Beileidsbrief zum Soldatentod von zwei Söhnen der Familie K. in Iptingen
Kirchheim, den 23. Januar 1946
Liebe Familie K.!
Vor einiger Zeit erfuhr ich über Ditzingen von E., daß Sie die furchtbare Nachricht bekommen haben, daß zwei Ihrer Söhne nicht mehr heimkommen werden. Da möchte ich Ihnen einen Gruß herzlicher Teilnahme schicken. Wie viele haben seit Jahren mit uns täglich zum Himmel geschrien: »Ach, Herr, mach ein Ende diesem entsetzlichen Morden und Wahnsinn!« Und doch hat es so lange gedauert und hat die Welt mehr als zwanzig Millionen Menschenleben gekostet. Wir wissen nicht, warum all dies Weh so ungleich verteilt ist und so viele brave Menschen alle ihre Lieben, ihre Habe und ihre Heimat verloren haben, viele elend verhungert und erfroren sind, viele in stummer Verzweiflung sich das Leben genommen haben. Und andere wieder sind heil davongekommen oder kaum gestreift worden vom großen Leid und Sterben Europas. Wenn ich so zurückdenke, wie Sie sich zeitlebens geplagt haben, wie Sie sich’s sauer werden ließen, all ihren Kindern ein Fortkommen zu sichern und sie recht zu erziehen, und wie schwer Sie es hatten, durch so manche Not und Krankheit durchzukommen, wenn ich besonders an den furchtbaren Schlag im Sommer 1939 durch das Feuerbacher Unglück denke und mir Ihre Söhne vorstelle, wie ich sie in Erinnerung habe, bei aller Verschiedenheit fleißig und treu, zuverlässig und innerlich wertvoll, dann kann ich Ihnen nur sagen: nun sind Sie bitter arm geworden und werden es Ihr Leben lang bleiben. Drei erwachsene Söhne zu verlieren, das kann das Herz verbittern und das Leben dunkel und schwer machen.
Ich komme bis heute nicht los von der Scham und Empörung darüber, daß wir, die wir das Unheil schon lange hatten kommen sehen, nicht Leib und Leben daran gewagt haben, es zu verhindern und nicht mitschuldig zu werden am Verbluten unserer Jugend. Aber es ist nun geschehen, und was man Opfer für Freiheit und Ehre hieß, ist nun ein Denkmal schrecklicher Verführung, und wir sehen vor uns nur Armut an Leib und Seele. Darf ich es da wagen, liebe Familie K., Sie zu erinnern an das Bibelwort, daß wir durch viel Trübsal in das Reich Gottes eingehen sollen? Heißt das nicht, sich eben abfinden mit der ganzen Erfolglosigkeit des Lebens, mit dem Unverstand der Menschen und mit den Schlägen des Bösen? Schon der millionste Teil dessen, was in einem Jahr passiert ist, könnte einem ja beweisen, daß Gott uns Menschen nicht liebt. Und doch ist uns immer gepredigt worden, Gott meine es nur und jeden Tag und in allem und über alle Maßen gut mit uns. Das läßt sich einfach nicht so fassen und verstehen wie das Einmaleins. Ich würde es nicht glauben, wenn es nicht einfach bei Jesus wahr und wirklich so wäre. Er ist der einzige Beweis dafür, und ihm, der dafür gestorben ist, glauben wir es: »Ihr habt Angst in der Welt, aber ich habe sie überwunden.« Auch unser Leid und unsere ganze Niedergeschlagenheit hat er schon überwunden für uns. Was noch so sinnlos aussieht und nicht zu verstehen ist, ist bei ihm schon in Ordnung. Freilich müssen wir warten, bis uns einmal die Augen aufgehen in der Ewigkeit, aber jetzt schon ist eine tiefe Ruhe und Festigkeit, eine gefaßte und getroste Haltung uns möglich im Gedanken, daß nicht der Satan, sondern Jesus das Heft in der Hand hat und durch alle die Bitterkeiten der Tage und Nächte mit uns geht und auch schon mit uns gegangen ist, sonst wären wir schon vergangen in unserm Elend oder müßten heute verzweifeln.
Ich schreibe Ihnen diese Zeilen nur, um Ihnen zu sagen, daß ich mit Ihnen um Ihre Söhne traure, daß ich aber auch für Sie getrost bin, weil wir ja miteinander unterwegs sind diese paar Jahrzehnte des Lebens, jeder mit seiner Last und doch nicht ohne manche Erfahrung, daß auch Tage der Erleichterung und der Sonne darunter waren und wieder sein werden, wie wir ja alle im letzten Frühjahr nahe am Tod vorbeigekommen sind und nun doch wieder menschlich leben dürfen, wenn auch so viele, viele fehlen.
Vielleicht komme ich doch im Lauf des Jahres einmal nach Iptingen, und da gäb’s dann viel zu fragen und zu erzählen. Ob wohl Ihre M. immer noch kränklich ist? Ob A. daheim ist oder wieder im Beruf arbeitet? Uns allen geht es hier gut in der Hoffnung, daß der Winter bald überstanden ist. Seien Sie alle in treuem Gedenken von Herzen gegrüßt!
Ihr einstiger Pfarrer
Paul Schempp mit Frau und Kindern
Quelle: Paul Schempp, Briefe, ausgewählt und herausgegeben von Ernst Bizer, Tübingen: J.C.B Mohr, 1966, S. 84f.