Johannes Harder über Nicolaj Berdjájev (1874-1948): „Berdjájev behält Hoffnung in seiner Erwartung einer religiösen Wie­dergeburt, einer Offenbarung des Heiligen Geistes, die eine neue Gesell­schaftsordnung und eine universelle Kultur jenseits des Dualismus zwischen Religion und Leben bringen wird. Der kommende Äon einer Gottmenschheit wird den Akzent von Gott auf den Menschen übergehen sehen.“

Nicolaj Berdjájev

Von Johannes Harder

Nicolaj Aleksandrovic Berdjájev, geboren am 6. (19.) März 1874 im Gouverne­ment Kiew. Offiziersadel. Nach Besuch des Kadettenkorps Studium in Kiew und Heidelberg (Windel­band), sozialphilosophische Publikationen seit 1899, Mit­arbeiter und Herausgeber versch. religionsphilosophischer Zeitschriften, 1900—03 Verbannung in Vologda, 1919 Gründung der „Freien Akademie für geistige Kul­tur“ in Moskau, 1920 Professur an der dortigen Universität, 1922 Ausweisung aus der Sowjetunion, 1923 Gründung der „Religionsphilosophischen Akademie“ in Berlin, seit 1925 in Paris, 1947 theologischer Ehrendoktor von Cambridge. Gestorben am 23. März 1948 in Clamart s/Seine.

Hauptschriften: F. A. Lange i kritičeskaja filosofija in „Mir Božij“ (= Gottes Welt; Jg. IX, 7 1900); Filosovskaja istina i intelligentskaja pravda (= „Diephil. und die intelligenzlerische Wahrheit“) in „Vechi“ (= Wegzeichen; 1909); Der Sinn des Schaffens (1915; deutsch: 1927); Die Weltanschauung Dostojewskijs (1925); Die Philosophie des freien Geistes (1930); Von des Menschen Knecht­schaft und Freiheit (1940, deutsch: 1954); Selbsterkenntnis (1953).

Der Versuch einer gestrafften Darstellung „theologischer Tendenzen“ bei Berdjájev stößt hart an die Grenze des Begreifbaren und Kürzbaren. Das liegt sowohl an seiner ungewöhnlichen Glaubens- und Denkart wie an seiner persönlichen Typik in Aussage und Diktion, durch die — nach sei­nen eigenen Worten — so vieles mißverständlich ausfallen und unaus­gesprochen bleiben mußte. Sein Denkwerk enthält eine kaum überschau­bare Fülle philosophischer und theologischer Motive aus dem Osten wie aus dem Westen. Er nimmt ihre Sachverhalte in seine Denkentwicklung — meist und zunächst partiell — auf, um sie dann eigenwillig und kritisch zu verarbeiten, ohne den Problemzusammenhang in ein logisches System zu bringen. Dieses Für-Wider-Symposion kritizistischer (Kant) wie sozial- und personalökonomischer Weltphilosophie, genauer aus: Platonismus, Hegelianismus, Marxismus und Aristokratismus und schließlich aus Ele­menten ostkirchlicher, protestantischer wie katholischer Theologie und Mystik, läuft am Ende in die Theo- und Anthropognosis aus. Doch kann selbst diese nicht verhindern, daß der „aggressive Romantiker“, Nonkon­formist und Dissenter Berdjájev, der von einer „Bekehrung zur Suche nach der Wahrheit“ fortgesetzt gequält wird, immer wieder — ohne seine Denk­konzeption aufzugeben — in aphoristische Verkürzungen, unausgereifte Spekulationen und gar Widersprüche sich verstrickt. Man wird schwerlich einen neuzeitlichen Denker finden, der sich wie Berdjájev einem geradezu leidenschaftlichen Subjektivismus hingegeben und eine so „persönliche“ Philosophie hinterlassen hat. In seinem Bestreben, getreu der russischen Theognostik, Glauben und Wissen zu vereinigen, wird Berdjájev zu einem von apokalyptischen Gewalten überschatteten Existenzialontologen eige­ner Art. Aus solchem Holze geschnitzt, läßt er keinerlei Ablösung des Denkenden vom Gedachten zu und scheut sich nicht, seine Zuflucht ge­legentlich zur Ekstase und zu messianischer Prophetie zu nehmen.

Um die Jahrhundertwende begann Berdjájev als marxistischer Humanist, der zunächst nach einer philosophischen Vermittlung zwischen Materialis­mus und Idealismus suchte. Im Übergang von beiden Denkrichtungen zur Transzendentalphilosophie kam Berdjájev zum metakritischen Denken, durch das sich ihm — immer der philosophischen Anthropologie zuge­wandt — das Problem einer Korrelation von Individualität und Sozialität eröffnen und lösen sollte. Diese Problematik, personalkritisch ausgelotet, bringt ihn zu ethischen Fragen. Hier geht es ihm um den handelnden Men­schen, um den Menschen als „Symbol der Gottheit“, durch das er symbo­lisch tätig ist. Doch ist ihm der Mensch mehr als nur „Symbol der Gott­heit“ als Teilnehmer am „göttlichen Schöpfertum“, sondern auch ein „Gottes Anderer“, der von Ewigkeit zu Ewigkeit geborener Mensch ist. Als „Mythos des Menschen“ ist die Offenbarung Gottes daher einmal Theosophie als Anthropogonie in einer „Bewegung zu … dem, was Über- Leben, Über-Natur, Über-Sein, Über-Gottheit ist“ und zum anderen eine „theo-andrische Ethik“, die in einer „theo-andrischen“ Geschichte „die Epochen des anthro­pogonischcn Prozesses, auch die inneren Momente im göttlichen Leben“ bezeichnet. Die historische Speerspitze dieses Zusam­menhangs vermittelt Berdjájev den tragischen Widerspruch zwischen ideal­ethischer Persönlichkeit und empirisch-wertneutraler Individualität. Nach Irrungen und Wirrungen endet Berdjájev schließlich bei einem personalen Sozialismus und Spiritualismus. In seinem unausgesetzten Hunger nach Unsterblichkeit, grenzenloser Personhaftigkeit und Universalität verwan­delt sich für ihn letztlich das individuelle in ein soziales und personales Problem.

Dieser Denkzusammenhang, von Zwiespalt und innerer Einheit bestimmt, durchzieht sein ganzes Werk: erlitten zwischen Bewegung und Ruhe, Frei­heit und Determinismus, Geist und Natur, Ich und Allgemeinem, Reich des Cäsar und Reich Gottes. So bewegt sich der große Gang seines Den­kens nicht nur zwischen immer neuen Wendungen und Wandlungen, sondern auch im Gleichmaß großer Traditionen und ethischer Weisun­gen. Die Unruhe seines äußeren Schicksals verleiht ihm eine dynamische Natur, das Wissen um Maß und Gesetz der geistigen Erbschaft des Abendlandes aber gibt ihm Einheit und inneren Halt. Die so in ihm an­gelegte Bescheidung läßt ihn seine wichtigsten Bücher „Versuche“ nennen. Der Grundzug seiner Schriften ist von einer ebenso chaotisch gärenden Ungewißheit wie von Tradition und Zu­kunftswillen bestimmt. Der Sinn im Widersinn seines Schicksals trägt letztlich die Aura einer ekstatisch dunklen und vielleicht nur von Russen im Tiefgrund ahnbaren End­erwartung.

Damit klingen alle Grundmotive in Berdjájevs Denken und Glauben an. Mit ihrer Entfaltung wird seine Religionsphilosophie an vier zentralen Prinzipien deutlich: an der Personalität, an der Freiheit, am Schöpfertum und an der Objektivation.

Die bisher bedachte Individualität des Menschen entwickelt Berdjájev zum Begriff der Perso­nalität als einer besonderen Spezies der Anthropolo­gie. Persönlichkeit, die bei ihm vor dem Sein steht und weder eine biologische noch psychologische als vielmehr eine geistige und ethische Kategorie dar­stellt, steht ihm also höher als ein gesellschaftliches, überpersönliches oder uni­versales Wesen. Alle diese Ableitungen und Hypostasierungen fassen die Per­sonalität eben darum nicht, weil sie nicht Teil eines Ganzen, vielmehr selber ein Ganzes, ein Mikrokos­mos ist, in dem sich Endliches und Unendliches kreuzen. „Das ‚Ich‘ ist das ursprünglich Gegebene …, ,Persönlichkeit‘ ist eine qualitative Errungenschaft.“ Universal aber ist sie nicht im Sinne des Allgemeinen und Abstrakten; sie ist „das Konkrete, d. h. die Fülle“ schlechthin. Personalität wird hier als „Universum in individuell un­wiederholbarer Form“ verstanden. Das bedarf einer genaueren Erläute­rung. Personalität setzt nämlich überpersönliche Werte voraus. Aus seiner Subjektivität befreit sich der Mensch nur im Transzendieren, da er ja nicht nur ein Objektives, sondern auch ein „Transsubjektives“ denkt. Im Tran­szendieren aber begegnet Gott dem Menschen als Persönlichkeit. Das ist ein Verhältnis, das sich weder kausal erklären, noch als eine Beziehung von Mittel und Zweck oder von Herr und Knecht begreifen läßt. Die Vorstellung, der Schöpfer habe den Menschen zu seiner Selbstverherr­lichung erschaffen, ist eine Herabsetzung beider; denn in der Personalität, die „sich selbst Ziel ist“, finden sich das Bild Gottes und das des Menschen zugleich — sie ist Gottmenschentum (Solov’jev), in welchem sich der Alexandrinismus und Byzantinismus zur „Mystik“ einer „Überwindung der Kreatürlichkeit“ erheben: zu einem anthropogonisch theoandrischen „Gott als Mensch“ und „Mensch als Gott“, darin „Gott ist, wenn der Mensch ist“. Dieses „Gottmenschentum“ richtet sich gegen das katholische „Gott und Mensch“, das die „religiöse Freiheit“ zur „natürlichen Freiheit“ profanisiert, wie gegen das reformatorische „Gott allein“, das den „deut­schen Monismus“ hervorbringt. Demgegenüber meint das „Gottmenschen­tum“ „Gott als Mensch“ und „Mensch als Gott“. Gott ist im Zeichen des Menschen, wie das Zeichen Gottes im Menschen gegeben ist; beider Per­sönlichkeit ist untrennbar miteinander verbunden. Das eben bedeutet Got­tes Fleischwerdung, die Mitte der Geschichte, einer „katastrophalen Ge­schichte“, die zu einem Prozeß steter Wechselwirkung zwischen Gott und Mensch geworden ist und über die Natur hinaus in eine neue Seinsart hineinwachsen läßt. So hat das Christentum die Persönlichkeit entstehen lassen und in der Christologie ihre Teilhabe an den zwei Naturen Christi zum Ausdrude gebracht. Das mag für einen unbeschwerten Betrachter ein „mythologischer Pro­zeß“ sein. Doch sind für Berdjájev die christlichen Mythen „die tiefsten, zentralsten und einzigen Realitäten der geistigen Welt“. In der Verwirklichung des Mysteriums der Gottmenschlichkeit wird der Mensch selber ein „inneres Moment des Mysteriums der Drei­einigkeit“. In ihrer Souveränität und Freiheit von der Welt wird Perso­nalität daher immer „Widerspruch in der Welt“ sein müssen, da sie so wenig in sich selbst verharren wie sich mit der objektiven Welt versöhnen kann. Die Folge einer solchen christlichen Existenz wird das Leiden, das heißt die Erfahrung der Entfremdung von der Welt sein, wie der liebende Gott in Christus gelitten und damit den Weg zur Verwirklichung der Persönlichkeit gewiesen hat.

Personalität setzt Freiheit voraus. Freiheit, das „Urgeheimnis“, in dem alle Geheimnisse der Welt beschlossen liegen, ist „primordinal“, das heißt vor und außerhalb der Schöpfung. Sie ist so das tragische Schicksal nicht nur des Menschen, sondern auch Gottes. Denn sie ist etwas anderes als ein ontologisches, psychologisches oder bloß moralisches Problem — sie ist Sakrament im letzten Sinne und fordert die Entsakralisierung aller Hei­ligtümer. Jede „rationale“ oder „notwendige“ Kategorie der Freiheit, etwa als theologische oder spekulative Vernunft, ist auf jener irrationalen, „eschatologischen“ begründet und von ihr unablösbar. Getrennt ist jede zum Zerfall verurteilt: die rationale, notwendige Freiheit wird zum er­zwungenen Guten als pervertierte Theokratie oder als profanisierte Ty­rannis — die irrationale, eschatologische Freiheit für sich, jenseits von Gut und Böse, entartet zu Atheismus, zur Anarchie, zur Notwendigkeit und zum Determinismus. Die Lösung des Problems der Freiheit sieht Berdjájev wiederum in dem die beiden Naturen vereinenden Gottmenschen Chri­stus, der diese Freiheit realisiert und Zwang in Gnade verwandelt hat. Wie Schopenhauer oder Čaadájev hat Berdjájev so im Grunde nur einem Gedanken nachgelebt: dem Gedanken der Freiheit. Von Böhme her ent­wickelt er eine Lehre vom Primat der Freiheit und erklärt mit ihr sowohl den Ursprung des Bösen als auch die Möglichkeit eines neuen Schöpfer­tums in der Welt. Damit hat Berdjájev die Grenze der Gnosis erreicht, im Rückbezug aber zugleich — Kreuz und Auferstehung im Blick — ein neues Christusgeschlecht erschaut. Es ist das Geschlecht des „theogonischen Prozesses“ als erwartete Identität zwischen dem Göttlichen und dem ge­schichtlichen Menschen. Dies ist eine Geschichte, „im Schoß des Absoluten empfangen und in ihm verlaufend“, ein „Passions-Geschick konkreter handelnder Personen“, eine Offenbarung der inneren Gottes-Tragödie im Gekreuzigten durch die „Sehnsucht Gottes nach der Welt, Leiden an ihr und durch sie“. Und das alles mit dem Ziel der „Theosis, Gottwerdung… durch menschliche Freiheit und menschliches Schaffen, durch die das gött­liche Leben selbst reicher wird“, reicher im Sinne einer „apokatastasis panton“, einer Wiederherstellung aller Dinge, wie die Apostelgeschichte und Origenes sagen.

Die Erlösung des Menschen kann also nicht allein Sache Christi sein; auch der mit Freiheit begabte Mensch ist vor die Aufgabe gestellt, seine Natur als Freisein zu offenbaren und schöpferisch zu entfalten. Das Schöpfertum, aus dem Nichtsein hervorgegangen und durch keine Geburt begrenzt, kon­frontiert Berdjájev mit dem Sein. Schaffen ist bei ihm zunächst Protest und Verneinung der Welt; ihre Bezwingung — nicht ihre Vervollkomm­nung. Im Prozeß des Schaffens offenbart sich über alle Grenzen hinaus die Sehnsucht nach einer anderen Welt — ein schöpferischer Eschatologismus. Ist echte philosophische Erkenntnis zugleich eine intellektuelle Akti­vität des Geistes wie auf Gesamtheit gerichtete emotionale und willens­bestimmte Anstrengung als „existentielle Erfahrung“, so muß sich im denkerischen Prozeß das Einswerden zwischen dem Erkennenden und dem zu Erkennenden als Überwindung eines bloß objektivierten Denkens er­eignen. Mit solcher Überwindung aber erscheint die Freiheit als Subjektivation. Mithin beruht alle Wirklichkeit auf dem jedes moralische, geistige oder soziale Schaffen umfassenden und selbst überbietenden Schöpfertum, und der Sinn des menschlichen Lebens besteht in der Realisation dieses inwendig Creatorischen, in dem sich die eschatologische Krisis über die Weltwirklichkeit — und nicht nur partiell — ausspricht. Es führt das alle unsere Daseinsbereiche umspannende Ende und zugleich die schöpferische Verklärung herbei. Es bedarf keiner Rechtfertigung — „es rechtfertigt den Menschen“. Darin bereitet sich die Wiedergeburt des Menschen vor. Aller­dings ist die Wiedergeburt des Menschen mit seiner Sündenerfahrung, die nicht nur zum Heil, sondern sehr wohl auch zur Verfinsterung führen kann, nicht schon gegeben; sie bedarf der Überführung in ein gleicher­weise von Gott wie vom Menschen kommendes neues Erleben, einer schöpferischen Existenz. Das Schaffen ist Gottes Forderung — das Schaf­fen ist des Menschen Antwort; es ist die befreiende Arbeit des Gott­menschentums. „Die Idee Gott ist des Menschen erhabenste Idee. Die Idee Mensch ist die erhabenste Idee Gottes.“ Auch hier argumentiert der Mysti­ker Berdjájev aus „innerer Erfahrung“ des Schaffens.

So führt nur noch ein Symbol zum Mysterium: das Schaffen als Gestalten im Endlichen, um die Unendlichkeit in der Ekstasis zu erschließen. Darum kann Schöpfertum, aus der Personalität geboren und an die Freiheit ge­bunden, niemals kollektive Erfahrung werden. Als ein punktuelles Ereig­nis ist es der Triumph der Personalität und Freiheit über alle Dinghaftigkeit, Materialität und Zeitlichkeit; allerdings aber auch für die geschicht­liche Zeitlichkeit. Wie anders gehörte es sonst zum Gemeingut unseres Denkens, daß mit dem Einbruch der Zivilisationsepoche und der Barbarei die Herrschaft von Maschine und Technik — ebenfalls Formen des Schöpfer­tums — unserer Zeit einen apokalyptischen Untergang bereiten könnte! Gewiß liegt hierin die Möglichkeit eines neuen Aufstiegs mitbegründet. Er muß jedoch mit einer neuen Askese, einer Selbsteinschränkung und frei­willigen Disziplinierung der Kräfte des Menschen beginnen und fortge­setzt werden. Nur dann wird der Mensch im erwarteten Weltalter — Berdjájev nennt es ein neues Mittelalter — nicht Sklave, sondern wahrer Herr der Welt sein.

Berdjájevs Auflehnung gegen den Rationalismus wie gegen die Rationali­sierung des Lebens spricht sich am stärksten in seinen Gedanken über Objektivation und Subjektivation aus. Sein Verständnis des Schaffens schließt das kulturelle und soziale wie technische Wirken des Menschen mit ein, aber transzendierend überbietet es jedes soziologische Faktum. Weder traut Berdjájev der Unverbrüchlichkeit der „objektivierten“ Welt, noch vermag er die Objektivierungen in Natur und Geschichte einfach hin­zunehmen. Im Grunde leugnet er das Vorhandensein einer objektiven Realität überhaupt; was wir Objekt nennen, ist lediglich „eine Illusion des Bewußtseins“, weit entfernt von der wahren wesentlichen Welt — unsere Objekte als Objektivationen sind nichts anderes als der wandel­bare Zustand der Welt. Vom Subjekt erzeugt, bleiben sie auch nur dem Subjekt erkennbar, und das heißt: die Welt existiert nur im nicht-objektivierten Subjekt. In Berdjájevs Konsequenz wird damit auch das Sein eine „transzendentale Illusion“. Was bedeutet das für die Personalität?

Als ausschließliche Trägerin des Lebens vermag die Personalität das Ob­jektsein, das doch Entpersönlichung, Entfremdung und Knechtschaft, kurz Notwendigkeit bedeutet, unter keinen Umständen zu ertragen. Objektsein gehört zum Gefallensein, „Objektivierung ist gnoseologische Interpretation der gefallenen Welt“ und kann daher nur das „Allgemeine“ im Gegensatz zum Persönlichen sein.

In Berdjájevs „Selbsterkenntnis“ steigert sich sein elementares Unbehagen, ja sein Leiden an der Zerbrechlichkeit der Welt zu einer Confessio. Die Gewißheit von ihrem Ende ist ihm nicht aus der Geschichte, sondern aus dem metaphysischen Bereich gekommen, und er nennt hier Johannes Weiß, Albert Schweitzer, Christoph Blumhardt und Leonhard Ragaz als seine geis­tigen Nachbarn. Dieses Geschichtsbild kennt keine Übergänge, vielmehr nur Katastrophen, die außerhalb der biblischen Apokalypse ge­schaut werden, weil dort der Geist der Rache und Vergeltung herrscht. Die Theorie des „Loskaufs“ ist Berdjájev ein unchristlicher Zusatz; das eschatologische Christentum widerspricht im Charakter dem historischen, das von der Anpassung an die Welt lebt und selbst in seinem asketischen Vertretern mit ihrer Passivität einen Kompromiß darstellt. „Eschatolo­gie bedeutet symbolische Objektivierung der Bewußtseinstragödie. Das Ende ist — Ende der Objektivation, Übergang in die Subjektivität des Reiches der Freiheit.“ Denn jede Objektivation hat „soziologischen Cha­rakter“ und trägt den Todeskeim in sich; es ist vermessen, unsere Kate­gorien auf Gott zu übertragen. Terror nennt Berdjájev die Idee vom Untergang und von einer ewigen Hölle; das ist schon „die stärkste Wider­legung der Existenz Gottes“ und eine Rechtfertigung des Atheismus. Das Böse und das Leiden zeigen wohl die Unzulänglichkeit dieser Welt, aber auch die Existenz einer „anderen“ an; Leidlosigkeit und Zufriedenheit mit der Welt sind ein eindeutiges Zeichen für die Endlichkeit dieses Äons. Das vielberufene Endgericht ist nichts „als das Grauen vor der eigenen Finsternis angesichts des Lichts“.

Von hier aus wird auch des Exulanten Berdjájev doppeltes Verhältnis zur Geschichte verständlich: sie ist ihm ein Fremdes und doch eine persönliche Erfahrung. „Geschichte ist Exteriorisierung, Objektivation des Geistes“ und „inneres Schicksal meines Geistes“. Darum kann das Ende der Ge­schichte auch kein historisches Ereignis sein. „Das Ende der Zeit ist nicht Ereignis der Zeit.“ Mit dem Ende der Welt wird auch die „objektivierte Zeit“ überwunden; das Ende der Welt kann nicht in der Zeit, die wir Zukunft nennen, liegen. Das Finale des Äons ist ein Geschehen zugleich im Jenseits wie im Diesseits. Es ist widersinnig, das Ende objektivieren zu wollen.

Was Wunder, wenn nun alle Fortschrittlichkeit und Zukunftsgläubigkeit, an der auch das historische Christentum teilhat, verneint wird. Soziale Revolutionen sind letztlich bedeutungslos, wie auch die stets objektivie­rende Kirche angesichts des „Gottes-Dramas“ heillos geblieben ist. Mit der Verwissenschaftlichung der Religion und ihrem Ausbau zu einer Meta­physik hat sie sich mitsamt aller Kultur von der Wirklichkeit gelöst, ist sie in die Abstraktion geflüchtet und hat sich mit Teilfunktionen säkulari­siert. Noch schlimmer ist, daß sie damit Gott und den Menschen reduziert hat: Gott wurde zum Objekt und der Mensch zur Natur erniedrigt. Mit anderen Worten: die Welt hat das Christentum bezwungen und es seiner schöpferischen Kraft beraubt; Dostojevskijs „Großinquisitor“ ist das klas­sische Modell dieses Verrats.

Aber Berdjájev behält Hoffnung in seiner Erwartung einer religiösen Wie­dergeburt, einer Offenbarung des Heiligen Geistes, die eine neue Gesell­schaftsordnung und eine universelle Kultur jenseits des Dualismus zwischen Religion und Leben bringen wird. Der kommende Äon einer Gottmenschheit wird den Akzent von Gott auf den Menschen übergehen sehen; aus dem Geist werden alle sozialen und selbst ökonomischen Erscheinun­gen wachsen und das Mysterium des Menschen offenbar machen.

Im Hintergrund seiner Problematik steht Berdjájevs Heimat und ihr Schicksal, aus dem er auch die Revolution nicht ausklammert. Unter den russischen Emigranten ist er mit seinem Ja zur Umwälzung, zur „Wahr­heit im Kommunismus“ und seinem radikalen Nein zur Gewalt ein Ein­zelgänger. Noch in seinen letzten Aufzeichnungen blickte er nach zwei Verbannungen mit dem Auge der Hoffnung aus der Fremde, dem Leiden an Gott und der Welt, hinüber in eine neue Zeit, die mit der Katharsis des russischen Volkes ihren Anfang genommen haben könnte und als deren Vorläufer er sich verstand. In der letzten Stunde seines Lebens — er starb an seinem Schreibtisch — wollte er wohl an seine Sünden und Schwächen denken, aber auch darauf warten, daß ihm die gnädige Gewißheit zuteil würde, daß er zu denen gehört, die „nach Gerechtigkeit hungern und dür­sten“; es sei die einzige Seligpreisung, zu der er ein Verhältnis habe.

Quelle: Hans Jürgen Schultz (Hrsg.), Tendenzen der Theologie im 20. Jahrhundert. Eine Geschichte in Porträts, Stuttgart: Kreuz-Verlag 21967, S. 137-144.

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