nur die Maßstäbe exzellenter Praxis und deren interne Güter erreichen, sondern zugleich reich, berühmt und mächtig werden. Doch die Tugenden sind immer ein potenzielles Hindernis für diesen bequemen Ehrgeiz. Wir müssen deshalb erwarten, dass, wenn in einer Gesellschaft die Jagd nach äußeren Gütern zur dominanten Kraft wird, das Konzept der Tugend zuerst ausgehöhlt und vielleicht sogar nahezu ausgelöscht wird – auch wenn ihre Schattenbilder allgegenwärtig bleiben.
Auszug aus Kapitel 14 von After Virtue: A Study in Moral Theory.
Quelle: The Hastings Center Report, Jahrgang 11, Heft 2 (April 1981), S. 27–34.