Das christliche Geheimnis und das menschliche Leben
Von Karl Barth
Das Christliche ist ein Geheimnis. Es bildet dem ganzen menschlichen Leben gegenüber einen besonderen Bereich. Wo die natürlichen, aber auch die geistigen, auch die moralischen Wahrheiten ihre Grenze haben, wo alles das, was wir als Theorie und als Praxis kennen, unwirksam wird, da fängt das Christliche an. Es ist der Grund und Inbegriff alles Vernünftigen und ist gerade darum höher als edle Vernunft. Es ist immer und überall verborgen. Es offenbart sich freilich: aber nach dem Evangelium den Unmündigen, während es den klugen und Weisen verborgen bleibt. Und es offenbart sich selbst und nach seinem eigenen Willen. Es kann also von uns nicht erreicht werden; es kann nur uns erreichen. Wir können nichts damit anfangen: es will aber Alles mit uns anfangen. Niemand hat das Christliche und niemand kann es sich nehmen. Es schenkt sich selbst und kann nur im Akte dieser Schenkung uns zuteil werden. Es ist in dem ungewöhnlichen Sinn „selbstverständlich“, daß es nur durch die innere Kraft seines eigenen Lichtes verstanden werden kann. Es kann nicht bewiesen werden; es beweist sich selbst und wird erkannt im Akte dieses seines Selbstbeweises. Es ist ebenso indiskutabel in sich selbst wie anfechtbar in seinem Bekenntnis. Es ist Gnade und Gericht. Es ist tiefster Friede und schärfster Protest. Es ist gar nichts im Verhältnis zu den Mächten und Reichen dieser Welt und es ist es, das als erstes und letztes Wort vor, über und nach ihnen allen ist. Das meine ich, wenn ich heute vom christlichen Geheimnis rede. Nichts ist so sehr Geheimnis wie das Christliche. Das Christliche ist das Geheimnis.
Daran ist nun einmal nichts zu ändern. Man kann dem Christlichen gegenüber gleichgültig sein. Man kann es ablehnen. Man kann es hassen und bekämpfen. Man kann es — und das ist das Schlimmste, was ihm widerfahren kann — vermeintlich annehmen und völlig mißverstehen. Daß man das alles kann, liegt in der Natur der Sache. Es liegt sogar in der Natur der Sache, daß ihm das alles widerfahren muß. Es gehört mit zum Geheimnis des Christlichen, daß es immer eine Ausnahme ist, wenn ihm nicht Gleichgültigkeit und Ablehnung, nicht Haß und Bekämpfung begegnet und wenn es von denen, die es annehmen, nicht mißverstanden wird. Eins aber liegt nicht in der Natur der Sache, sondern beruht auf ganz gewöhnlicher menschlicher Gedankenlosigkeit: dies nämlich, daß man von ihm redet und mit ihm umgeht, als wäre es kein Geheimnis, als wäre es nun doch etwas Allgemeines, auf der Hand ‚Liegendes und Erreichbares: ein Beitrag zur Erziehung und Bildung des Menschen, ein Baustein im Gefüge der Geschichte und der Gesellschaft, ein Stück überkommenen und erworbenen oder selbstgemachten Hausrats gleichsam, ebenso übersichtlich und disponibel wie aller übrige Hausrat. Mag dem Christlichen widerfahren, was da will — ihm ist schon viel widerfahren, und ihm wird noch viel widerfahren — man kann es aber nicht kennen und dann doch so von ihm reden, so mit ihm umgehen. Man kann es nicht kennen und dann immer noch so tun, als wäre daran etwas zu ändern, daß es ein Geheimnis ist. Darin sollten und könnten sich die, die ihm gleichgültig, ablehnend oder feindselig gegenüberstehen, mit denen, die es anders meinen halten zu sollen, einig sein. Denn die Einsicht, daß das Christliche ein Geheimnis ist, ist nicht eine Frage der Stellungnahme — auch nicht eine Frage der Stellungnahme zu den verschiedenen Auffassungen des Christlichen — sondern eine Frage des Wissens, das sich jedermann aus der Bibel oder aus dem ersten besten Katechismus oder Gesangbuch verschaffen könnte. Es gehört zu den Rätseln der Geschichte der modernen Bildung, daß diese nun wirklich auf der Hand liegende Einsicht — mit der ein sinnvolles Gespräch über das Christliche doch erst anfangen könnte, bei der alle Stellungnahme ihm gegenüber einsetzen müßte — sich weithin so seltsam verflüchtigen konnte.
Wenn ich darein erinnere, daß das Christliche ein Geheimnis ist, so denke ich nicht in erster Linie an die sog. Dogmen, wie sie uns in der Kirche von unseren Vätern, von den Reformatoren und von denen, die vor ihnen waren, überliefert sind. Es ist allerdings wahr: in diesen Dogmen spricht eine Kirche, die um das Geheimnis des Christlichen noch wußte, besser als die Mehrzahl der Christen und Nichtchristen unserer Zeit. Und es ist auch wahr: wenn man etwa wieder weiß um das christliche Geheimnis, dann bekommt man eine andere Einstellung zu diesen Dogmen als die, die lange Zeit landläufig, und zwar darum landläufig war, weil man um das christliche Geheimnis nicht mehr wußte. Man wird dann wieder froh über diese Dogmen. Man sieht dann wieder, wie genau sie vom Christlichen — unter der Voraussetzung nämlich, daß es ein Geheimnis ist! — geredet haben und noch reden. Man kann dann nicht mehr gut zugeben, daß man ebensogut auch anders davon reden kann. Man sieht dann wieder, daß sie das Richtige richtig sahen, daß sie notwendig sind. Aber diese Dogmen sind doch unter allen Umständen nur Bekenntnisse des Christlichen und zum Christlichen. Auch die ehrwürdigsten Väter der Kirche haben auf Erden und nicht vom Himmel herunter geredet. Sie haben das Christliche nur bezeugt. Aber eben: sie haben es bezeugt unter der allein sachgemäßen Voraussetzung, daß es ein Geheimnis ist. Und so kann auch die allfällige Diskussion über ihr Zeugnis, über die Dogmen also, sinnvoll erst da anfangen, wo man jedenfalls in dieser Voraussetzung mit ihnen und unter sich einig ist. Lassen wir für diesmal die Dogmen und richten wir unsere Aufmerksamkeit auf diese ihre Voraussetzung, ohne die über sie doch nicht zu reden ist.
Der Umkreis dessen, was ich am Anfang als das Geheimnis des Christlichen bezeichnet habe, ist freilich zu groß, als daß wir ihn in einer kurzen Stunde auch nur vollständig umschreiten könnten. Ich begnüge mich, auf ein paar Punkte hinzuweisen, wo die Sache sichtbar wird.
Wir stellen zunächst fest, daß das Christliche, der christliche Glaube und das christliche Leben, in bestimmter Weise gebunden sind an den Namen Jesus. Und, weil dieser Jesus der erwartete und erschienene Messias Israels ist, gebunden an die Geschichte dieses Volkes Israel. Und, weil er in diesem seinem Zusammenhang mit diesem Volk der Gegenstand des Zeugnisses des Alten und des Neuen Testamentes ist, gebunden an diese doppelte Heilige Schrift. Und, weil das Zeugnis der Heiligen Schrift den Grund und das Leben der Kirche ausmacht, gebunden an die Kirche Jesu, in welcher das Volk weiter lebt, das ihn als den verheißenen und gekommenen Christus, als den Sohn des lebendigen Gottes kennt und also als seinen König ehrt. Es gibt viel Wahres, Schönes und Gutes außer Jesus, außer Israel, außer der Bibel, außer der Kirche. Das Christliche aber ist das Besondere, das in dieser Bindung entstanden ist und das nur in dieser Bindung existiert. Man kann das Christliche annehmen oder ablehnen, man kann aber nicht gut bestreiten, daß es ohne diese vierfache Bindung nicht das Christliche ist. Das ist kein Dogma. Das ist ein Sachverhalt, der allen Dogmen vorangeht. Die Dogmen haben nur diesen Sachverhalt feststellen und beschreiben können. Eben in dieser Bindung ist das Christliche aber ein Geheimnis. Warum gerade Jesus? Warum gerade Israel? Warum gerade die Bibel? Warum gerade die Kirche? Warum unter so vielen Möglichkeiten gerade diese? Es gibt keine allgemeine Wahrheit logischer und erfahrungsmäßiger oder moralischer Natur, aus der sich die Antwort auf solche Fragen ableiten ließe. Das Christliche fängt an und geht weiter und kommt zum Ziel in dieser Besonderheit und also in dieser Bindung. In dieser Besonderheit will es erkannt sein. Und eben in dieser Besonderheit ist es offenbar Geheimnis.
Ich nenne ein Zweites: Das Christliche ist entscheidend eine Sache, die uns zukommt. Christlich ausgedrückt: Es ist Gnade, nichts als Gnade, ganz Gnade. Also nicht eine Sache, die wir jemals schon haben oder jemals selbst auf den Plan stellen können. Es ist, wie die Bibel das beschreibt, „von oben“ und nicht „von unten“ und zwar ganz von oben und gar nicht von unten. Man muß Begriffe wie die Offenbarung, Erlösung, Geist, Rechtfertigung, Wiedergeburt, Heiligung, man muß auch den umfassenden Begriff der Gnade selbst, aber auch den des Glaubens schon merkwürdig anders auslegen, als sie in der Bibel gebraucht werden, wenn man hier etwas anderes sagen will. Es kommt uns die eigentümliche Erkenntnis des Christlichen zu aus ihrem Gegenstand und gar nicht aus unserem Erkenntnisvermögen oder aus dem Gebrauch, den wir von diesem machen können. Es kommt uns die eigentümliche Gabe des Christlichen zu als ein anderes aus einer Quelle die außer uns liegt und gar nicht aus unserer Eignung und Würdigkeit, gar nicht aus unseren Leistungen und Werken. Es kommt uns wohl wirklich zu, es kann und soll wohl wirklich von uns ergriffen werden. Aber immer ist und bleibt es dieses Andere und immer wird auch unser Ergreifen, wenn es wirklich wird, darin bestehen, daß wir anerkennen: dieses Andere ist zu uns gekommen; nie werden wir unser Ergreifen auf unser Vermögen zurückführen und als unsere Leistung rühmen können; immer werden wir auch unser Ergreifen selbst dankbar auf das uns zukommende Andere zurückführen müssen. Viel Vortreffliches kann und soll der Mensch selber und von sich aus schaffen, leisten und vollbringen. Das Christliche aber kommt ihm zu, nicht nur halb sondern ganz; im Christlichen kann er in keinem Sinn Herr und Meister sein, im Christlichen können wir nur Kinder sein. Wir haben alle Freiheit uns vor dieser Eigenart des Christlichen zu behüten. Wir können aber nicht wohl die Freiheit beanspruchen, dem Christlichen diese Eigenart abzusprechen. Auch daß es diese Eigenart hat, ist kein Dogma. Auch das konnte durch das Dogma nur bestätigt werden und es war bekanntlich besonders das Dogma der Reformation, die wir heute feiern, das gerade diese Eigenart des Christlichen sehr genau, aufregend genau sogar bestätigt hat. Auch sie ist doch ein Sachverhalt, der allem Dogma vorangeht. In dieser Eigenart will das Christliche bejaht oder abgelehnt, aber auf alle Fälle erkannt werden. Und auch in ihr ist das Christliche offenbar Geheimnis.
Ich nenne ein Drittes: Das Christliche verbindet uns unter allen Umständen mit der Sache, mit dem Leiden und mit der Hoffnung aller derer, die in irgend einem Sinn auf der Schattenseite des Lebens stehen, mit der Sache aller Betrübten und Notleidenden, mit der Sache derer, denen Unrecht getan wird, aber auch derer, die irren und selber Unrecht tun. Das geht bekanntlich so weit, daß wir im Evangelium geheißen werden, unsere Feinde zu lieben. Nicht darum, weil es schön ist, sogar unsere Feinde zu lieben, sondern darum, weil unsere Feinde als solche offenbar selber schlimm dran sind, (viel schlimmer als wir selbst wegen ihrer Feindschaft!) und es also nötig haben, geliebt zu werden. Eben mit denen, die es nötig und am nötigsten haben, verbindet uns das Christliche. Es kann nicht anders sein, als daß es aus dem Christlichen heraus zu einem einzigen großen Schrei nach Hilfe und Recht kommt. Daß es so ist, das hängt mit jener Bindung des Christlichen gerade an Jesus aufs Engste zusammen: er ist der, der sich entäußerte und erniedrigte, der arm wurde um unseretwillen; wir würden nicht zu ihm gehören, wenn wir nicht in jedem Sinn in der Sache der Armen unsere eigene Sache sehen würden. Es hängt auch damit zusammen, daß uns das Christliche in der beschriebenen Weise ganz und gar aus Gnade zukommt. Wer das weiß, daß ihm alles nur zugekommen ist und zukommen kann, der muß sich wohl ganz und gar zu denen bekennen, die auf der Schattenseite stehen, der muß in ihnen seine Brüder und in ihnen als seinen Brüdern seinen Herrn selber sehen. Man kann das alles gewiß mit guten Gründen auch anders halten als so: weniger einseitig, etwas kritischer, vielleicht auch etwas bürgerlicher. Es ist bekannt, daß Nietzsche gerade an dieser Seite des Christlichen keine große Freude hatte und was er in dieser Hinsicht gesagt hat, das ist ihm in unseren Tagen mit neuer Wucht nachgesagt worden. Mag man denn! Man sollte nur nicht sagen, daß man es vom Christlichen aus anders als so halten kann. Warum gerade so? Möchten wir wohl alle fragen. Und die Antwort kann nur die sein, daß es vom. Christlichen her bestimmt so sein muß. Nicht weil ein Dogma es so sagt. Gerade in dieser Sache gibt es übrigens nicht einmal ein Dogma. Aber es ist nun einmal so, daß alles, was im Neuen Testament vom Christen gefordert ist, in dieser sehr konkreten, sehr, praktisch gemeinten Forderung der Demut zusammenzulaufen und zu kulminieren scheint. Es geht auch hier um einen Sachverhalt, der uns als solcher sympathisch oder unsympathisch sein kann, der aber auf alle Fälle als solcher respektiert werden will. Und so ist das Christliche wohl auch von dieser Seite gesehen Geheimnis.
Ich nenne noch ein Viertes: Das Christliche bedeutet im Leben der christlichen Kirche und der christlichen Menschen, daß sie von einer Entscheidung herkommen, die über sie gefallen ist, die sie also von sich aus nicht zugunsten einer anderen Entscheidung oder zugunsten einer Rückkehr in die Neutralität rückgängig machen können. Sie können über vieles mit sich reden lassen, aber nicht über den Ursprung, nicht über die Richtung, nicht über das Ziel ihres Lebens, Denkens und Redens. Das Christliche verschafft sich Glauben und Gehorsam. Es ist Bestimmung des Ursprungs und Zieles und es ist Ordnung des Weges, der zwischen beiden liegt für die, bei denen es sich Glauben und Gehorsam verschafft hat. Indem das geschieht, fällt im Leben der Kirche und der christlichen Menschen eine Entscheidung, die darum von einer erstaunlichen Gewißheit erfüllt ist, weil sie auf eine als solche nicht anzufechtende Vorentscheidung, auf eine Vorherbestimmung, auf eine Prädestination zurückblickt. Man wird andere und vor allem sich selbst immer fragen können und müssen, ob und wie weit denn dem Christlichen in der Kirche und von den christlichen Menschen tatsächlich geglaubt und gehorcht wird. Die bestimmende und ordnende Macht des Christlichen wird lange nicht immer und sie wird wohl immer nur in sehr anfechtbarer Weise sichtbar sein. Man soll sich aber nicht wundem, wenn sie da, wo es in irgend einem Maß Glauben und Gehorsam findet, sichtbar wird in Gestalt von Sätzen, die in ihrer ganzen anfechtbaren Menschlichkeit nun doch so gesprochen werden, daß sie eine weitere Diskussion ausschließen und in Gestalt von Verhaltungsweisen, die zu verraten scheinen: es steht nicht zu erwarten, daß sie in einem Kompromiß endigen werden. Das ist dann nicht immer ein schon auf den ersten Blick lieblicher und erbaulicher Anblick. Da mag dann die Klage oder der Spott über Absolutheitsanspruch und Unduldsamkeit sehr begreiflicherweise einsetzen. Es scheint schwer oder unmöglich und jedenfalls unfein und unmenschlich zu sein, daß Menschen den Anspruch erheben, ihrer Sache einfach gewiß zu sein. Man soll sich aber bei allem, was hier zu fragen und einzuwenden ist, nur darüber nicht täuschen, daß das Christliche diese Art nun einmal hat, daß es eine Kirche schafft, die ihrer Sache tatsächlich gewiß ist und in dieser Kirche Menschen, von denen dasselbe gilt: Menschen, die in Sachen ihres Glaubens und Gehorsams nicht die Wahl und die auch nachher nicht die Zeit haben, auf diese ihre Entscheidung als wäre sie ihre Wahl gewesen zurückzukommen. Wieder können wir hier an die Reformatoren denken: Es war das Geheimnis ihres Werks und ihrer Lehre, daß sie nicht so oder auch anders konnten und daß sie die Kirche und in der Kirche die Menschen anleiten wollten zu der Erkenntnis der Instanz, der gegenüber wir alle nicht so oder auch anders können. Aber nicht weil das reformatorische Dogma es so sagt, ist es so. Sondern wieder stehen wir hier vor dem inneren Sachverhalt des Christlichen. Es hat den Charakter des Zwingenden und der Gewißheit. Das reformatorische Dogma hat das nicht erfinden, es hat es nur bezeugen können. Aber es ist offenbar das Geheimnis des Christlichen, daß es diesen Charakter hat
Nur eines von dem Vielen, was hier weiter zu nennen wäre, soll jetzt noch genannt sein, das uns dann zugleich zu der anderen Seite unseres heutigen; Themas hinüberfühlt: Es ist nun doch nicht so, als ob das Christliche seinen Ort nur im Himmel oder in einer noch höheren von der unseren verschiedenen Welt hätte. Es hat ihn freilich auch dort und zuerst dort. Es wohnt, wie die Schrift sagt, ursprünglich im Schoß oder zur Rechten Gottes. Es ist aber so, daß es auch hineingekommen ist in dieses unser menschliches Leben, in die Geschichte der Völker, Staaten und Kulturen, in die uns alle tragende und auch belastende Geschichte des menschlichen Geistes und Schicksals, in die Geschichte unzähliger Einzelner, zu denen so oder so wir alle gehören, in die Geschichte unseres Hoffens und Fragens, Wissens und Wollens, Leidens und Schaffens. Irgendwo in dieser unserer Welt ist auch das christliche Geheimnis. Das menschliche Leben wäre nicht, was es ist, ohne das christliche Geheimnis.
Man muß freilich schon sagen: es ist da hineingekommen. Als ein Fremdes, Anderes, Neues — eben als Geheimnis — steht es im menschlichen Leben. Damit verrät es deutlich genug, daß es ihm gegenüber seinen eigenen Ursprung hat, von dem her es zu uns gekommen ist. Auch das tiefste Verständnis des menschlichen Lebens als solches führt uns ja nicht eben darauf, daß uns das Christliche das Natürliche wäre und ein oberflächliches Verständnis noch viel weniger. Tiefes und oberflächliches Verständnis des menschlichen Lebens treffen vielmehr darin zusammen, daß uns beide geradezu. auf einen dem Menschen natürlichen Widerspruch gegen das Christliche aufmerksam machen. Und eben diesen Widerspruch kannte man merkwürdigerweise immer gerade da am besten —; ernstlich und gründlich hat man sich sogar immer pur dazu bekannt — wo man ihm zum Trotz das Christliche nun dennoch bejahen, anerkennen und ergreifen mußte. Es ist kein Zufall, daß die offene und konsequente Feststellung dieses natürlichen Widerspruches gegen das Christliche zum eisernen Bestand der Lehre unserer Reformation gehörte. Und es ist wiederum kein Zufall, daß Leute wie Erasmus, die der Meinung waren, daß es mit diesem Widerspruch so viel nicht auf sich habe, nun eben keine Reformatoren geworden sind. Gerade da, wo man das Christliche ergreift mit jener Kraft, mit der es von denen ergriffen wurde, denen wir die Erneuerung der Kirche vor vierhundert Jahren zu verdanken haben, gerade da kann es jedenfalls nicht als ein natürlich aus dem menschlichen Leben Herausgekommenes, sondern nur als ein in dieses Leben Hineingekommenes verstanden werden.
Aber wie dem auch sei: es ist da. Es. ist nicht nur da, wo Gott ist. sondern es ist auch da, wo wir Menschen sind: als Frage, als Angebot, als Lehre, als Mahnung, — ein Zeichen, das aus dem menschlichen Leben nicht wegzudenken ist. Es steht ihm als ein Bereich für sich gegenüber, haben wir eingangs gesagt. Aber eben damit ist auch gesagt: es ist mit ihm im gleichen Raum, es begegnet ihm. In das menschliche Leben hinein ruft und wirkt das Christliche. Es hat, seit es auf dem Plan ist, nicht aufgehört zu rufen und zu wirken, dabei zu sein und seine bestimmte Funktion auszuüben in allem großen und kleinen menschlichen Geschehen. Verstehen wir uns recht: es ereignete sich das wohl fast immer nur gewißermaßen vom äußersten Rande des menschlichen Lebens her — von einem Rande her, der auch in den kirchenfreudigsten Zeiten und Verhältnissen, der auch etwa im christlichen Genf Calvins bei Lichte besehen ein sehr schmaler Rand gewesen ist. Wie sollte das christliche Geheimnis schon Breite gewinnen können im menschlichen Leben? Der Glaube ist nicht jedermanns Ding und es bleibt dabei, daß viele berufen, wenige aber auserwählt sind. Es war wohl auch fast immer so, daß das Christliche sich nur in vielfacher Verdünnung und Abschwächung, in mannigfachsten Verkehrungen und Entstellungen geltend gemacht hat: so im Lauf der Kirchen- und Weltgeschichte, so auch in den Lebensläufen derer, die sich Christen nannten und mit irgendeinem Recht so nennen durften. Wo das Christliche geradezu stattlich wird im menschlichen Leben, da besteht viel Anlaß zu fragen: ob da nicht in Wirklichkeit irgend etwas ganz anderes sehr viel stattlicher geworden sein möchte als gerade das Christliche? Und ich brauche nicht zu sagen, wie oft die angebliche Vertretung des Christlichen dieses in Wirklichkeit unbewußt oder auch bewußt verleugnet und zuschanden gemacht hat. Es waren wieder die Reformatoren, die gerade davon sehr viel zu sehen und zu wissen meinten. So konnte das Christliche schon oft und mit dem Schein von viel Recht totgesagt werden. Aber nun ist es merkwürdig genug, daß es immer noch und immer wieder da ist. Ich meine jetzt nicht irgendwelche gute oder schlechte Vertretung des Christlichen, auch nicht irgendwelche Bedürfnisse danach, auch nicht irgendwelche wirklichen oder eingebildeten Erfolge des Christlichen. Ich meine jetzt schlicht die Sache, das Christliche selbst als Frage, Angebot, Lehre und Mahnung, als Zeichen am Rande — sei es denn am Rande — des menschlichen Lebens. Der natürliche Widerspruch dagegen, der doch in der Tiefe wie auf der Oberfläche des menschlichen Lebens kräftig genug wirksam und bemerkbar ist, hat es noch nie zu beseitigen, noch nie auszulöschen vermocht. Die zahllosen Unglücksfälle der christlichen Kirchengeschichte haben das auch nicht vermocht. Und gerade sein eigener Charakter als Geheimnis hat auch nicht dazu geführt, daß es von einer des Geheimnisses müde gewordenen Menschheit schließlich übersehen und vergessen werden konnte. Im Gegenteil: gerade in diesem Charakter ist es dem menschlichen Leben immer wieder unübersehbar gegenüber getreten.
Und nun haben wir das Eigentliche noch nicht gesagt: Wie es auch vom menschlichen Leben her gesehen mit dem Christlichen stehen möge, sicher ist dies, daß es selber, das Christliche, das menschliche Leben von Haus aus in sich hat, daß es in sich selber, so wie es aus dem Schoße Gottes zu uns, in unsere Welt gekommen ist, was auch hier aus ihm werden möge, eben das menschliche Leben anschaut und meint, sucht und schon umfaßt, daß es in sich selber nichts anderes als das Geheimnis eben des menschlichen Lebens ist. Das Geheimnis des Namens Jesus, an den das Christliche gebunden ist, besteht darin, daß Gott nicht nur wahrer Gott sein, daß er auch wahrer Mensch werden wollte und geworden ist. Darauf zielte die Geschichte des Volkes Israel. Davon zeugt die Bibel. Das zu hören und das zu verkündigen, ist der Sinn der Kirche. Der Inhalt dieser ganzen Besonderheit des Christlichen ist dies: daß Gott nicht ohne den Menschen sein will, daß Gott die Welt geliebt und nun eben so geliebt hat. Das Geheimnis der Gnade, die im Christlichen der Anfang und das Ende aller Dinge ist, besteht darin, daß Gott, indem er die Welt liebte, indem er selbst wahrer Mensch wurde, ganz für uns Menschen, für jede große Not und für jeden kleinen Kummer unseres Lebens eingetreten ist und unsere Sache zu der seinigen gemacht hat. Es ist vollbracht. Wir haben von ihm alles zu erwarten. Eben darum können wir alles nur von ihm erwarten. Das Geheimnis der Demut, die Tatsache, daß das Christliche uns dazu nötigt, unter allen Umständen die Partei der Armen zu ergreifen, besteht darin, daß die Sache des Menschen im Großen und im Kleinen dann gut aufgehoben ist, wenn er sich die Sache derer zu eigen macht, die sich selber nicht helfen können. Damit tritt er nämlich selber auf die rechte Seite: dorthin, wo man von der Gnade lebt und also alles von dem erwartet, von dem alles zu erwarten ist. Das Geheimnis der Gewißheit, die da unvermeidlich ist, wo das Christliche Glauben und Gehorsam findet, besteht darin, daß dem Menschen der Stolz aber auch die Qual alles Wählens genommen ist, wenn er sich daran hält, daß Gott sich seiner wirklich angenommen hat. Sofern er sich daran hält, kann er nicht mehr so oder auch anders, kann er nicht mehr neutral, kann er nicht mehr ungewiß sein. — So zielt das christliche Geheimnis auf das menschliche Leben. Das ist, was wahr und wirklich ist hinter und über und in dem ganzen Vorgang, den wir das menschliche Leben nennen, das uns oft so verworren ansieht, das wir oft so pessimistisch und oft auch wieder so optimistisch beurteilen, das menschliche Leben in dem großen — sollen wir sagen lichten oder finsteren — Zusammenhang, in welchem unser eigenes Leben zwischen Geburt und Tod nur ein kleinstes Teilchen zu sein scheint und dessen ganze Größe und ganzer Jammer doch so oder so auch in diesem unseren kleinsten Teilchen, ob wir es wissen oder nicht, vollständig genug Ereignis sind. Das ist wahr und wirklich hinter und über und in dem menschlichen Leben: Gott selbst ward Mensch, Er allein hat alles gut gemacht. So dürfen wir uns zu den Armen stellen und selber Arme sein, denen durch ihn geholfen ist. So dürfen wir uns für ihn entscheiden, nachdem er über uns und für uns entschieden hat.
Wir haben nur ein paar der Gestalten genannt, in denen es sichtbar wird, daß das Christliche Geheimnis ist. Das Geheimnis besteht aber in allen seinen Gestalten in dem und nur in dem, was als wahr und wirklich das Geheimnis und zwar das frohe und tröstliche Geheimnis dies menschlichen Lebens ist: Gott ist für uns; so dürfen wir für ihn sein und in diesem Dürfen gesegnete Menschen sein, Menschen, die eine Hoffnung haben. Darin besteht das christliche Geheimnis in allen seinen Gestalten.
Ein Geheimnis will entdeckt sein. Das ist es, was das christliche Geheimnis, mit allen anderen Geheimnissen gemein hat. Aber von keinem anderen Geheimnis kann man zuversichtlich sagen, daß es das Geheimnis des menschlichen Lebens ist. Und wenn auch das christliche Geheimnis entdeckt sein will, so ist es doch so, daß bei dieser Entdeckung kein Mensch für den anderen eintreten kann. Wie sollte er, da er doch in dieser Sache nicht einmal für sich selbst eintreten kann, da es doch zweifellos darum geht, daß das christliche Geheimnis als Geheimnis des menschlichen Lebens uns entdecke? Wie sollte da ein Bruder den anderen lehren und sagen: Erkenne den Herrn! Denn wer wollte hier von sich selbst etwas anders wissen und sagen als dies, daß er das Christliche als Zeichen dem menschlichen Leben gegenüber, ihm unveräußerlich zugeordnet, so oder so kennt und daß es ihn als solches, als die Verheißung, unter die das menschliche Leben gestellt ist, nicht mehr losläßt. Alle, die es je gewagt haben, zu bekennen: Ich glaube! haben es so und nur so gemeint. Wohl uns, wenn wir es in dieser Meinung sagen können! Wenn wir’s können, dann wollen wir einander das sagen. Es ist eine freudige und mächtige Sache, einander das sagen zu dürfen. Alles andere, jedes Wort, mit welchem hier einer für den anderen Entdecker sein wollte, wäre zu viel und damit sofort zu wenig. Die Entdeckung des Menschen durch das christliche Geheimnis ist das Wunder des Heiligen Geistes, das noch in keinem Vortrag und auch in keiner Predigt und auch in keinem noch so wohlgemeinten Bekenntnis eines noch so wohlmeinenden Herzens ausgesprochen worden ist. Was man hier wissen und bereden zu können meint, ist sicher nicht das Wunder des Heiligen Geistes, und also nicht die Entdeckung, daß das christliche Geheimnis das Geheimnis des menschlichen Lebens ist.
Es liegt alles daran, daß das christliche Geheimnis uns Geheimnis bleibt. Tut es das nicht, dann ist es sicher noch oder nicht mehr erkannt und kräftig als das Geheimnis unseres wirklichen menschlichen Lebens. Tut es das, dann ist jedenfalls die Tür offen, die hier offen bleiben muß. Und darum möchte ich jetzt mit einer schlichten Bitte schließen, mit der ich auf das zurückkomme, was ich am Anfang über die große in dieser Sache herrschenden Gedankenlosigkeit gesagt habe. Man hat dem christlichen Geheimnis und damit dem menschlichen Leben und damit sich selbst viel zuleide getan damit, daß man es seines Charakters als Geheimnis gewissermaßen gewaltsam entkleiden wollte. Es sollte durchaus nicht mehr jenes Besondere des Namens Jesus Christus, des Volkes Israel, der Bibel, und der Kirche, es sollte durchaus nicht mehr Gnade, durchaus nicht mehr Demut und vor allem auch: durchaus nicht mehr Entscheidung sein. Man stellte allerlei Hübsches, was kein Geheimnis ist, allerlei einleuchtende Theorie und Praxis an seine Stelle: allerlei Allgemeines, was man sich selber nehmen oder womöglich schon haben kann, womit man nicht auf die Schattenseite des Lebens verwiesen ist und mit dem man auch neutral bleiben kann — allerlei, wozu es keinen Gott braucht oder eben nur eine Idee, die diese Namen trägt, keinen lebendigen Gott. Man tat das in guter Meinung: man wollte das Christliche sich selbst und anderen, man wollte es dem menschlichen Leben näher bringen. Aber als es nicht mehr Geheimnis war, da war es auch nicht mehr das Christliche und da konnte es auch nicht mehr das Geheimnis des menschlichen Lebens sein. Mit darum, weil man mit dem Christlichen so umging, ist das menschliche Leben weithin ein „Leben ohne Geheimnis“ geworden. Ein Leben ohne Geheimnis ist aber ein schlechthin trostloses Leben. So geht meine Bitte, die ich zuerst an mich selbst, die ich aber auch an uns alle richte, einfach dahin: wir wollen erwachen aus jener Gedankenlosigkeit. Wir wollen die Finger lassen von jedem Versuch, das christliche Geheimnis loszuwerden, Wasser oder auch Limonade in diesen Wein zu schütten. Sogar die, die sich für Gegner des Christentums oder für Gleichgültige ihm gegenüber halten, können sich hier verdient machen, indem sie, welches auch ihre Stellungnahme im übrigen sei, wenigstens zu dieser Abstinenz sich entschließen. Die Bitte richtet sich aber dringend vor allem an die Gutmeinenden, die dem Christlichen zu dienen meinen, indem sie es billig haben wollen und billig machen. Wir wollen uns alle gesagt sein lassen, daß das Christliche überhaupt nicht zu kaufen ist, sondern umsonst zu haben für jedermann, daß es aber nur dann das Christliche und dann auch menschlich lebendig ist, wenn es uns das Geheimnis bleibt, das es ist. Es kommt alles darauf an, daß das Zeichen am Rande des menschlichen Lebens nicht nur erhalten bleibe — dafür ist gesorgt, das werden wir mit allen Künsten nicht verhindern können — daß es aber auch sichtbar bleibe und also von unserer Seite her nicht vernebelt werde. Die Vernebelung entsteht hier aber merkwürdigerweise immer dadurch, daß wir allzu lichtfreundlich damit umgehen wollen. Wenn wir allerseits die Freundlichkeit haben, es unter keinem Vorwand vernebeln zu wollen, dann ist auch dafür gesorgt, daß das Zeichen, dessen wir heute in Erinnerung an die Reformation besonders dankbar gedenken, nicht umsonst, sondern wirklich als Verheißung am Rande unseres menschlichen Lebens steht.
(November 1939)
Quelle: Junge Kirche 17, Heft 9/10, Mai 1956, S. 204-211.