Hartmut Ludwig über Hans Joachim Iwand (1899-1960): „Wie kein anderer reflektierte Iwand alles theologische Denken im geschichtlichen Kontext. An Martin Niemöller schrieb er: »Ich will Ihnen gern gestehen, daß ich seit 1945 mich viel mit jenen Vorgängen des vorigen Jahrhunderts beschäftigte, die dem Sturz Napoleons in Europa folgten, und befürchte, dass wir in Gefahr sind, wieder in jene alten Gleise einzubiegen, die sich bereits damals als tote Gleise erwiesen haben.«“

Hans Joachim Iwand

Geb. 11. 7. 1899 in Schreibendorf; gest. 2. 5. 1960 in Bonn

Von Hartmut Ludwig

Nach den Reden am »Tag der Heimat« 1959 schrieb Iwand in ei­nem Leserbrief in der Welt: Wer nach 1933 »das Recht auf Hei­mat der anderen so gewissenlos mit Füßen trat, sollte heute we­nigstens schweigen.« Als er dar­aufhin beschimpft wurde als »Schrittmacher des Bolschewis­mus« und »Feind der freiheitli­chen demokratischen Grund­ordnung«, reagierte er: »Wir können nicht, gedeckt durch einige Theologen, mit der Forderung nach dem schöpfungs­mäßig sanktionierten Recht auf Heimat vor die Welt hintreten, als (. . .) hätte man uns die Heimat genommen (. . .). Wir haben selbst das Recht auf Heimat zerfetzt und beschmutzt (. . .). Recht auf Heimat ist für uns nicht eine Frage der Grenzen (. . .). Die Friedensfrage geht aus sittlichen Gründen der Grenzfrage voran«. Das Beispiel belegt, wie Iwand Vergangen­heit weder verdrängte noch verklärte, sondern sie kritisch in seine wachsenden Erkenntnisse und Erfahrungen einordnete und wie seine Biographie und Theologie stark mit Geschichte und Politik verschränkt war.

In einem schlesischen Landpfarrhaus in »national-sozialem« Geist Friedrich Naumanns aufgewachsen, wurde Iwand noch im April 1918 eingezogen und nach Kriegsende bis Mai 1919 beim Grenzschutz der Provinz Posen eingesetzt. Im März 1920 marschierte er mit einem Freikorps nach Berlin, um am Kapp-Putsch zur Beseitigung der Republik teilzunehmen und be­teiligte sich im Mai 1921 gegen polnische Freischaren an der Erstürmung des Annabergs. Erste Zweifel an der Idee des Soldatentums kamen Iwand 1933. Das Erleben des Zweiten Welt­krieges und die Gefahr atomarer Totalvernichtung nach 1945 ließen ihn Pazifist werden.

Iwand studierte in Breslau und Halle Theologie (1917/18, 1919-1921). Der Systematiker Rudolf Hermann (1887-1962) wurde sein Lehrer und Freund. Durch ihn lernte Iwand Kant, Hegel, Schleiermacher und vor allem Luther kennen. Durch Hermanns Vermittlung wurde Iwand Inspektor des »Lutherheims«, einem Theologenkonvikt in Königsberg (1923-1934). Her­mann begleitete auch I.s Promotion (1924) und Habilitation (1927). Iwand wollte Glauben und Wissen vereinigen, d.h. die Lebensanschauung konsequent vom Glauben aus durchdrin­gen. Im Oktober 1930 erhielt Iwand einen Lehrauftrag. Im Januar 1931 schrieb er Hermann: »Die Studenten wollen heute doch mehr politische Bildung – und sie haben ein gutes Recht dazu, wie ich meine«. Als er im Mai »die Entfremdung der Kirche vom wirklichen Leben« beklagte, das Ende einer Epoche kommen sah und besorgt war, »ob dies Ende nicht ein entsetzliches Gericht sein wird«, wies ihn Hermann zurecht, da er befürchtete, Iwand nähere sich der Kirchenkritik Karl Barths und Günther Dehns. Iwand dementierte das sofort. »Die Gefahren, die jetzt aufbrechen, habe ich seit Jahren gefühlt, gebe Gott, daß wir nicht ganz untergehen«, schrieb er im April 1933. Die »Deutschen Christen« sah er als Ausläufer und Erben einer langen Entwicklung, die theologisch aufzuarbeiten sei. Nicht die sogenannte nationale Ausrichtung des Nationalsozialis­mus, sondern dessen Rassenideologie lehnte er ab. Sensibili­siert war er dafür durch seine Frau, Ilse Ehrhardt, die als »Halbjüdin« zu den Verfolgten gehörte. Die Übernahme des Rassedogmas durch die Kirche war ein »Verrat des Glaubens«. Mit dem Neutestamentler Julius Schniewind bemühte Iwand sich, bei Pfarrern und Studenten dagegen anzukämpfen. Seine Stel­lung als Inspektor wurde unhaltbar. Um ihn aus Königsberg zu entfernen, übertrug man ihm die Verwaltung einer Dozen­tur für Neues Testament am Herderinstitut in Riga. Im Früh­jahr 1935 wurde ihm jedoch die Lehrbefugnis entzogen.

In den Jahren 1933 und 1934 war auch in Ostpreußen die Bekennende Kirche (BK) entstanden, die zunächst stärkere Verbindung zu den lutherischen Landeskirchen suchte. Der Kon­fessionalismus und die Kompromisse der Lutheraner mit dem NS-Staat veranlaßten Iwand, sich immer mehr dem Flügel um Martin Niemöller zuzuwenden. In einem Flugblatt verteidigte er im Januar 1936 die BK, die von ihren Bekenntnissen in Barmen (Mai 1934) und Dahlem (Oktober 1934: Erklärung kirchlichen Notrechts) nicht ablasse.

Als die BK im März 1936 im ganzen Reich in einen lutheri­schen und einen bruderrätlichen Flügel auseinanderbrach, versuchte Iwand – vergeblich – Brücken zu schlagen. Der zu­nehmenden Distanz zu Rudolf Hermann entsprach eine Öff­nung gegenüber Karl Barth. Dessen Sicht des Verhältnisses von Evangelium und Gesetz und die politischen Konsequenzen lehnte Iwand jedoch ab. Gegen Barth äußerte er 1936: »Wir bilden hier keine Fronde gegen den Staat«. Die Abwehr der NS-Ideologie könne nicht auf den »Raum der Kirche« be­schränkt werden. Die Unterscheidung zwischen Ideologie und Politik teilte Iwand mit den Konservativen.

Bereits im Sommer 1935 war ihm Aufbau und Leitung des ostpreußischen Predigerseminars der BK übertragen worden. Im Juni 1937 mit Reichsredeverbot aus Ostpreußen ausge­wiesen, fand er mit dem Seminar Aufnahme in Dortmund. Himmler-Erlaß, Haft und erneute Ausweisung machten die Weiterarbeit unmöglich. Iwand wurde Hilfsprediger der St. Marien­kirche in Dortmund (1938-1945). Obwohl er für die Auf­nahme in Westfalen dankbar war, fühlte er sich wie im Exil. Hier sei zuviel von Kirche und zuwenig vom Evangelium die Rede, die »Theologie des Wortes Gottes« durch die »Theologie der Bekenntnisschriften« ersetzt worden, an die Stelle der Auseinandersetzung der Kirche mit ihrer Tradition sei die Verchristlichung der Welt getreten. In dieser »Metamorphose unter den Theologen der Bekennenden Kirche« sah Iwand die Wurzel für manche Fehlentscheidungen nach 1945.

Im August 1945 nahm Iwand an den Konferenzen zur Neuordnung der Evangelischen Kirche in Frankfurt am Main und Treysa teil. Er wurde einer der heftigsten Kritiker des lutherischen Konfessionalismus, bemüht, die Aufspaltung der Kirche zu verhindern. Die Aufnahme von »Barmen« in die Grundord­nung der »Evangelischen Kirche in Deutschland« (EKD) 1948 sah Iwand als Erfolg. Der Kirchenkampf jedoch habe mit einer Niederlage geendet, da die Bekenntnissynode in Dahlem 1934 im Blick auf das Verhältnis von Kirche, Staat und Gesellschaft bereits weitergehende Beschlüsse gefaßt hatte.

Wie kein anderer reflektierte Iwand alles theologische Denken im geschichtlichen Kontext. An Martin Niemöller schrieb er: »Ich will Ihnen gern gestehen, daß ich seit 1945 mich viel mit jenen Vorgängen des vorigen Jahrhunderts beschäftigte, die dem Sturz Napoleons in Europa folgten, und befürchte, daß wir in Gefahr sind, wieder in jene alten Gleise einzubiegen, die sich bereits damals als tote Gleise erwiesen haben.« Ein Ergeb­nis dieses Nachdenkens war Das Wort des Bruderrates der EKD zum politischen Weg unseres Volkes vom 8. August 1947, für das Iwand den grundlegenden Entwurf vorlegte. Er wollte die Kirche in der konkreten Situation des beginnenden Kalten Krieges vor der Fortsetzung des Weges warnen, der bereits in die »Katastrophe des Jahres 1933« geführt hatte. Den nationali­stischen Irrweg und seine weltanschauliche Überhöhung (These 2-4) sah er fortgesetzt, wenn sich die Kirche nochmals bestimmen lasse von der »Parole: Christentum oder Marxis­mus«: »Diese Parole hat uns verführt zu schweigen, als wir zum Zeugnis für Recht und Freiheit gefordert waren, und denen politisch zu folgen, denen wir als Christen widerstehen mußten.« Iwands Entwurf ist durch Formulierungen anderer ent­schärft worden und wird deshalb heute nur noch als Schuld­bekenntnis verstanden.

Iwand ging es um Umkehr. So versuchte er, den geflüchteten und vertriebenen Ostpreußen bereits 1947 zu erklären, daß Volks­tum und Vaterland nicht zu den göttlichen Schöpfungsord­nungen gehörten und die 800jährige Geschichte im Osten zu Ende sei. In Beienrode bei Helm­stedt kaufte er 1949 ein Gut und schuf für Vertriebene das »Haus der helfenden Hände« als neues Zentrum der Begegnung. So setzte Iwand frühzeitig den Vertriebenenverbänden etwas entgegen.

Im Oktober 1945 wurde Iwand als Professor für Systematische Theologie nach Göttingen berufen. Von 1952-1960 lehrte er in Bonn. »Die theologische Arbeit der Kirche muß in einer steten Bewegung geschehen«, schrieb Iwand 1950. Dieser Satz ist für sein theologisches Wirken charakteristisch. Er verfolgte theologi­sche Entwicklungen bis zu ihrer Wurzel, ordnete sie in die politische und philosophische Geschichte ein und zeigte Wen­depunkte und deren Konsequenzen für die Gegenwart auf. Von Ordnung und Revolution, Bibel und soziale Frage, Kirche und Gesellschaft lauten einige Titel seiner Studien. Von der Bewegung in Barths Kirchlicher Dogmatik (I-IV, 1932-1959) ließ er sich mitnehmen. Da alle Theologie der Verkündigung dient, gründete Iwand 1946 die »Göttinger Pre­digtmeditationen«, die Jahrzehnte West und Ost verbanden und noch bestehen. In der Bonner Zeit rückte der »Frieden mit dem Osten« immer mehr in den Mittelpunkt der Arbeit I.s. Als es noch alles andere als selbstverständlich war, reiste er mehrfach in die Tschechoslowakei und die Sowjetunion, trat für Schuldbekenntnis und Versöhnung ein und war 1958 Mitbegründer der Prager »Christlichen Friedenskonferenz«. Aus dem echten Mit- und Nebeneinander der Völker erhoffte er »die wahre Erneuerung unseres Kontinents, die nach 1918 fällig war und von den Nationalisten und Faschisten verzögert und verhindert wurde (. . .). Hier (. . .) sehe ich heute den wahren Fortgang der Bekennenden Kirche!, ihre eigentliche politische Bewährung«.

Vogel, H.: Männer der Evangelischen Kirche in Deutschland. Berlin 1962.

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