Von Eberhard Jüngel
Eine ordentliche Theologie macht keine Kompromisse. Das unterscheidet sie von der Kirchenleitung. Und insofern bleibt die Theologie die kritische Funktion der Kirchenleitung. Karl Barth hat als Theologe von Beruf diese kritische Funktion der Kirchenleitung in vielfacher Hinsicht wahrgenommen. Seine Kirchliche Dogmatik ist durchaus als ein Buch der Kirchenleitung zu lesen und also als ein eminent kritisches Buch zu würdigen. Denn darin wird die Wirklichkeit der existierenden Kirche am Kriterium evangelischer Wahrheit, nämlich an Jesus Christus in Person gemessen. Dogmatik wird deshalb zu einer angriffslustigen Wissenschaft – nicht auf Grund eines kritiksüchtigen, pseudoakademischen oder gar philiströsen reaktionären Hanges zur Nörgelei am Bestehenden. Die Kirchliche Dogmatik greift die Kirche (und nicht nur sie!) mit dem Evangelium an. Sie greift also hilfreich an. Weil Barths Theologie ein wohl überlegter Angriff mit dem Evangelium ist, deshalb ist sie nicht nur eine kompromißlose Theologie, sondern ebenso kompromißlos Theologie.
Man wird also nicht erwarten dürfen, daß unter der Überschrift „Der königliche Mensch“ ein Kompromißversuch angeboten wird zwischen einer primär oder gar ausschließlich an der Göttlichkeit Gottes interessierten Theologie und einer primär oder gar ausschließlich an der Menschlichkeit des Menschen interessierten Anthropologie. Mit Kompromissen wird man die heute weithin so hoffnungslos verfahrene und ja doch auch (schon logisch so) verworrene theologische Diskussion zwar ständig wiederholen, aber keineswegs auf neue Wege bringen können. Mit Barths Lehre vom königlichen Menschen ist jedoch bereits ein neuer Denkweg evangelischer Theologie eingeschlagen (übrigens im lehrreichen Gespräch mit der Tradition), der ebenso kompromißlos wie frei von vorschnellen Alternativen Gottes Göttlichkeit und des Menschen Menschlichkeit aus dem Ereignis der Offenbarung Gottes so zusammen denkt, daß jedem das Seine gewährt wird. Entschlossene Kompromißlosigkeit ist in der Theologie eben durchaus nicht identisch mit einer gewaltsamen Forcierung abstrakter Alternativen.
Das Systematische Seminar am Sprachenkonflikt der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg hat deshalb im Wintersemester 1965/66 der Christologie Karl Barths nachgedacht. Wir hoffen uns im Einverständnis mit diesem so hilfreich kompromißlosen Theologen, der sein Leben lang Kirche und Theologie „zur Sache“ gerufen hat, wenn wir es für eine ihm angemessene Ehrung halten, anläßlich seines 80. Geburtstages nun einfach einen Einblick in die Arbeit des Seminars zu geben. Es kann nur ein Einblick sein. Und der soll an diesem Ort auch nicht mehr sein, als ein Einblick in einen Teil der Kirchlichen Dogmatik Barths, eben in seine dem Menschen das Seine gebende Lehre vom königlichen Menschen. Wir referieren das zu ihrem Verständnis notwendige Minimum.
Wer ist der königliche Mensch?
Dem Menschen das Seine? Bei sich selbst findet nach Barth kein Mensch das Seine, obwohl er es bei sich selber sucht. Das gilt auch für. das Denken. Was Gott dem Menschen zugedacht hat, das findet das Denken nicht, indem es sich erdenkt, was der Mensch und was das Seine ist. Was Gott dem Menschen zugedacht hat, das findet das Denken nur, indem es dem einen Menschen nachdenkt, dem Gott sich selber in einzigartiger Weise zugedacht und zu gewandt und den er in dieser Zuwendung in sein eigenes göttliches Sein aufgenommen hat: Jesus Christus. Er ist der königliche Mensch. Doch sein Königtum schließt uns nicht aus, sondern ein. In ihm sind alle Menschen bedacht.
Vom königlichen Menschen redet also die Christologie. Indem die Christologie damit aber implizit zugleich vom Menschen überhaupt redet, so daß von ihr her jeder Mensch bedacht wird, erweist sich die für das theologische Denken Barths so charakteristische christologische Konzentration als eine bedachtsame Grundlegung der Anthropologie. Von einem „Christomonismus“ kann keine Rede sein-schon deshalb nicht, weil die christologische Konzentration keinem Prinzip und keinem daraus zu deduzierenden System, sondern allein der Konzentration auf das konkrete Sein Jesu Christi gilt. Das konkrete Sein Jesu Christi ist aber eine Geschichte, in der von Gott nicht ohne den Menschen Jesus und von diesem nicht ohne Gott geredet werden kann. Zugleich aber kann von dieser Geschichte Jesu Christi nicht geredet werden, ohne daß von allen Menschen die Rede ist. Denn der königliche Mensch war so da, daß er für die Menschen da war. Und indem er so da war, war Gott für alle Menschen da.
Die Christologie verträgt deshalb keine noch so. „ehrenvolle Isolierung“ (KD IV/i, 136). Von ihr her will alles bedacht sein: der Mensch, die Kirche, die Welt, ja sogar (wenn auch nur mit einem kurzen, schrägen Seitenblick) der Teufel. Aber eben von ihr her. Denn wenn „die Dogmatik sich nicht grundsätzlich als Christologie versteht und verständlich zu machen weiß, dann ist sie gewiß irgendeiner Fremdherrschaft verfallen, dann steht sie gewiß schon im Begriff, ihren Charakter als kirchliche Dogmatik zu verlieren“ (KD I/2, 135). Eine sich nicht als Christologie verstehende Dogmatik würde weitaus eher eine sich verteidigende, eine apologetische als eine mit dem Evangelium angreifende Wissenschaft sein. Sie müßte den Ansprüchen, die auf Grund sachfremder Kriterien an sie erhoben werden, zu genügen versuchen. Sie würde aber so ihrer eigenen Sache nicht genügen, sondern sich als eine sich assimilierende Wissenschaft theologisch diskreditieren. Denn die Sache der Theologie meldet sich als Christologie zu Worte. Und christologisch denken heißt: allein der Offenbarung Gottes nachdenken. „Die Sachlichkeit der Theologie besteht darin, daß sie sich die Auslegung der Offenbarung zu ihrer einzigen Aufgabe macht“ (KD II/1, 228). Offenbarung ist jedoch dasjenige Ereignis in der Welt, das den Ansprüchen weltlicher Kriterien so begegnet, daß sie ihnen gegenüber ihren eigenen Anspruch erhebt. „Gottes Offenbarung hat ihre Wirklichkeit und Wahrheit ganz und in jeder Hinsicht – also ontisch und noetisch – in sich selber“ (KD I/1, 321).
Der königliche Mensch begegnet also dem Denken nur in der Dimension der Offenbarung, und das heißt in einem ganz bestimmten Zusammenhang mit Gott. In einem Zusammenhang, der seinerseits von Gott her ist. Kein Zusammenhang, in dem Gott und ein Mensch zusammengeschlossen würden! Sondern ein Zusammenhang, in dem Gott sich mit einem Menschen zusammenschließt. So wird der königliche Mensch. Sein Werden kommt nicht aus ihm selbst oder aus menschlichen Voraussetzungen. Sein Werden verdankt sich allein einem Werden Gottes: der Menschwerdung Gottes.
Wo ist der königliche Mensch?
Doch geraten wir nicht in einen Widerspruch, wenn gelten soll, Gott habe sich in seiner Menschwerdung mit dem Menschen Jesus so zusammen- geschlossen, daß in diesem Zusammenschluß der Mensch Jesus erst wird, was er ist, nämlich der königliche und so der wahre Mensch? Wie kann sich Gott mit einem Menschen zusammenschließen, wenn dieser dadurch erst werden soll, was er ist?
Nun, wenn gelten soll, daß Gottes Offenbarung ihre Wirklichkeit und Wahrheit ganz und in jeder Hinsicht in sich selber hat, dann wird auch gelten müssen, daß diese Offenbarung sich ihren geschichtlichen Ort, ihre Wirklichkeit in Raum und Zeit mitbringt. Wohlgemerkt: sie bringt ihren Ort als geschichtlichen Ort, ihre Wirklichkeit als irdische Wirklichkeit mit. Die Offenbarung hat nichts Gespenstisches an sich. Die Geschichte wird zum geltenden Prädikat der Offenbarung. Aber die Offenbarung bringt sich die Geschichte mit, in der sie bei uns geschichtlich wirklich und wirksam sein will. Das nennt Karl Barth Erwählung.
Die Geschichte Jesu Christi ist die von Gott erwählte Geschichte. Zu dieser Geschichte hat Gott sich von Ewigkeit her selbstverpflichtet. Das bedeutet zweierlei:
1. Gottes eigenes ewiges Sein ist von der Geschichte des Menschen Jesus bewegt. Gottes ewiges Sein ist also bewegtes Sein. Bewegt ist Gottes Sein von der Geschichte des Menschen Jesus, weil Gott sich von Ewigkeit her auf diese Geschichte hin bewegt. Gottes ewiges Sein ist also eine von ihm selbst bewegte und insofern auch eine bewegende Geschichte: die bewegende Geschichte der Liebe Gottes zum Menschen, in der die bewegte Geschichte der in Gott selbst geschehenden Liebe sich äußert. Gottes Sein ist die bewegt-bewegende Geschichte ewiger Liebe, die nicht ewig sein wollte, ohne auch zeitlich zu werden. Die Geschichte der ewigen Selbstbewegung Gottes wollte auch eine vom Menschen zeitlich bewegte Geschichte sein. Deshalb erwählte der ewige dreieinige Gott den Menschen Jesus, um in ihm wahrer Gott und wahrer Mensch zu sein. Dann kann freilich das ewige Sein des Gottessohnes nicht abgesehen von seiner Fleischwerdung gedacht werden. Und die Rede vom ewigen fleischlosen Worte Gottes (logos asarkos) erweist sich als eine unerlaubte theologische Abstraktion. Es ist der Theologie verwehrt, an der ewigen Entscheidung Gottes, in der Seinsweise des Sohnes als Mensch wahrer Gott zu sein, „vorbei von einem ‚Logos an sich‘ zu träumen“ (KD IV/1, 55).
2. Der erwählte Mensch Jesus ist in seiner das ewige Sein Gottes menschlich bewegenden Geschichte schon im Anfang aller Wege und Werke Gottes bei Gott. Das heißt, daß der Mensch Jesus, bevor er in Wirklichkeit bei sich selbst ist, schon in Wahrheit bei Gott ist. Und der ewige Gottessohn ist von Ewigkeit her . der Platzhalter des irdischen Menschensohnes. Gottes Gnadenwahl räumt also dem Menschen Jesus von Ewigkeit her einen Platz im Sein Gottes ein. Er ist als der wahre Mensch zu dieser Erhöhung bestimmt, wie Gott selbst sich in ihm zur Niedrigkeit des Menschseins bestimmt hat. Im Akt dieser Bestimmung ist der erwählte Mensch Jesus schon bei dem ihn erwählenden Gott. Von einem Sein Gottes an und für sich kann deshalb theologisch ebensowenig die Rede sein wie von einem Sein des Menschen an und für sich. Gott hat vielmehr mit der ewigen Erwählung des zeitlichen Seins Jesu von Nazareth in sich selber Raum geschaffen für ein anderes, ihm fremdes Sein. Es gibt in Gott selbst einen Raum der Gnade. In diesem dem Menschen Jesus von Ewigkeit her eingeräumten Raum im Sein Gottes kommt das menschliche Wesen zu Gott, bevor es zu sich selbst kommt. Das ist die Gnade unseres Seins.
So also wird theologisch verständlich, daß die Offenbarung Gottes in unserer Geschichte sich ihre Geschichte mitbringt, daß der Mensch Jesus seine geschichtliche Wirklichkeit allein dem Sein Gottes und seinem Werden verdankt. Und so leuchtet die Wahrheit menschlichen Seins in der Einsicht auf, daß der wahre Mensch bei Gott zu Hause ist. Dann kann freilich der Mensch, der bei sich selbst zu Hause ist, nur der verlogene Mensch, der sein Menschsein verfehlende Sünder sein.
Woher ist der königliche Mensch?
Wenn der wahre Mensch bei Gott zu Hause ist, dann kann die Menschlichkeit des Menschen nicht ohne die Göttlichkeit Gottes erkannt werden. Wenn der wirkliche Mensch bei sich selbst zu Hause ist, und wenn er so als Sünder ist, was er ist, dann könnte von der Menschlichkeit des Menschen überhaupt nicht die Rede sein, wenn nicht Gottes Göttlichkeit gerade in der schlechten Gesellschaft dieses Gottes gegenüber „ganz anderen, nichtgöttlichen, ja widergöttlichen Wesens“ (KD IV/1, 173) offenbar geworden wäre. Die Christologie erzählt die Geschichte des Offenbarwerdens Gottes in der schlechten Gesellschaft der Sünder, indem sie von der Rehabilitierung dieser Gesellschaft durch Gott, indem sie von der Versöhnung erzählt, die in der Geschichte des wahren Gottes und wahren Menschen Jesus Christus geschieht.
In der Geschichte Jesu Christi „ereignet es sich, daß Gott der versöhnende Gott und der Mensch der versöhnte Mensch ist“ (KD IV/1, 172). Die Geschichte Jesu Christi ist die Geschichte der Versöhnung, in der sich der Sohn Gottes als Mensch in die schlechte Gesellschaft der Sünder begibt: „der Weg des Sohnes Gottes in die Fremde“ (KD IV/1, 171ff.). Dort, auf dem Weg des Gottessohnes in die Gottesferne haben wir zu lernen, was göttlich ist. Der Wesenszug göttlicher Hoheit ist ein unaufhaltsamer Zug in die Tiefe. Doch zugleich entscheidet sich auf diesem Wege des Sohnes Gottes in die Fremde auch, was menschlich ist. Denn nur auf dem Weg Gottes in die Fremde findet der Mensch nach Hause, wird er nach Hause gebracht. Es vollzog sich nämlich mit dem Weg des Sohnes Gottes in die Fremde zugleich die „Heimkehr des Menschensohnes“ (KD IV/2, 20ff.). Die Bewegung des Gottessohnes in die Tiefe führt den Menschensohn in die Höhe. Und mit ihm ist das menschliche Sein überhaupt in seine Wahrheit eingekehrt.
Wir müssen also nach Gottes Wegen fragen, wenn wir in die Wahrheit unseres Seins gelangen wollen. Wir müssen fragen, wohin Gott geht, wenn wir erfahren wollen, woher der königliche Mensch ist.
Gott offenbart sich, indem Gott der Vater in einem Akt göttlichen Geisteslebens den Gottessohn in die Fremde schickt und indem Gott der Sohn gehorsam in die Fremde geht. Gehorsam erträgt der Gottessohn die Fremde, in die er geht. In diesem Gehorsam offenbart sich Gott: der Herr als Knecht. Und so offenbart er sich als der an seinem Geschöpf leidende Gott. Gott leidet! Und gerade so erweist er sich als Gott. In drei Hinsichten muß diese Erkenntnis eingeübt werden:
1. Im Blick auf die Notwendigkeit dieses Leidens: Das Wort Gottes wurde nicht nur Fleisch „in irgendeiner Allgemeinheit, sondern jüdisches Fleisch“ (KD IV/1, 181). Der in die Fremde gehende Sohn Gottes nimmt teil an der Geschichte des erwählten Volkes, das auf Grund seiner Verworfenheit unter Gottes Zorn leiden mußte. Die Leidensgeschichte des erwählten Volkes Israel läßt „die Heilsgeschichte wesentlich Passionsgeschichte“ (KD IV/1, 183) sein. Und in dieser Leidensgeschichte spiegelt sich, wie leidenschaftlich Gott von der Geschichte seines Geschöpfes bewegt ist. Das prägt nach Barth das Alte Testament ein: des Sohnes Gottes „Geschichte muß sein: Leidensgeschichte“ (KD IV/1, 191). Der Gottessohn fügt sich gehorsam diesem Muß. Gehorsam erweist er sich als der wahre Gott.
2. Im Blick auf die Wirklichkeit dieses Leidens: Wenn im Leiden Jesu Christi Gottes Gottheit offenbar wird, dann haben wir eben von dieser Leidensgeschichte her unseren Gottesbegriff zu konstituieren. Der fromme Mensch sträubt sich dagegen und wendet ein, daß ein leidender Gott aufhören würde, Gott zu sein, und daß erst recht das spezifisch-menschliche Widerfahrnis des Todes der Gottheit Gottes widerstreitet. Diese Einwände haben sich in der Theologiegeschichte weithin durchgesetzt. Doch sie gehen an der Selbstoffenbarung Gottes in Jesus Christus vorbei und erweisen sich eben darin, daß Gott in Jesus Christus litt und starb, „als unhaltbar, verkehrt und heidnisch“ (KD IV/1, 203).
3. Im Blick auf die Möglichkeit dieses Leidens: Wenn Gott im leidenden Gehorsam seines Sohnes seine Gottheit nicht verloren, sondern vielmehr in höchster Demut betätigt hat, dann kann auch dem Wesen Gottes jene hohe Demut nicht fremd sein. Es geht also nicht an, auf Grund der Leidensgeschichte des Gottessohnes von einem im Sein Gottes waltenden Widerspruch zu reden, wie das vor allem bei lutherischen Theologen geschah und geschieht. Vielmehr: „indem Gott solches tut, beweist er uns eben damit, daß er es kann, daß Solches zu tun durchaus in seiner Natur liegt“ (KD IV/1, 204). Daß der Sohn Gottes seine Gottheit im leidenden Gehorsam betätigt hat, zwingt zu der Annahme, daß nicht nur die Gottheit des Sohnes für sich allein jenen Gehorsam zu vollziehen fähig und willig ist, sondern daß die Gottheit Gottes als solche, die ja allen drei „Personen“ des einen Gottes in gleicher Weise zukommt, in sich Gehorsam kennt und möglich macht, so daß „der eine Gott in gleicher Gottheit tatsächlich Einer und auch ein Anderer, und zwar ein Erster und ein Zweiter, ein in Hoheit Regierender und Gebietender und ein in Demut Gehorchender ist“ (KD IV/1, 221). Das ist kein Widerspruch in Gott, sondern so sind sich Vater und Sohn einig im Geist. So bejahen sie einander. So entspricht Gott sich selbst. Und so ist er der lebendige Gott.
Die in Gott selbst begründete Möglichkeit seines irdischen Leidens gibt uns zu verstehen, daß Gott auch im Leiden nicht überfordert wird. Was Gott in seiner Hinwendung zum Menschen tut und ist, kann nur als „etwas Überschwengliches, Überflüssiges“ (KD IV/1, 172) verstanden werden. Gott schenkt „sich der Welt, indem er als ihr Versöhner selbst weltlich wird“ und so „sein inneres Sein als Gott… äußerlich werden läßt“ (KD IV/1, 223). Gottes Äußerlichkeit und Weltlichkeit ist die liebevolle Zuwendung seines ewigen Seins an den Menschen. Von dieser Zuwendung her ist und lebt der königliche Mensch.
Was ist der königliche Mensch?
Das Ereignis der Versöhnung redet also nicht nur von dem den Menschen mit sich versöhnenden Gott, sondern in eins damit von dem mit Gott versöhnten Menschen. Dieser Mensch ist keinesfalls eine unwichtige, nebensächliche Figur, deren man allenfalls in einem vielleicht auch entbehrlichen Nachsatz zu gedenken hätte. Die von Barth einst bei der Auslegung des Römerbriefes geprägte Formel „Gott alles, der Mensch nichts“ gibt, weil sie dem Menschen das Seine nimmt, auch Gott nicht das Seine. Wer noch immer meint, es müsse die besondere Aufmerksamkeit auf den mit Gott versöhnten Menschen notwendig „die fatale Theologie des frommen Menschen“ erneuern, der muß sich jetzt von Barth sagen lassen, daß diese Methode, eine Abstraktion durch eine Gegenabstraktion zu ersetzen, „eine schlechte, eine richtig ‚reaktionäre‘ Methode“ ist. Statt aufgeregt auf den Irrtum einer abstrakt anthropozentrischen Theologie zu starren, gilt es vielmehr, „in aller Ruhe das durch sie gestellte Problem ins Auge zu fassen und dieses, statt es fallen und liegen zu lassen, neu und in besserer Weise aufzunehmen“ (KD IV/2, 9).
Neu und in besserer, weil allein sachgemäßer Weise wird das Problem des mit Gott versöhnten Menschen aufgenommen, wenn es an seinem konkreten Ort aufgesucht wird. Der mit Gott versöhnte Mensch heißt Jesus von Nazareth. In ihm wird der Mensch zum neuen, mit Gott versöhnten Menschen. Wer bei der Frage nach dem Sein des Menschen von diesem konkreten Ort abstrahiert, der wird sehr bald „mit der Stange im Nebel herumfahren, etwas Triviales oder Wahnwitziges denken, uns selbst und Anderen ein schönes Märchen erzählen, ein schwungvolles Gedicht vortragen, einen Mythos proklamieren oder auch einfach fromme Sprüche machen“ (KD IV/2, 315).
Die Geschichte des königlichen Menschen Jesus impliziert die Geschichte aller Menschen. Zwischen dem Sein des Menschen Jesus und dem Sein aller anderen Menschen besteht ein ontologischer Zusammenhang, weil Gott in Jesu Geschichte für alle Menschen Geschichte macht. Eben deshalb ist die eine Geschichte Jesu Christi zugleich Gottesgeschichte und Menschheitsgeschichte. Man muß diese Geschichte zweimal erzählen, um ihre beiden Aspekte voll zur Geltung zu bringen. Zuerst wurde erzählt, wie Gott sich erniedrigte und in die Fremde ging. Diese Bewegung von oben nach unten ist der kraftvolle Ursprung einer gleichzeitigen Bewegung von unten nach oben, von der nun zu erzählen ist: von der Erhöhung und Heimkehr des Menschen. „Versöhnen … heißt ja … ursprünglich Vertauschen …:Gottes … Erniedrigung gegen des Menschen … Erhöhung. Gott ging in die Fremde, der Mensch kehrte heim. In dem einen Jesus Christus geschah Beides“ (KD IV/2, 21). Deshalb erkennen wir in ihm den wahren, von Gott gewollten und bejahten Menschen. Doch was heißt das: der wahre Mensch?
Jesus gibt sich in seiner Menschlichkeit als der wahre Mensch so zu erkennen, daß er uns zugleich ganz gleich und ganz ungleich ist. Er ist uns „gleich in unserer geschöpflichen Art, aber auch in deren Bestimmung durch Sünde und Tod“. Er ist also „kein Engel, kein Mittelwesen, kein Halbgott“ – sondern „ganz und vorbehaltlos Mensch“ (KD IV/2, 28). Ungleich ist er uns darin, daß „aus der ihm und uns gleichen ‚menschlichen Natur‘, indem er sie annahm“, etwas Anderes „werden mußte und geworden ist“ (ebd.). Denn indem er als Mensch leidet und handelt, findet „eine Erhöhung eben der Menschlichkeit statt…, die als die seine wie als die unsere dieselbe ist“ (KD IV/2, 29). In ihm wird der Knecht zum Herrn. „Das ist das Geheimnis der Menschlichkeit Jesu Christi, das in der unsrigen zunächst keine Parallele hat“ (KD IV/2, 30). Weil in ihm allein Gott der Herr zum Knecht wurde, deshalb wurde dieser Knecht erhoben in die Würde des Herrn. Daß diese letztere Bewegung auf Grund der ersten stattfinden kann, das ist das Besondere des Menschseins Jesu. Der sündige Mensch ist von sich aus zu dieser Bewegung zu träge, das heißt nach Barth: zu dumm, zu unmenschlich, zu verlottert und zu voll von Sorgen. In der Geschichte des Menschen Jesus wird das Sein des Menschen Jesus im Anfang bei Gott und die darin beschlossene Aufnahme der Menschheit zu Gott irdisch vollstreckt. Die Geschichte des Menschen Jesus ist nicht nur eine das ewige Sein Gottes hinabbewegende, sondern sie ist als solche zugleich eine von Gott hinaufbewegte Geschichte. Weil beides gilt, deshalb können wir „es in keiner Höhe noch Tiefe, in keinem Einst oder Dann mit Gott zu tun haben, ohne es sofort auch mit… diesem Menschen zu tun zu haben“ (KD IV/2, 34). Gott will so Gott sein, daß er in diesem Menschen uns bei sich hat, und der Mensch soll so Mensch sein, daß er sich in diesem Menschen zu Gott erheben läßt.
Die wahre Menschheit Jesu Christi besteht also in der Geschichte ihrer Aufnahme durch Gott. Es kann demnach, was den Menschen Jesus zum wahren Menschen macht, nur Jesus Christus als wahrer Gott sein. Wäre Jesu Geschichte nicht die von Gott bewegte Geschichte, dann wäre sie auch nicht die Gottes ewiges Sein bewegende Geschichte eines Menschen.
Doch ist es nicht ein Mangel der Menschheit Jesu, wenn sie nur in der Einheit mit seiner Gottheit, also „unselbständig“ da ist? Alle anderen Menschen können ja offenbar selbständig existieren, ohne der Gottheit zu bedürfen. Gewiß, aber wie! „Selbständig“ existiert der Mensch in der Gefangenschaft der Sünde. Selbständig existierend verwirkt er seine Existenz und erwirkt sich den Tod. Der Mensch in „der Linie Adams“ (KD IV/2, 48) konstituiert die Wahrheit des Menschseins nicht, sondern ihre Verlogenheit und Verlorenheit. Demgegenüber ist die Existenz des Menschen Jesus aus der Einheit mit dem Sein des Gottessohnes das Plus wahren Menschseins. Der scheinbare Mangel des Menschseins Jesu erweist sich in der Koexistenz des Gott-Menschen als Gewinn wahren Menschseins.
Dieser Gewinn wahren Menschseins geschieht in einer Geschichte, als Geschichte der Aufnahme und Erhöhung der menschlichen Natur. Es geht um „ein Sein, das nicht aufhört, als solches auch ein Werden zu sein“ (KD IV/2, 49). Die in Jesu Geschichte sich vollziehende Erhöhung der menschlichen Natur darf also nicht als eine Zuständlichkeit gedacht werden. Das wäre eine Abstraktion von der Geschichte und damit von Gott als dem Subjekt dieser Geschichte. Und mit dieser Abstraktion wäre mitten in der Christologie die Tür geöffnet zu einer „Anthropologie ‚im höheren Chor‘“, zur Lehre „von der vergottungsfähigen, vielleicht schon vergotteten, jedenfalls in der Vergottung … begriffenen Humanität schlechthin“ (KD IV/2, 89).
Erhöhung des menschlichen Seins zu Gott ist aber nicht Vergottung der Menschheit. In der lutherischen Christologie mit ihrer Lehre vom genus majestaticum (das heißt von der Mitteilung der göttlichen Wesenseigentümlichkeiten an das menschliche Wesen Jesu Christi) drohte nach Barth jene Gefahr. Deshalb setzt er sich kritisch von dieser lutherischen Sonderlehre ab, läßt aber dennoch das wahre Anliegen dieser Lehre nicht fallen. Denn es geht nach Barth in der wahren Menschheit Jesu Christi tatsächlich um die Erhöhung des menschlichen Wesens in die Ehre, Würde und Majestät des göttlichen Wesens. Indem Gott sich in. die Fremde des gottverlassenen Menschen erniedrigt, darf der Mensch ja tatsächlich „als die Beute des göttlichen Erbarmens“ (S. 111) heimkehren in die Flöhe Gottes. Doch vergöttlicht wird der Mensch dadurch nicht. Gott will im Menschen Jesus das „menschliche Wesen bei sich, zum Kleid, zum Tempel, zum Organ haben“ (ebd.), um sich in diesem Menschen als Gott zu offenbaren. Wir können es also „mit Gott nicht zu tun haben …, ohne es sofort, eo ipso auch mit diesem seinem menschlichen (unserem eigenen!) Wesen, mit dem Fleisch seines Sohnes (und in ihm mit unserem eigenen Fleisch!) zu tun zu haben“ (KD IV/2, 112). Aber an sich kommen dem menschliche! Wesen Jesu Ehre und Anbetung nicht zu. Denn an sich gibt es dieses menschliche Wesen Jesu Christi nicht. Nur in der konkreten Koexistenz von Gott und Mensch in ein und derselben Geschichte ist der wahre Mensch Jesus da. Und in dieser Koexistenz ist er der königliche Mensch. Der königliche Mensch ist also genau das, was Gott aus ihm und so er mit Gott aus sich macht.
Aus alldem wird klar, warum Barth die Erniedrigung und die Erhöhung Jesu Christi nicht als zwei zeitlich aufeinanderfolgende Bewegungen denken kann, sondern als ein Ereignis zweier sich entsprechender Bewegungen denken, muß. Die Verteilung von Erniedrigung und Erhöhung Jesu Christi auf zwei Zeitabschnitte würde ja wiederum die Abstrahierung des wahren Menschen vom wahren Gott zur Folge haben. Haben wir aber Erniedrigung und Erhöhung als die beiden sich gleichzeitig vollziehenden Bewegungen einer Geschichte zu verstehen, dann gilt für das irdische Sein Jesu, daß es in seiner Geschichte „in sich vollkommen und abgeschlossen“ ist: „keiner Überbietung, keiner Hinzufügung von neuen Qualitäten und keiner weiteren Entwicklung bedürftig“ (KD IV/2, 148). Im Tode Jesu Christi ist alles vollbracht.
Die Auferstehung Jesu Christi macht demgemäß nicht etwa Jesu Sein erst vollkommen, sondern vielmehr Jesu vollkommenes Sein offenbar. Die Auferstehung Jesu Christi ist (zusammen mit seiner Himmelfahrt) die Glauben verlangende Offenbarung des vollkommenen Seins Jesu Christi. Aber auch diese Offenbarung ist keine Hinzufügung zum Sein Jesu Christi. Wie könnte es sonst vollkommen sein? In die Offenbarungsdimension gehörte schon Jesu Christi vorösterliches Sein zum Tode. Die Gemeinde entdeckte im Rückblick von Jesu Auferstehung her, daß schon Jesu vorösterliches Sein „den Charakter von Offenbarung hatte und auch tatsächlich Offenbarung war“ (KD IV/2, 151). Es gibt also nach Barth keine abstrakte Kreuzestheologie. Auch das Kreuz Jesu und sein Lebensweg dorthin tragen das Licht der Offenbarung schon in sich. Die Wahrheit des königlichen Menschen ist von Anfang an, von seiner Geburt an da. Aber sie war als Geheimnis dieses Menschen da und vollzog sich in seinem Leben und seinem Sterben, um in der Auferstehung diesem Vollzug als Wahrheit gegenüberzutreten. So geschieht in der Auferstehung die dem im Tode vollendeten Sein Jesu entsprechende vollendete Offenbarung Jesu Christi (cf. KD IV/2, 158f.).
Von der österlichen Offenbarung her erzählen die Evangelien die Geschichte des Lebens und Leidens und Sterbens Jesu als die Geschichte des königlichen Menschen. Der königliche Mensch „gehört zur Substanz der Christologie“ (KD IV/2, 174). Darum muß auch die Dogmatik die konkrete Geschichte seiner Existenz erzählen. Barth tut es, indem er das geschichtliche Dasein des königlichen Menschen Jesus in seinen auffallenden Eigentümlichkeiten würdigt.
Wie existierte der königliche Mensch?
1. Der königliche Mensch existierte in einer unübersehbaren und unüberhörbaren Weise, indem er-ohne sich jemandem auf drängen zu müssen – jedem gegenwärtig war. Entscheidung fordernd, herbeiführend und vollziehend war er auf eine unvergeßliche und unwiderrufliche Weise da. Die Besonderheit dieses Menschen und seines Auftretens war der Grund, warum die Evangelisten seine irdische Wirklichkeit „als konkrete Grenze, als konkretes Maß und Kriterium aller anderen irdischen Wirklichkeit“ (KD IV/2, 185) dargestellt haben. Sie haben nicht nur über ihn, sie haben von ihm her geredet.
2. Die besondere Weise, in der Jesus da war, ist darin begründet, daß er „als Mensch analog zur Existenzweise Gottes“ existierte (KD IV/2, 185). Der königliche Mensch „bildet in der Geschöpfwelt eine Parallele zum Plan und zur Absicht, zum Werk und zum Verhalten Gottes“ (KD IV/2, 186). So ist analog zur Selbsterniedrigung Gottes der zu ihm erhöhte Mensch „als solcher kein hoher Mensch“. Sein Königtum ist glanzlos vor der* Welt, seine Macht ist Ohnmacht vor den Menschen. „Er, der allein Reiche, ist … der ärmste Mann“ (KD IV/2, 186). In seinen Worten und Werken hat er sich entsprechend besonders den armen Menschen zugewandt. Das Wirken des königlichen Menschen hat eine merkwürdige Affinität zu den menschlichen Schattenexistenzen. Damit hängt der revolutionäre Charakter des Verhältnisses Jesu „zu den in seiner Umgebung gültigen Wertordnungen und Lebensordnungen“ zusammen (KD IV/2, 191). Gerade indem Jesus selbst kein Programm proklamierte, stellte er alle menschlichen Programme und Prinzipien in Frage. In der zu seiner Zeit gültigen Ordnung lebend, hatte er doch die königliche Freiheit, die Grenze aller menschlichen Unternehmungen sichtbar zu machen, nämlich das Reich Gottes. Wie es für Gott keine totale Geltung irgendwelcher menschlicher Systeme gibt, so auch nicht für den Menschen Jesus. Gott ist der Durchbrecher aller menschlichen Konventionen, der Richter aller menschlichen Aufrichtungen. Und dies macht Jesus, sichtbar, indem er als – „wagen wir das gefährliche Wort: Parteigänger der Armen und schließlich … als Revolutionär“ (KD IV/2, 200) existierte. In dem allen aber ist er nicht gegen, sondern für die Menschen da als der Heiland der Welt, der seinen Angriff auf die Welt mit dem Evangelium führt. Richtet doch auch Gott den Menschen nur, um ihn aufzurichten.
3. Das Leben des königlichen Menschen war seine Tat. Jesu Person und Jesu Werk sind identisch: als seine eine denkwürdige Geschichte. Diese Geschichte ist Wortgeschehen. Denn Jesu Lebenstat „war … sein Wort“ (KD IV/2, 215). Dieses wiederum war menschliches Wort, das sich als solches nur durch seinen Inhalt von anderen menschlichen Worten unterschied. Als Wort von der Gottesherrschaft war es ein königliches Wort, das den ganzen Kosmos herrschaftlich und Versöhnung bringend anzureden vermochte.
Zu diesem Wort Jesu bildete sein konkretes Handeln den Kommentar und war insofern schlechthin charakteristisches Handeln (KD IV/2, 233), als Kommentar zum Evangelium selber Evangelium. In der Kraft des Evangeliums von der Gottesherrschaft streitet der königliche Mensch gegen das Übel in der Welt, tut er Wunder, durch die „ein völlig neues überraschendes Licht … in die menschliche Situation hineinfiel“ (KD IV/2, 244). In Jesu Tun wird der Überfluß der Gnade Gottes auch weltlich anschaulich. Deshalb hat der von Jesu Lebenstat geweckte Glaube „so etwas wie Überschuß“, einen „Luxus“ gegenüber der Regel des Glaubens (KD IV/2, 271 f.). „Ein normaler Westchrist und Protestant hält sich an die Regel und hat für Luxus – und wäre es der Luxus des lieben Gottes – nun einmal kein oder nur ein höchst mißtrauisches Verständnis.“ Doch kann „man denn auch nur die Glaubensrege/ verstehen, wenn man von diesem Überschuß nichts wissen“ (KD IV/2, 273) will?
4. Alles über den königlichen Menschen Jesus Gesagte ist nun noch unter das Vorzeichen des entscheidenden Merkmals seiner Existenz zu setzen: das Kreuz. Das Neue Testament hat ja „gerade den auferstandenen, den lebendigen, den erhöhten Menschen Jesus nicht anders gesehen, gekannt, bezeugt, denn als den Mann, … dessen Geschichte … eben seine Passionsgeschichte war“ (KD IV/2, 276). Die Passion ist kein „Fremdkörper“ in der Lebenstat Jesu Christi. Sie hat in den Evangelien nie den Charakter einer tragischen Verwicklung oder auch nur eines zufällig oder schicksalsmäßig hereinbrechenden Unglücks (KD IV/2, 278). Vielmehr vollendet sich im Leiden das Sein des königlichen Menschen. Der Gott und seine Gnade bejahende Mensch wird am Kreuz zum König gekrönt. „Alles … hat seine Spitze und seinen eigentlichen Glanz darin, daß er … zuletzt als ein Verbrecher zwischen zwei anderen Verbrechern am Galgen hing und dort als ein von den Menschen Verdammter, Mißhandelter und Verspotteter und als ein von Gott Verlassener mit jener Frage eines Verzweifelten auf den Lippen gestorben ist“ (KD IV/2, 279).
Im Tode wird vollendet, was Jesu ganze Existenz war: die. Heiligung des Namens Gottes, das Geschehen des Willens Gottes, das Kommen des Reiches, „zu dessen Art und Gewalt er (sc. Jesus) als Mensch nur tief erschrocken, aber auch nur ganz entschlossen Ja sagen kann“ (KD IVZ2, 279). So betätigt er sich leidend und bestätigt er sich sterbend als „der, der er ist: der Gottessohn, der auch der Menschensohn ist, in der tiefsten Finsternis von Golgatha aufs Höchste in der Herrlichkeit des Sohnes mit dem Vater, gerade in jener Gottverlassenheit der von Gott unmittelbar geliebte Mensch“ (KD IV/2, 279f.).
Daß der königliche Mensch diese Gestalt hat, daß der von Gott erhöhte Mensch so aussieht, darf nicht zu falschem „Ernst und Tiefsinn“ (KD IV/2, 396) Anlaß geben. Der Tod des königlichen Menschen nötigt die Theologie nicht zu „närrischen Paradoxien“ (KD IV/2, 401). Denn der Mensch Jesus hört ja auch am Kreuz nicht auf, in der Einheit mit dem Sohne Gottes zu. existieren. Gerade hier bewährt sich die einmalige gott-menschliche Koexistenz. Denn der Gott, der in diesem Menschen am Kreuz hängt, und dort „das fremde Leiden seiner Kreatur“ (KD IV/2, 399) auf sich nimmt, damit der Mensch es so nicht leiden müsse, bleibt ja auch im Tode Gott. Sterbend setzt sich Gott dem Tode aus, aber er gibt sich auch im Tode nicht auf. Der Gottessohn stirbt wirklich den Tod des Sünders. Aber sterbend entreißt Gott dem Tod seinen Stachel. So kommt er dem Tode im Tode zuvor. So bleibt er auch im Tode zuhöchst Gott. So wird Jesu Christi Tod des Todes Tod.
An dem den Tod besiegenden Majestätsakt Gottes hat auch der königliche Mensch Jesus teil. Die Existenz dieses Menschen vollzog sich nicht nur in Entsprechung zur Niedrigkeit Gottes, sondern sie hat auch schon Anteil an Gottes Sieg. Jesus ist Sieger! Die hohe Majestät göttlicher Demut, die Majestät des Sohnes Gottes „wirkt sich darin aus, daß er Mensch geworden und als der erwählte Mensch Jesus die Erniedrigung Gottes vollziehend, der neue, der wahre, der königliche, der auch in seinem Sterben und gerade in seinem Sterben triumphal lebende Mensch ist“ (KD IV/2, 400). Das ist das Geheimnis des königlichen Menschen – beschlossen im Erbarmen Gottes des Vaters, begründet in der Majestät Gottes des Sohnes. Daß sich im Leben und und Sterben des Menschen Jesus Gottes nicht nur widerspruchsloser, sondern den Widerspruch der Sünde und des Todes besiegender Lebensakt vollzog, konstituiert die Würde des königlichen Menschen. Daß dieser eine Lebensakt Gottes als Akt seiner freien Liebe im Sein des königlichen Menschen anschaulich wurde, macht diesen Menschen zur Hoffnung der Welt, die als zu Gott umgekehrte Welt in der christlichen Gemeinde glaubt: „an die Begründung des Lebens aller Menschen im Sterben dieses Einen, an die Vollstreckung ihrer Erwählung in der Vollstreckung seiner Verwerfung, an ihre Ehre in seiner Schande, an ihren Frieden in seiner Strafe“ (KD IV/2, 398).
So bekennt der Glaube den königlichen Menschen Jesus angesichts des Todes als den Sieger – „in der Meinung, daß in ihm auch wir Siegersind“ (KD IV/2, 398). In der Gewißheit dieses- Glaubens kann der Mensch nicht nur voll Hoffnung leben, sondern kann er auch sterben.
Quelle: Die Zeichen der Zeit. Evangelische Monatsschrift für Mitarbeiter der Kirche 20, Nr. 6, Berlin: Evangelische Verlagsanstalt, 1966, S. 186-193. Wieder abgedruckt in: Eberhard Jüngel, Barth-Studien, ÖTh 9, Gütersloh: GVH u. Zürich: Benziger, 1982, S. 233–245.