Über Karl Barth als Objekt wissenschaftlicher Theologie (1963)
Von Karl Barth
An mir beginnt wortwörtlich in Erfüllung zu gehen, was mein Lehrer Harnack vor 40 Jahren (für mich niederschmetternd genug) von mir gesagt hat: der Kollege Barth dürfte wohl mehr als ein Objekt denn als ein Subjekt wissenschaftlicher Theologie zu würdigen sein. Wieder und wieder scheinen es tapfere junge Doktoranden, aber doch auch bestandene Arbeiter in den verschiedenen Weinbergen der Gottesgelehrtheit für richtig und wichtig zu halten, bestimmte Dimensionen oder auch bestimmte Stadien meines Denkens, Erkennens und Bekennens in ihrer Folge und ihrem Zusammenhang unter die Lupe ihrer Forschungen zu nehmen, um dann den Zeitgenossen auf Grund ihrer Befunde bekanntzumachen, was von mir zu halten sei. Ich kann je länger desto weniger Alles lesen und unter dem Gelesenen alles verstehen, was da an Analysen, Konstruktionen, Deutungen, Fragen, Widersprüchen, Additionen, Subtraktionen und Potenzierungen über, für und gegen mich vorgebracht wurde und noch wird. Sicher kann ich mich nicht beklagen, als ein im Verborgenen blühendes Veilchen existieren zu müssen, sondern es scheint tatsächlich etwas zu sein an dem einst von mir gebrauchten Bild von dem Mann, dem es im dunkeln Turm ohne sein Zutun widerfahren war, das Seil der großen Glocke in die Hand zu bekommen, die entsprechende Wirkung hervorzurufen und die entsprechende Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Gelegentlich kommt es mir auch vor, als läge ich als Träger einer besonders interessanten Krankheit, umgeben von zahlreichen älteren und jüngeren Feierlichen in Weiß, auf dem Operationstisch und habe nun mitanzuhören, was jetzt Dieser, jetzt Jener nach dem Maß seiner Sachverständigkeit über die Beschaffenheit und Zustände meiner verschiedenen Organe und deren Ursprünge in meiner früheren Geschichte entdeckt und mitzuteilen hat.
Aus Karl Barths Vorwort zum Wiederabdruck der Erstfassung (1919) seines «Römerbriefs».