Dietrich Bonhoeffer über den tyrannischen Menschenverächter in seiner Ethik: „Der tyrannische Menschenverächter macht sich in solchem Zeitpunkt das Gemeine des menschlichen Herzens leicht zunutze, indem er es nährt und ihm andere Namen gibt: Angst nennt er Verantwortung, Gier heißt Strebsamkeit, Unselbständigkeit wird zur Solidarität, Brutalität zum Herrentum. So wird im buhlerischen Umgang mit den Schwächen der Menschen das Gemeine immer neu erzeugt und vermehrt. Unter den heiligsten Beteuerungen der Menschenliebe treibt die niedrigste Menschenverachtung ihr finsteres Geschäft. Je gemeiner das Gemeine wird, ein desto willigeres und schmiegsameres Werkzeug ist es in der Hand des Tyrannen.“

Über den tyrannischen Menschenverächter (Ethik)

Von Dietrich Bonhoeffer

Die Botschaft von der Menschwerdung Gottes greift eine Zeit, in der bei den Bösen wie bei den Guten die Menschenverachtung oder Menschenvergötzung letzter Schluß der Weisheit ist, im Zentrum an. Im Sturm enthüllen sich die Schwächen der menschlichen Natur deutlicher als im stillen Fluß ruhiger Zeiten. Angst, Gier, Unselbständigkeit und Brutalität erweisen sich angesichts ungeahnter Bedrohungen und Chancen bei der überwältigenden Mehrzahl als die Triebfedern ihres Handelns. Der tyrannische Menschenverächter macht sich in solchem Zeitpunkt das Gemeine des menschlichen Herzens leicht zunutze, indem er es nährt und ihm andere Namen gibt: Angst nennt er Verantwortung, Gier heißt Strebsamkeit, Unselbständigkeit wird zur Solidarität, Brutalität zum Herrentum. So wird im buhlerischen Umgang mit den Schwächen der Menschen das Gemeine immer neu erzeugt und vermehrt. Unter den heiligsten Beteuerungen der Menschenliebe treibt die niedrigste Menschenverachtung ihr finsteres Geschäft. Je gemeiner das Gemeine wird, ein desto willigeres und schmiegsameres Werkzeug ist es in der Hand des Tyrannen. Die kleine Zahl der Aufrechten wird mit Schmutz beworfen. Ihre Tapferkeit heißt Aufruhr, ihre Zucht Pharisäertum, ihre Selbständigkeit Willkür, ihr Herrentum Hochmut. Dem tyrannischen Menschenverächter gilt Popularität als Zeichen höchster Menschenliebe, sein heimliches, tiefes Mißtrauen gegen alle Menschen versteckt er hinter den gestohlenen Worten wahrer Gemeinschaft. Während er sich vor der Menge als einer der ihren bekennt, rühmt er sich selbst in widerwärtigster Eitelkeit und verachtet das Recht jedes Einzelnen. Er hält die Menschen für dumm und sie werden dumm, er hält sie für schwach und sie werden schwach, er hält sie für verbrecherisch und sie werden verbrecherisch. Sein heiligster Ernst ist frivoles Spiel, seine biedermännisch beteuerte Fürsorglichkeit ist frechster Zynismus. Je mehr er aber in tiefer Menschenverachtung die Gunst der von ihm Verachteten sucht, desto gewisser erweckt er die Vergötterung seiner Person durch die Menge. Menschenverachtung und -vergötzung liegen dicht beieinander. Der Gute aber, der dies alles durchschaut, der sich angeekelt von den Menschen zurückzieht und sie sich selbst überläßt, der lieber für sich selbst seinen Kohl baut als sich im öffentlichen Leben gemein zu machen, erliegt doch derselben Versuchung der Menschenverachtung wie der Böse. Seine Menschenverachtung ist zwar vornehmer, aufrichtiger, aber auch unfruchtbarer, tatenärmer. Vor der Menschwerdung Gottes kann sie ebenso wenig bestehen wie die tyrannische Menschenverachtung. Der Menschenverächter verachtet, was Gott geliebt hat, ja er verachtet die Gestalt des menschgewordenen Gottes selbst.

Es gibt aber auch eine aufrichtig gemeinte Menschenliebe, die der Menschenverachtung gleichkommt. Sie beruht auf der Beurteilung des Menschen nach den in ihm schlummernden Werten, nach seiner tiefsten Gesundheit, Vernünftigkeit, Güte. Meist wird diese Menschenliebe in ruhigen Zeiten wachsen, aber auch in den großen Krisen kann das gelegentliche Aufleuchten dieser Werte zum Grund einer schwer errungenen aufrichtig gemeinten Menschenliebe werden. Mit erzwungener Nachsicht wird das Böse in Gutes umgedeutet, das Gemeine übersehen, das Verwerfliche entschuldigt. Aus mancherlei Gründen scheut man ein klares Nein, bejaht man schließlich alles. Man liebt ein selbstgemachtes Bild des Menschen, das kaum noch eine Ähnlichkeit mit der Wirklichkeit hat und man verachtet damit schließlich doch wieder den wirklichen Menschen, den Gott geliebt und dessen Wesen er angenommen hat.

Quelle: Dietrich Bonhoeffer, Ethik, DBW 6, München: Chr. Kaiser, 1992, S. 72-74.

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