Walter Brueggemann über Psalm 23: „Das ‚Ich‘ hier weiß, dass das Leben in jedem Fall von diesem ‚Du‘, das auf jedes Bedürfnis eingeht und es vorwegnimmt, vollständig versorgt und gelöst wird. Das Leben mit JHWH ist ein Leben des Wohlbefindens und der Zufriedenheit.“

Über Psalm 23

Von Walter Brueggemann

Es ist fast anmaßend, diesen Psalm zu kommentieren. Der Einfluss, den er auf die biblische Spiritualität hat, ist tief und echt. Er birgt eine so einfache Aussage, dass er ohne Kommentar sein eigenes Zeugnis ablegen kann. Er ist natürlich ein Psalm der Zuversicht. Mit Hilfe reicher Metaphern erzählt er detailliert von einem Leben, das in vertrauensvoller Empfänglichkeit für die Gaben Gottes gelebt wird. Der Psalm lässt sich in drei Teile gliedern. In den Versen 1-2 und in Vers 6 wird JHWH in der dritten Person angesprochen. In den Versen 3-5 wird JHWH direkt als „Du“ angesprochen. Daher scheint es wahrscheinlich, dass der mittlere Abschnitt unmittelbarer und intensiver mit der Glaubenserfahrung des Sprechers verbunden ist. Er scheint näher an den tatsächlichen Erinnerungen an die Befreiung zu sein, und die beiden Bilder von Tisch und Kelch scheinen eine gewisse Spezifität zu haben. Der Anfang (V. 1-2) und das Ende (V. 6) um die Verse 3-5 sind eher reflektierende und allgemeine Kommentare, die auf dieser Erfahrung der direkten Ansprache beruhen könnten.

Auffallend ist die Verwendung von Namen und Pronomen. Der Name JHWHs wird nur zwei­mal ausgesprochen, am Anfang und am Ende, so dass das Gedicht, wie dieses vertrauensvolle Leben, ganz in der Gegenwart dieses Namens gelebt wird, der die Parameter sowohl für das Leben als auch für die Sprache setzt. Im Zentrum des Psalms steht das magistrale „Du“, das den Psalm zu beherrschen scheint. Es gibt noch andere pronominalen Suffixe, aber dies ist das einzige starke unabhängige Pronomen, das sich auf Gott bezieht. Man sollte nicht zu viel daraus machen, aber ich schlage vor, dass die drei Verwendungen eine Skizze für den Glauben und die Erfahrung des Psalmisten liefern:

JHWH  →  Du  →  JHWH
(V. 1)      (V. 4)      (V. 6)

Das andere, interessanteste grammatikalische Element ist das wiederholte und allgegenwärtige Pronomen in der ersten Person, das überall im Psalm vorkommt. In anderen Kontexten (wie in der Klage in Psalm 77) klingt die wiederholte Bezugnahme auf sich selbst wie eine ungesunde Besessenheit. Aber hier ist das nicht der Fall. Hier sind die „Ich“-Aussagen erfüllt von Dankbarkeit, Hingabe, Vertrauen und Danksagung. Das „Ich“ hier weiß, dass das Leben in jedem Fall von diesem „Du“, das auf jedes Bedürfnis eingeht und es vorwegnimmt, vollständig versorgt und gelöst wird. Das Leben mit JHWH ist ein Leben des Wohlbefindens und der Zufriedenheit.

Der Satz, der unmittelbar auf die anfängliche Erwähnung des Namens JHWHs folgt, ist ebenso abrupt und entscheidend für den Psalm: „Mir fehlt nichts“ (ḥāsēr). Israel weigert sich, die Dinge in geistliche und materielle zu unterteilen. Es bekräftigt, dass JHWH die Befriedigung aller Wünsche und Bedürfnisse ist. Wie in Psalm 73,26 ist JHWH also sein Anteil. Das kann als „geistliche“ Befriedigung aufgefasst werden, als ob die Gemeinschaft mit Gott das Ende aller Bedürfnisse wäre. Der Psalm macht deutlich, dass JHWH die Befriedigung jeder Art von Bedürfnis ist, so dass die Aussage niemals nur religiöse Sehnsucht bedeuten kann. Die Bilder von Becher und Tisch bewahren vor einer Vergeistigung, denn sie beziehen sich auf reale Speisen und Getränke.

Die Befriedigung des Mangels kann in einem israelitischen Kontext gewürdigt werden, wenn der Psalm mit der Bedeutung des Gedächtnisses Israels in Verbindung gebracht wird. In Exodus 16,18 ist es gerade das Manna, das überraschende Brot des Himmels, das den Hunger stillt, so dass niemandem etwas fehlt. Und in Deuteronomium 2,7 wird die gesamte Wüstentradition als eine Geschichte gesehen, in der es keinen Mangel gab, weil Gottes Standhaftigkeit und Güte (vgl. Ps 23,6) angesichts jeder Bedrohung des Lebens als angemessen empfunden wird. Dieser Psalm kann an Situationen der Bedrohung erinnern, aber der Dichter weiß, dass die mächtige Solidarität JHWHs die Bedrohung mehr als aufhebt. Die ganze Erinnerung an Israel drängt den Psalmisten zum Vertrauen.

Der ergreifendste Teil des Psalms scheint in Vers 4 mit der direkten Anrede „Du“ zu liegen. Die Struktur der Sprache erinnert an das Klagelied und das Heilsorakel. Daher schlage ich vor, dass diese Formel am Ende des Gesprächs zwischen Gott und Israel steht, das drei Muster der psalmischen Rede umfasst:

Klage →Erlösungsorakel →Lied der Zuversicht
Ich habe Angst (vgl. Ps 56,3)Fürchte dich nichtIch werde mich nicht fürchten
Warum hast Du verlassenIch bin bei dir (Jes 41,10)Du bist bei mir (Ps 23,4)

Es ist Gottes Begleitung, die jede Situation verwandelt. Das bedeutet nicht, dass es keine tödlichen Täler, keine Feinde gibt. Aber sie sind nicht fähig, uns zu verletzen, und so trösten die mächtige Treue und Solidarität JHWHs gerade in Situationen der Bedrohung. Wie die Behauptung des „Trostes“ das Ende des Exils ist (vgl. Jes 40,1-2), so ist sie hier das Ende der Wildnis. Das Ende der Verlorenheit ist der Zugang zum Tempel, wo das Leben neu geordnet wird. Doch es ist nicht der Ort, sondern die Lebendigkeit der Beziehung, die verwandelt. Der Tempel kommt nur als eine Konsolidierung der Beziehung. Für jemanden, dessen Leben durch eine solche Solidarität verwandelt wurde, ist ein Leben des Lobpreises eine Krone für die Zukunft, ein sicherer Ort, an dem er für jetzt leben kann. Psalm 23 weiß, dass das Böse in der Welt präsent ist, aber man muss es nicht fürchten. Das Vertrauen auf Gott ist die Quelle der Neuorientierung.

Quelle: Walter Brueggemann, The Message of the Psalms, Minneapolis: Augsburg, 1984, S. 154-156.

Hier der Text als pdf.

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