Roger Mehl über die Sanftmut: „Die Seligpreisungen der Bergpredigt sind trotz verschiedener Charakterisierung der Angeredeten letztlich in allem ein Hymnus auf die Sanftmut – freilich eine triumphale Sanftmut, die mit Nachgiebigkeit und Schwäche nichts zu tun hat: die Sanftmütigen werden das Erdreich besitzen! So eignet auch dem gerechtfertigten Menschen das Merkmal der Sanftmut, freilich nicht mehr als Charaktereigenschaft, sondern als Frucht des Geistes, als eine der neuen Kreatur geschenkten Gabe, die zu betätigen sie sich bemühen soll.“

Sanftmut

Von Roger Mehl

Sanftmut bezeichnet in der Umgangssprache und in der gelebten Sittlichkeit eine Charaktereigenschaft und eine Tugend und bildet den Gegensatz zu Gewalt, Stolz und Selbstbehauptung. In biblischer Terminologie ist griech. praus (sanftmütig) Übersetzungsäquivalent von hebr. ʽanaw und kennzeichnet den Armen als einen, der sich Gott untergeordnet, aber auch von ihm getröstet weiß und dem Mitmenschen ohne Hochmut und Zorn begegnet. Wie es des Königs Amt ist, für die Wahrheit, die Armut (LXX prautês) und das Recht einzutreten (Ps 45, 5), so charakterisiert den Heilskönig von Sach 9, 9 f., daß er sanftmütig und auf einem Esel reitend in Zion einzieht. Gott straft die Hoffärtigen, stößt die Gewaltigen vom Stuhl und erhebt die Niedrigen (tapeinous Lk 1, 51 f.).

Weder im Alten Testament noch im Neuen Testament ist Sanftmut ein Prädikat Gottes; für Güte und Erbarmen Gottes bedient man sich anderer Termini. Wenn in 1Kön 19, 11 ff. die Elemente der Theophanie (Sturm, Beben, Feuer) in einer lautlosen Stille ausklingen, der dann das Wort Gottes an Elia folgt, so zielt das »stille, sanfte Sausen« (Luther) nicht auf eine Charakterisierung Gottes (auch nicht in LXX).

Von den Synoptikern hat nur das Matthäusevangelium den Terminus »sanftmütig«: im Zitat von Sach 9 beim Einzug Jesu (21, 5) und in 11, 29 als Selbstprädikation Jesu: Jesus weiß sich in der Armut und Schwachheit (praus) und in der Niedrigkeit des Herzens (tapeinos tê kardia) ganz auf Gott gewiesen. Unter der Verheißung stehen die Sanftmütigen (Mt 5, 5), weil sie, Gottes gnädigen Willen voll anerkennend, sich aller Eigenmächtigkeit bei der Lebensbewältigung enthalten (vgl. auch Sir 1, 27). Jesus ruft die vom Leben Geschlagenen zu sich und verheißt ein »sanftes (chrêstos), leicht zu tragendes Joch« (Mt 11, 30). Wenn auch gewalthafte Töne in der Predigt des Evangeliums nicht völlig fehlen (Tempelreinigung) und Jesus z. B. mit den Pharisäern hart umgehen konnte, so bildet doch die Sanftmut ein Merkmal seines Reiches. Im Gegensatz zu den Zeloten lehnt Jesus die Gewalt zur Verwirklichung des Reiches Gottes ab (Mt 26, 52). Die Seligpreisungen der Bergpredigt sind trotz verschiedener Charakterisierung der Angeredeten letztlich in allem ein Hymnus auf die Sanftmut – freilich eine triumphale Sanftmut, die mit Nachgiebigkeit und Schwäche nichts zu tun hat: die Sanftmütigen werden das Erdreich besitzen (Mt 5, 5)! So eignet auch dem gerechtfertigten Menschen das Merkmal der Sanftmut, freilich nicht mehr als Charaktereigenschaft, sondern als Frucht des Geistes (Gal 5, 22), als eine der neuen Kreatur geschenkten Gabe, die zu betätigen sie sich bemühen soll (1 Tim 6, 11). Gemäß den sogenannten Haustafeln sind Wohlwollen, Großmut, Geduld, Mäßigkeit nahe mit ihr verwandt (Eph 4, 2; Kol 3, 12 f.; 2 Tim 2, 25; 1 Petr 3, 4). Sanftmut steht nicht nur im Gegensatz zur Gewalt, sondern auch zu Eigendünkel und Selbstsucht. Gerade weil sie nicht zu den Charaktereigenschaften gehört, schließt sie eine gewisse männliche Festigkeit nicht aus (2Tim 3, 22; 1Petr 3, 16), so sehr sie andererseits als Abbild der Geduld Gottes jeder Gewaltsamkeit enträt. In Jak 3, 13 werden »von Sanftmut und Weisheit geprägte Werke« als Zeichen rechter Weisheit und Klugheit im Wandel erwähnt. Während das griechische Denken Weisheit mit Mäßigkeit verband, versteht das Neue Testament Weisheit als die im Wissen um Gottes Langmut gegründete Sanftmut. Die Sanftmut soll nicht nur die zwischenmenschlichen Beziehungen bestimmen, sie ist auch ein Zug geistlichen Wachstums: in Gal 5, 22 stehen als Geistesfrüchte Glaube und Sanftmut nebeneinander, und Jak 1, 21 mahnt zur Annahme des uns eingepflanzten Wortes »in Sanftmut«. Sanftmut besteht als Glaubenshaltung darin, daß wir das Wort in uns wachsen lassen, ohne ihm den Widerstand unseres Eigendünkels entgegenzusetzen. Sie hat darüber hinaus Zeichenwert, indem sie das Kommen des Reiches anzeigt. »Laßt eure Sanftmut (oder: euer Wohlwollen) allen Menschen kundwerden; der Herr ist nahe!« (Phil 4, 5). In dieser nach dem Bilde Jesu in uns gestalteten Sanftmut findet das Band zwischen sittlichem Leben und eschatologischer Erwartung einen hervorragenden Ausdruck.

Lit.: A. V. HARNACK, S., Huld u. Demut in der alten Kirche (Festg. f. J. Kaftan, 1920, 113-129) – A. VÖGTLE, Die Tugend- u. Lasterkataloge im NT, 1936 – C. SPICQ, Bénignité, mansuétude, douceur, clémence (RB 54, 1947, 321-339) – RAC III, 206 ff. (Clementia) – ThW VI, 645 ff. – J. MAIER, Die Texte von Qumran II, 1960, 83 ff.

RGG3, Bd. 5 (1961), Sp. 1363f.

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