Philipp Jakob Spener, Pia Desideria oder Herzliches Verlangen nach gottgefälliger Besserung der wahren evangelischen Kirche samt einigen einfältig dahin abzweckenden christlichen Vorschlägen (1675): „Es werden zwar wenige evangelische Orte sein, wo nicht genug Predigten gehalten werden, aber dennoch finden viele gottselige Gemüter an vielen Predigten nicht wenig auszusetzen, denn es gibt Prediger, die oft ihre meisten Predigten mit Dingen anfüllen, womit sie sich den Ruhm der Gelehrsamkeit erwerben wollen, obwohl die Zuhörer nichts davon verstehen; da müssen oft viele fremde Sprachen herbei, von denen vielleicht nicht ein Einziger in der Kirche ein Wort versteht. Wie manche tragen mehr Sorge dafür, dass der Eingang passend, und der Übergang natürlich, dass die Einteilung kunstreich genug, und alle Teile recht nach der Redekunst abgemessen und ausgeziert seien, als dass sie solche Materien wählten und durch Gottes Gnade ausführten, wovon die Zuhörer im Leben und Sterben Nutzen haben könnten.“

Speners Pia Desideria erschien als Vorrede zur Neuausgabe von Johann Arndts Evangelienpostille für die Frankfurter Frühjahrsmesse im März 1675 (signiert von Spener mit Unterschrift am 24. März), bevor dann im September 1675 (Impressum datiert auf 1676) der Text als Separatdruck beim Verleger Zunner in Frankfurt a.M. veröffentlicht wurde. Die Schrift lässt sich in drei Teile gliedern: Der erste Teil diagnostiziert die äußere und innere Zerrüttung in den drei Ständen der lutherischen Kirche – Lehrstand (status ecclesiasticus), Wehrstand (status politicus) sowie Nährstand (status oeconomicus). Im zweiten Teil formuliert Spener angesichts noch ausstehender göttlicher Verheißungen seine Hoffnung auf eine zukünftige Besserung der Kirche. Im dritten, therapeutischen Teil macht Spener sechs Reformvorschläge.

Pia Desideria
oder Herzliches Verlangen nach gottgefälliger Besserung der wahren evangelischen Kirche samt einigen einfältig dahin abzweckenden christlichen Vorschlägen (1675)

Von Philipp Jakob Spener

Gnade, Licht und Heil von Gott, dem himmlischen Vater, durch Christum Jesum in dem Heiligen Geist, allen denen, die den Herrn suchen.

Wenn wir den gegenwärtigen Zustand der gesamten Christenheit ansehen, so möchten wir billig mit Jeremia 9,1 in die kläglichen Worte ausbrechen: „Ach, dass wir Wassers genug hätten in unsern Häuptern, und unsere Augen Tränenquellen wären, dass wir Tag und Nacht beweinen möchten den Jammer unseres Volks.“ Und hat zu den noch goldenen Zeiten jener liebe alte Vater sprechen mögen: Ah in quae nos tempora reservasti, Domine! so haben wir heutzutage weit mehr Ursache, es nicht nachzusprechen, sondern – da die größte Betrübnis kaum Worte herauszubringen vermag – nachzuseufzen.

Ich will jetzt nicht reden von dem Elend der Glieder der christlichen Kirche, welche im babylonischen Gefängnis der römischen Kirche, unter der schweren türkischen Tyrannei, in den von unglaublicher Unwissenheit, Irrtümern und schrecklichen Ärgernissen verdorbenen griechischen und morgenländischen Kirchen und in vielen anderen, vom Papst zwar abgetretenen, aber zur Reinheit der Lehre nicht gekommenen Gemeinden verborgen sind und in höchster Gefahr mit Furcht und Zittern ihre Seligkeit wirken müssen – obwohl an ihren Jammer ohne einige Bewegung von einer gottseligen Seele nicht gedacht werden kann. Sondern wenn wir allein bei unserer evangelischen Kirche bleiben, die das teure und reine Evangelium dem äußerlichen Bekenntnis nach annimmt und die wir deshalb als die wahre sichtbare Kirche anerkennen müssen, so können wir doch auch auf diese die Augen nicht wenden, ohne sie aus Betrübnis und Scham sogleich wieder niederschlagen zu müssen.

Sehen wir den äußeren Zustand an, so müssen wir bekennen, dass seit geraumer Zeit die dieser Kirche angehörigen Reiche und Länder – obwohl in verschiedenen Graden und Zeiträumen – alle die Plagen oft haben erfahren müssen, womit nach der Schrift der gerechte Gott seinen Zorn zu bezeugen und anzudeuten pflegt, nämlich ansteckende Krankheiten, schlechte Zeiten und Kriege. Ich halte aber gleichwohl diese Trübsale für die geringsten, ja für eine Wohltat, wodurch Gott noch viele der Seinigen erhalten und dem Schaden, der durch stetes leibliches Wohlergehen noch verzweifelter werden würde, etwas gewehrt hat.

Aber, obwohl für fleischliche Augen unkenntlicher, so doch weit schwerer und gefährlicher ist das geistliche Elend unserer armen Kirche, und zwar vornehmlich aus zwei Ursachen:

Die eine besteht in den Verfolgungen, welche die wahre Lehre, sonderlich von der römischen Kirche, leiden muss. Nun ist es zwar wahr, dass die Verfolgungen ein gutes Mittel sind, wodurch der Kirche Wachstum oft befördert wird, sodass wir die christliche Kirche von der Apostelzeit her in keinem besseren und vor Gott herrlicheren Stande antreffen als da, wo sie unter den grausamsten Verfolgungen stand – wo ihr Gold unaufhörlich in dem Schmelzofen lag, dessen Flamme keine Schlacken daran wachsen ließ oder dieselben bald wieder verzehrte. Aber durch zwei Stücke unterscheiden sich die jetzigen Verfolgungen von den früheren, welche uns tief schmerzen.

Einmal, dass der Teufel, nachdem er erkannt hat, dass seine Gewalttätigkeiten und blutigen Verfolgungen nichts vermocht haben, sondern die Leute zu einer – obwohl schrecklicheren – doch kürzeren Marter mehr geeilt als davor geflohen sind, nunmehr klüger geworden ist und eine andere Art der Verfolgung begonnen hat: Die Bekenner der wahren Religion von der erkannten Wahrheit durch langwierige Drangsale oder dadurch abzuziehen, dass man ihnen teils mit steten Drohungen, teils Versprechungen und Vorstellungen von der Herrlichkeit der Welt zusetzt, besonders aber die wahren Lehrer vertreibt und entzieht, um so auf’s Wenigste die Kinder und Nachkommen wieder zu falscher Religion zu bringen.

Daraus folgt das andere, dass durch diese Art der Verfolgung das römische Papsttum manche Reiche und Provinzen, die entweder ganz die Wahrheit der Lehre erkannt hatten oder in denen doch viel guter Samen ausgestreut gewesen war, wieder so unter sich gebracht hat, dass keine oder nur wenige Bekenner der evangelischen Wahrheit in denselben sind; während sonst die Verfolgungen allezeit die Vermehrung der Christen bewirkt und das Blut der Märtyrer stets der beste Dünger des Kirchenackers gewesen ist.

Wir haben daher weit mehr über den unglücklichen Erfolg dieser Verfolgungen als über die Verfolgungen selbst zu klagen. Und wie Josua (Jos. 7,5–6), als sein vorher siegreiches Heer von den Einwohnern zu Ai geschlagen wurde, und die Israeliten, als sie vor Benjamin zweimal fliehen mussten (Richter 20,21–26), daraus abnahmen, dass um begangener Sünden willen der Herr von ihnen gewichen sein müsse und ihn daher mit demütiger Buße wieder suchten, so ist uns diese Macht, welche Gott unseren Gegnern gibt, ein gewisses Zeugnis, dass unsere ganze Kirche keineswegs in dem Stande sei, in welchem sie sich befinden sollte, und viele Glieder darunter sein müssen, die von außen scheinen, aber im Schmelzen die Probe nicht halten.

Die andere und vornehmste Ursache des Jammers unserer Kirche ist die, dass sie innerlich fast durch und durch zerrüttet ist – ausgenommen, dass uns Gott doch nach seiner überschwänglichen Güte sein Wort und die heiligen Sakramente gelassen hat. Wo ist ein Stand, von dem wir rühmen könnten, dass es in ihm stehe, wie die Vorschriften des Wortes Gottes es erfordern?

Sehen wir den weltlichen Stand an und in demselben diejenigen, welche nach göttlicher Verheißung (Jes. 49,23) Pfleger und Säugammen der Kirche sein sollten – ach, wie wenige sind unter denselben, welche sich erinnern, dass ihnen Gott ihr Szepter und Regiment dazu gegeben hat, um ihre Macht zur Förderung seines Reiches zu gebrauchen! Die meisten großen Herren leben in den Sünden und weltlichen Lüsten, die das Hofleben gewöhnlich mit sich führt – ja, die fast als unzertrennlich davon geachtet werden. Während andere Obrigkeiten ihren eigenen Nutzen suchen, sodass man aus solchem Leben mit Seufzen abnehmen muss, dass wenige unter denselben nur wissen, was das Christentum sei – geschweige denn, dass sie es selbst hätten und übten!

Wie viele gibt es, die sich um das Geistliche überhaupt nicht kümmern, sondern mit Gallion (Apg. 18,12–17) dafür halten, es gehe sie nichts an außer dem Zeitlichen? Auch unter denen, die sich noch der Kirche anzunehmen gedenken, wie viele sind nicht darunter, die sich vollkommen damit begnügen, dass die hergebrachte reine Religion erhalten und vor Beeinträchtigung der Falschen bewahrt werde – womit es doch noch lange nicht ausgemacht ist?

Wie es nun im weltlichen Stand betrübt genug aussieht, ach, so mögen wir Prediger im geistlichen Stand nicht leugnen, dass auch dieser Stand ganz verderbt ist und somit von den beiden oberen Ständen das meiste Verderben in die Gemeinden übergeht. Jener alte Kirchenvater hat also zu schließen befohlen: „Gleichwie du, wenn du einen verdorrten Baum mit abgestorbenen Blättern siehst, schließest, es müsse ein Mangel an der Wurzel sein, also kannst du, wenn du das Volk zuchtlos siehst, mit Recht schließen, dass es ihm an einer heiligen Priesterschaft fehle.“ Ich erkenne gern die Heiligkeit unseres göttlichen Berufes, auch weiß ich, dass Gott in unserem Stand die Seinen übrig behalten hat, die das Werk des Herrn treulich meinen. Auch möchte ich nicht mit Elias Prätorius auf der anderen Seite zu weit gehen und das Kind mit dem Bade ausschütten; sondern der allsehende Herzenskündiger sieht mit welcher Betrübnis meiner Seele ich es schreibe: dass wir Prediger in unserem Stand so viel Reformation bedürfen, wie irgendein anderer Stand bedürfen mag.

Gott hat auch gemeinhin, sooft er eine Reformation vorgehabt hat – zum Beispiel im Alten Testament durch die gottseligen Könige –, dieselbe im geistlichen Stand beginnen lassen. Ich nehme mich auch nicht aus der Zahl derer, welche in unserem Stand bisher des Ruhmes mangeln, den wir vor Gott und der Kirche haben sollten, sondern sehe mehr und mehr, was mir mangelt, und bin auch bereit, von anderen fernere Erinnerungen brüderlich anzunehmen. Ja, es betrübt mich nichts mehr, als dass ich fast nicht sehe, wie in solcher gräulichen Verderbnis einer von uns sein Gewissen retten möge.

Wir müssen ja bekennen, dass in unserem Stand nicht nur hin und wieder Männer gefunden werden, die sogar von öffentlichen Ärgernissen nicht frei sind, sondern dass auch die Zahl derer, die das wahre Christentum (das ja nicht bloß in der Enthaltung von äußeren Lastern und in einem äußerlich ehrbaren Leben besteht) recht verstehen und üben, viel geringer ist, als man dem ersten Anschein nach urteilen sollte. Denn es zeigt sich bei vielen, deren Leben – wenn es mit weltlichen, von der Mode beeinflussten Augen betrachtet wird – untadelig erscheint, gleichwohl der Weltgeist in Fleischeslust, Augenlust und hoffärtigem Leben, wenn auch noch so fein, doch so deutlich, dass man erkennen kann, sie hätten sich die erste praktische Grundlage des Christentums, die Verleugnung seiner selbst, noch niemals mit Ernst vorgenommen.

Man sehe auf die Art, wie die meisten Beförderungen und Änderungen im Amt suchen. Man sehe auf ihre Lehre, ihre Amtsverrichtungen und ihr Leben – mit wenn auch noch so liebreichen, doch mit dem Licht des Geistes erleuchteten Augen –, was gilts, ob man nicht bei vielen, über die man gerne aus christlicher Liebe besser urteilen würde, letztlich doch erkennen muss, wie tief sie noch im natürlichen Wesen stecken und die rechten Kennzeichen der Wiedergeburt nirgends in der Tat haben? So möchte Paulus noch an vielen Orten klagen, Phil. 2,21: „Sie suchen alle das Ihre, nicht das, was Christi Jesu ist.“

Nun gibt solches nicht nur großes Ärgernis, wo es von anderen erkannt wird, sondern das größte Ärgernis ist eigentlich dort, wo es nicht erkannt wird und die Leute – die allzeit lieber nach Beispielen als nach der Lehre urteilen – auf den Gedanken kommen, das sei schon das rechte Christentum, was sie an ihren Predigern sehen, und sie hätten nicht nötig, weiterzugehen. Ja, das Betrübteste ist, dass das Leben vieler Prediger, dem alle Glaubensfrüchte fehlen, deutlich anzeigt, dass es ihnen selbst an dem Glauben mangelt und dass das, was sie für Glauben halten, durchaus nicht der rechte, aus des heiligen Geistes Erleuchtung, Zeugnis und Versiegelung durch das göttliche Wort erweckte Glaube ist, sondern eine menschliche Einbildung. Sie haben die rechte Lehre aus dem Buchstaben der Schrift, jedoch ohne Wirkung des Heiligen Geistes, lediglich durch menschlichen Fleiß erfasst – so wie andere in anderen Wissensbereichen durch Fleiß etwas erlernen – und wissen sie anderen vorzutragen. Aber sie sind vom himmlischen Licht und Leben des Glaubens ganz entfernt.

Daraus will ich zwar nicht folgern, dass durch solche Männer und deren Dienst gar nichts Gutes gewirkt oder bei jemandem der wahre Glaube und die Bekehrung zuwege gebracht werden könnten. Denn das Wort empfängt seine göttliche Kraft nicht von der Person dessen, der es vorträgt, sondern hat dieselbe in sich selbst. Deswegen freut sich auch Paulus in Phil. 1,15.18, dass nur Christus gepredigt werde, wenn auch von etlichen um Hass und Haders willen. Diese aber können nicht füglich wiedergeborene Kinder Gottes gewesen sein; wenn nun niemand von ihrer Predigt Nutzen gehabt hätte, so würde er keinen Grund zur Freude gehabt haben.

Gleichwohl kann ein verständiger Christ nicht leugnen, dass solche Männer, die selbst den wahren göttlichen Glauben nicht haben, auch nicht imstande sind, ihr Amt so zu führen, wie es sich gehört, um durch das Wort eine wahre Sinnesänderung bei ihren Zuhörern hervorzubringen. Denn erstens können sie nicht erhörlich beten, wodurch ein gottseliger Prediger viel Segen erlangt. Sodann muss ihnen die göttliche Weisheit fehlen, die einer braucht, der andere mit allem erforderlichen Nachdruck lehren und auf den Weg des Heils führen soll. Daher zweifle ich gar nicht, dass wir bald eine ganz andere Kirche hätten, wenn nur wenigstens der größte Teil von uns Lehrern so wäre, dass wir ohne Erröten mit Paulus unseren Gemeinden zurufen dürften, 1. Kor. 11,1: „Seid meine Nachfolger, gleichwie ich Christi.“

Stattdessen finden wir, dass eine nicht geringe Anzahl Prediger selbst nicht für nötig hält, was der Apostel in Eph. 4,21 seinen Ephesern als eine allgemein anerkannte Wahrheit in Erinnerung bringt, dass in Jesus ein rechtschaffenes Wesen sei. Alle diese erklären also den in der Bibel beschriebenen Weg zur Seligkeit für unnötig. Wenn aber der Prediger selbst solchen Irrtum hegt, wie will er die Zuhörer so weit bringen, wie es nötig ist?

Ich erschrecke und schäme mich fast, so oft ich daran denke, dass die Lehre von der ernstlichen innerlichen Gottseligkeit einigen sogar verborgen oder unbekannt sein sollte; dass, wer dieselbe mit Eifer treibt, bei einigen kaum den Verdacht eines heimlichen Papisten, Weigelianers oder Quäkertums vermeiden kann. Der selige D. Balthasar Meißner, welcher als reiner Lehrer bekannt ist, hat zu seiner Zeit geklagt, „dass man kaum mehr des Weigelianismus und neuer sektiererischer Lehren unverdächtig bleiben könne, wenn man mit billigem Eifer die Gottseligkeit treibe und stets ermahne, das, was gelehrt wird, in die Übung zu bringen.“

Dasselbe beklagt auch mein vielgeliebter Schwager, Herr D. Johann Ludwig Hartmann, in seinem Pastorali Evangelico disp. 3, wo er anführt, wie man auch auf den so hochverdienten seligen D. Johann Gerhard einen ähnlichen verleumderischen Verdacht zu bringen versucht. Wo aber kann das Elend und Verderben größer sein, als wenn man das Lobenswerte zur Ursache eines Verdachts und böser Nachrede macht? Das heißt ja: „Sie reißen den Grund um, was sollte der Gerechte ausrichten?“

Überhaupt gibt es viele, die den Schaden Josephs in vielen Dingen nicht verstehen, sondern, wenn wir nur eben von den anderen Religionsparteien keine Not hätten und äußerlicher Friede wäre, meinen, die Kirche sei in der glücklichsten Lage. Sie sehen also deren gefährliche Wunden gar nicht – wie sollten sie sie denn verbinden oder heilen? Daher kommt es, dass nicht wenige fast alles allein auf die Kontroversen setzen und meinen, es sei der Sache gut geraten, wenn wir nur wissen, wie wir Papisten, Reformierten, Wiedertäufern usw. auf ihre Irrtümer antworten. Es gehe übrigens mit den Früchten der Artikel, die wir etwa auch noch mit ihnen gemein haben, und mit den alle verpflichtenden Lebensregeln, wie es wolle.

Nun gehören freilich die Kontroversen auch zur Theologie, und wir sollen nicht nur wissen, was wahr ist, um diesem zu folgen, sondern auch, was falsch ist, um es zu widerlegen. Aber sie sind doch weder das Einzige noch das Vornehmste. Der alte und erfahrene Kirchenlehrer Gregorius von Nazianz (Epist. 21) klagte zu seiner Zeit sehr bedächtig über solche Streitsucht – was ebenso auf unsere Zeiten zutrifft:

„Wir sind alle allein darin gottselige Leute, dass wir einer den anderen als gottlos verdammen. Wer gut oder böse sei, beurteilen wir nicht nach dem Leben, sondern danach, ob sie in der Lehre mit uns eins oder uneins sind. Es gibt einige, die unter sich über geringe und unnütze Dinge streiten und sich dann töricht und vermessen Anhänger suchen, so viele sie nur aufbringen können. Dann geben sie vor, als wäre der Glaube in Gefahr, und so wird dieser vortreffliche Name durch Privatstreitigkeiten und Zänkereien verunehrt.“

Wer erkennt aber nicht auf den ersten Blick, dass der liebe Vater, wenn er heute wieder aufstehen sollte, genug Ursache zu derselben Klage finden würde! Es wäre wohl nötig, dass die Rede des um das Beste der Kirche so hochverdienten D. David Chyträus, wie man das theologische Studium nicht so sehr in streitsüchtigen Disputationen als in der Übung der Gottseligkeit suchen sollte, jährlich mehrmals allen Studenten vorgelesen würde.

Dahin zielt auch der selige Rostocker Theologe D. Johann Affelmann, wenn er – nach dem Zeugnis seines getreuen Schülers, des seligen Heinrich Varenius (in dessen Christliche Rettung von Johann Arndts Wahrem Christentum II, 149) – die Studenten der Theologie in einem Programm also ansprach:

„Wir stehen nicht an, diejenigen für verflucht zu erklären, die mit Hintansetzung aller ernsten Übung der wahren Gottseligkeit und gewissenhaften Pflege des inwendigen Menschen die Hauptsache der Theologie im Disputieren suchen und also Gott nur die Zunge, dem Teufel aber die Seele ergeben, wie Bernhardus sagt (Rede 24 über das Hohelied). Denn wir wissen, dass Christus zugleich und untrennbar der Weg, die Wahrheit und das Leben ist (Joh. 14,6). Der Weg ist er wegen seines Lebens, worin wir ihm mit höchstem Fleiß nachfolgen müssen; die Wahrheit wegen seiner Lehre, die wir mit gläubigem Herzen annehmen sollen; das Leben wegen seines Verdienstes, das wir mit wahrem Glauben ergreifen sollten.“

Ach, würde hieran fleißiger gedacht, wie viel besser sollte es stehen!

Aber wir können auch nicht in Abrede stellen, obgleich wir durch Gottes Gnade die reine Lehre aus Gottes Wort noch übrig haben, dass dennoch hin und wieder allmählich in die Theologie viel Fremdes, Unnützes und mehr nach der Weltweisheit Schmeckendes eingeführt wird – worin mehr Gefahr steckt, als man denken mag. Es sollten uns billig die Worte des hocherleuchteten Luther an die von Erfurt im Sinn liegen (Leipziger Ausgabe XVIII, S. 192):

„Hütet euch, Satan hat es im Sinn, euch mit dem Unnötigen aufzuhalten und das Nötige damit zu hindern. Und wenn er eine Handbreit zu euch einbricht, will er hernach den ganzen Körper mit Sekten voller unnützer Fragen einführen, wie er es bisher in den hohen Schulen durch die Philosophie getan hat.“

Also hören wir, wie es kein geringer Schaden ist, wenn man außer und über der Schrift klug und scharfsinnig sein will – und doch fehlt es nicht an solchen Beispielen.

Man vergleiche die Schriften unseres teuren Luthers, wo er das göttliche Wort auslegt oder von den christlichen Glaubensartikeln handelt, mit den Werken vieler anderer gleichzeitiger Theologen und mit einem großen Teil der heutigen Schriften. Dann wird man wahrhaftig finden, wenn man es redlich bekennen will: So viel geistreiche Kraft und in höchster Einfalt vorgetragene Weisheit in jenen angetroffen und herausgefühlt wird, so leer sind die neueren Werke. In diesen findet sich zwar mehr menschliche, prächtige Gelehrsamkeit und gekünsteltes Wesen, aber auch vorwitzige Grübeleien in Dingen, in denen wir nicht weiser sein sollten als die Schrift. Und ich weiß nicht, ob unser seliger Herr Luther, wenn er wieder aufstehen sollte, nicht auch an unseren Universitäten manches strafen würde, was er zu seiner Zeit mit Eifer getadelt hat.

Diese Klage ist zwar nicht neu. Der stattliche Mann D. David Chyträus, der vor vielen anderen die Mängel der Kirche einsah und wegen seiner vortrefflichen Erfahrung und christlichen Klugheit von Königen und Fürsten oft mit der Anordnung von Kirchen und Schulen beauftragt wurde, klagte schon im vergangenen Jahrhundert in einem Schreiben an Hier. Menzel (Episteln S. 348):

„Wollte Gott, dass wir unsere und unserer Zuhörer Gemüter in der Furcht des Herrn, in Buße und Bekehrung, im Schrecken vor dem Zorn und Gericht Gottes über die Sünde viel mehr zur Übung der wahren Gottseligkeit, Gerechtigkeit und Liebe zu Gott und dem Nächsten gewöhnten, als zu disputierlichen Zanksachen, wodurch nur angezeigt wird, dass die in früheren Zeiten gewesene Sophisterei nicht beseitigt, sondern nur auf andere Fragen und Streitigkeiten umgewechselt oder verändert wurde.“

Wiederum schreibt er einem anderen:

„Es schmerzt mich, dass die Theologie, kaum aus der Finsternis der päpstlichen Sophisterei hervorgekommen, allzu sehr auf eine neue Sophisterei unnützer und vorwitziger Fragen zurückfällt. Die christliche Religion besteht nicht in der Wissenschaft und Spitzfindigkeit vorwitziger Fragen, sondern darin, dass wir den wahren Gott und unseren Erlöser Jesus Christus aus seinem Wort recht erkennen, ihn inniglich fürchten und aus wahrem Glauben lieb haben, ihn anrufen, ihm im Kreuz und im ganzen Leben gehorsam sind, auch andere Leute von Herzen lieben und ihnen mitleidlich helfen – selbst in aller Lebensgefahr und im Tod, mit festem Vertrauen auf die in Christus erworbene Gnade, und erwarten, dass wir mit Gott ewiglich leben mögen.“

Wie sehr klagte auch der wohlverdiente, selige D. Nicolaus Selnecker in der Vorrede über die Psalmen, dass man fast nur noch Bücher voller Streit, Zank, Scheltens und Lästerung finde, anstatt solche, die schlicht und recht das Wort Gottes auslegten.

So sehr all diese und andere wohlmeinende Lehrer auch über diesen Zustand klagten und Besserung wünschten – fast nichts wurde erreicht. Vielmehr zeigt der Augenschein, dass das Verderben eher zu- als abgenommen hat.

So lernen wir vieles, das wir öfter wünschen sollten, nicht gelernt zu haben, und das, woran uns mehr, ja alles gelegen ist – wie wir oben aus Luthers Worten gehört haben –, wird darüber versäumt. Das erfahren viele christliche Theologen, wenn sie durch Gottes Gnade erst in ein Amt kommen und feststellen, dass ihnen ihr Leben lang ein großer Teil der Dinge nichts nützt, auf die sie ihre mühevolle Arbeit und schweren Kosten verwandt haben. Hingegen müssen sie fast von Neuem anfangen, das Notwendigere zu studieren, wovon sie nun wünschen, dass sie es vorher erkannt hätten und dazu mit Fleiß und Weisheit angeleitet worden wären.

Es mangelt auch in unseren Zeiten nicht an Männern, die es mit der Kirche Gottes wohl meinen und diesen Fehler bemerken. So habe ich nicht ohne besondere freudige, aber – da keine Frucht daraus hervorging – auch schmerzliche Bewegung gelesen, was der christliche württembergische Theologe Herr D. Balthasar Raith, mein in der Tat erkannter und im Herrn geehrter Gönner, in der Leichenrede des berühmten, seligen Herrn D. Zeller 1669 zu Tübingen erwähnte. Er schilderte, wie noch vor wenigen Jahren der um die sächsische Kirche wohlverdiente, selige Theologe D. Weller auf dem Reichstag zu Regensburg Zellers persönlichen Umgang gesucht hat, um mit ihm zu beraten, wie man doch die scholastische Theologie – welche Luther zur vorderen Tür hinausgetrieben hatte, andere aber zur hinteren wieder einlassen wollten – aufs Neue aus der evangelischen Kirche entfernen und die rechte biblische Theologie wiederum einführen könnte.

Ach, wenn Gott die damaligen Ratschläge solcher würdiger Theologen gesegnet hätte oder noch künftig jene, die dasselbe verlangen, segnen würde, so wäre das eine der größten Wohltaten, die wir seiner himmlischen Güte zu verdanken hätten! Denn dieser Mangel richtet mehr Schaden an, als die meisten denken. Die Gemüter werden dadurch an solche Dinge gewöhnt, wovor schon St. Paulus seinen Timotheus warnte. Er befiehlt ihm in 1. Timotheus 1,4–7 zu lehren:

Dass sie nicht Acht hätten auf die Fabeln und Geschlechterregister, die kein Ende haben, und Fragen aufbringen, mehr denn Besserung zu Gott im Glauben; da doch die Hauptsumme des Gebotes ist Liebe von reinem Herzen, von gutem Gewissen und ungefärbtem Glauben. Dieser haben etliche gefehlt und sind umgewandt zu unnützem Geschwätz; sie wollen der Schrift Meister sein und verstehen nicht, was sie sagen oder was sie behaupten.“

Ebenso mahnt er in 1. Timotheus 6,3–5:

So jemand anders lehrt und nicht bei den heilsamen Worten unseres Herrn Jesu Christi bleibt – die lauter Einfalt und nicht menschliche Spitzfindigkeit, sondern göttliche Weisheit sind – und nicht bei der Lehre von der Gottseligkeit verweilt, der ist verblendet und weiß nichts. Vielmehr ist er krank an Fragen und Wortkriegen, aus denen Neid, Hader, Lästerung, böse Argwohn und Schulgezänke solcher Leute entspringen, die zerrüttete Sinne haben und der Wahrheit beraubt sind, indem sie meinen, Gottseligkeit sei ein Gewerbe.“

So hat er auch seine Kolosser in 2,8 treulich gewarnt:

Sehet zu, dass euch niemand beraube durch die Philosophie und lose Verführung nach der Menschen Lehre und nach der Welt Satzungen und nicht nach Christus.“

Wenn nun ein Gemüt mit einer solchen Theologie angefüllt ist, die zwar den Glaubensgrund aus der Schrift behält, aber so viel Holz, Heu und Stoppeln menschlichen Vorwitzes darauf gebaut hat, dass man jenes Gold kaum mehr sehen kann, so wird es über alle Maßen schwer, wenn es die rechte Einfalt Christi und seiner Lehrer fassen und gern annehmen soll. Denn es hat seinen Geschmack bereits so sehr mit anderen, unserer Vernunft angenehmeren Dingen verwöhnt, dass ihm jene Einfalt völlig abgeschmackt erscheint.

Ein solches Wissen aber, das ohne Liebe bleibt, bläht auf (1. Korinther 8,1). Es lässt den Menschen in seiner Eigenliebe, ja es hegt und stärkt dieselbe mehr und mehr. Denn solche der Schrift unbekannte Subtilitäten entspringen gewöhnlich aus der Begierde, den eigenen Scharfsinn zur Schau zu stellen, sich einen Namen zu machen und weltlichen Nutzen zu erlangen. Da sie aber aus Ehrgeiz entstehen, sind sie auch mehr dazu geeignet, bei jenen, die sich mit ihnen befassen, ebenfalls Ehrsucht und andere für einen wahren Christen unziemliche Leidenschaften zu erregen, als wahre Gottesfurcht zu fördern.

Wer sich in solchen Dingen übt, beginnt, sich darauf viel einzubilden, selbst wenn er vom einzig Notwendigen – das ihm zu gering erscheint – wenig oder nichts versteht. Solche Menschen können es kaum lassen, in der Kirche Christi das zur Schau zu stellen, worin sie sich am besten gefallen, und dies allein zu betreiben, obwohl ihre heilsbegierigen Zuhörer davon wenig Erbauung finden. Wenn sie dann den Zweck, den sie sich gesetzt haben, erreicht haben, besteht dieser darin, dass sie ihre Zuhörer zu einer gewissen Kenntnis der Religionsstreitigkeiten führen und diese für ihre größte Ehre halten, mit anderen zu disputieren. Lehrer und Zuhörer verbleiben in dem Gedanken, dass die richtige Erkenntnis und Behauptung der reinen Lehre die Hauptsache sei – selbst wenn sie durch menschlichen Fürwitz sehr verdunkelt wird.

Wie kann man aber in einem solchen Fall nicht mit St. Paulus rufen (1. Korinther 2,4–5):

Mein Wort und meine Predigt waren nicht in vernünftigen Reden menschlicher Weisheit, sondern in Beweisung des Geistes und der Kraft, auf dass euer Glaube nicht auf Menschenweisheit bestehe, sondern auf Gottes Kraft.“

Ja, wir könnten wohl sagen: Wenn der so hocherleuchtete Apostel heute zu uns käme, würde er wohl vieles nicht verstehen, was manche eingebildete Köpfe an heiliger Stätte vorbringen. Denn er hatte seine Weisheit nicht von Menschenkunst, sondern von der Erleuchtung des Geistes. So weit Himmel und Erde voneinander entfernt sind, so wenig begreift menschliche Weisheit die göttliche Erleuchtung. Und so wenig können die von Gott erleuchteten Seelen sich zu jenen kraftlosen Phantasien herablassen.

Da es nun also bereits in den beiden oberen Ständen – die den dritten Stand regieren und zur wahren Gottseligkeit führen sollten – so aussieht, kann man leicht denken, dass es in letzterem nicht besser bestellt ist und die Regeln Christi überall hintangesetzt werden, wie der Augenschein lehrt.

Unser lieber Heiland hat uns längst das Merkmal seiner Jüngerschaft gegeben, Joh. 13,35: „Daran wird jedermann erkennen, dass ihr meine Jünger seid, so ihr Liebe untereinander habt.“ Hier wird die Liebe zum Kennzeichen gemacht, und zwar eine Liebe, die sich öffentlich hervortut nach 1 Joh. 3,18: „Meine Kindlein, lasset uns nicht lieben mit Worten noch mit der Zunge, sondern mit der Tat und mit der Wahrheit.“ Urteilen wir nun nach diesem Kennzeichen, wie schwer wird es unter dem großen Haufen derer, die den Namen „Christen“ führen, nur eine geringe Anzahl wahrer Jünger Christi zu finden? Und gleichwohl trügt des Herrn Wort nicht, sondern wird wahr bleiben, nun und in Ewigkeit.

Man sehe doch das gewöhnliche Leben unserer sogenannten Lutherischen an (sie tragen aber diesen Namen mit Unrecht, weil sie die Lehre des teuren Luther von dem lebendigen Glauben nicht erkennen): Finden wir nicht schwere Ärgernisse, ja solche, die ganz allgemein verbreitet sind? Ich will nichts sagen von solchen Lastern, die auch die Welt für Unrecht hält, denn deren Ärgernis tut letztlich so viel Schaden nicht. Viel schwerer aber ist das Ärgernis, das mit solchen Sünden gegeben wird, die man entweder gar nicht oder doch nicht für so große, schwere Sünden hält.

Zu dieser Zahl gehört die Trunkenheit, denn sie herrscht nicht nur in großen und kleinen Orten, im geistlichen und weltlichen Stande, sondern findet sogar ihre Verteidiger, welche es für keine Sünde halten, sich bei Gelegenheit mit einem guten Freunde zu betrinken, sobald es nur nicht zu oft geschehe. Sie geben allenfalls zu, dass derjenige, der daraus gar ein Handwerk machen wollte, sich damit versündige. Daher wird diese Sünde niemals bußfertig erkannt. Denn wäre dem so, so müsste ein solcher Hass gegen sie entstehen, dass man sie nun und nimmermehr wieder begehen möchte – möge uns dazu verleiten, wer da wolle.

Aber kommt es dem Volke nicht ganz fremd und ungereimt vor, dass man auch diese Sünde ein für allemal lassen müsse, wenn man ein Kind Gottes sein wolle? Vielmehr gelten in den Augen des größten Teils unseres Volkes diejenigen, welche gegen solche Sünden eifern, für wunderliche Leute. Und man sucht eine Menge anderer nichtiger Ursachen auf, warum sie dieser Ergötzlichkeit feind sind – nur um nicht ihre Lehre in diesem Punkt für göttlich zu erkennen, was sie gleichwohl ist. Denn St. Paulus setzt 1 Kor. 6,9-10 die Trunkenbolde in keine vor Gott ehrlichere Gesellschaft als die Hurer, Abgöttischen, Ehebrecher, Weichlinge, Knabenschänder, Diebe, Geizigen, Lästerer, Räuber, die alle überhaupt nach seiner Erklärung vom Reiche Gottes ausgeschlossen werden.

Dabei kommt man nicht mit der Behauptung durch, als seien in dieser Stelle nur diejenigen gemeint, welche sich alle Tage betrinken und ihre einzige Freude darin suchen – nicht aber die, welche es seltener, bei besonderen Gelegenheiten, anderen zuliebe täten. Denn zu schweigen davon, dass die Richtigkeit dieses Einwurfs auch anderweitig aus der Schrift dargetan werden kann, so möchte ich nur solche Leute fragen, ob sie das Leben eines Menschen nur dann für verdammlich halten, wenn er täglich hure, die Ehe breche, Knaben schände, stehle, raube – oder ob sie nicht zugeben müssten, dass schon einmal im Jahr oder gar im Monat solche Sünden zu begehen zu viel sei und solche lasterhafte Leute, wenn sie nicht rechtschaffen Buße täten, der Seligkeit verlustig gingen?

Wenn ich nun erwarten darf, dass dies Letztere von allen erkannt wird, die nur etwas göttliche Erkenntnis haben, wie kommt es dann, dass wir allein die Sünde der Trunkenheit für so gering halten, dass wir nur bei ihrer stets wiederholten Ausübung ihre Strafbarkeit zugeben wollen? Denn was haben wir anderes zu ihrer Verteidigung als die alte hergebrachte Gewohnheit der Deutschen? Meinen wir aber, dass unsere Gewohnheiten Gottes Wort aufheben? Gewiss so wenig, wie man obigen Worten Pauli hätte entgegenhalten können, dass bei den Griechen eine solche Gewohnheit auch eingerissen gewesen wäre. Ja, so wenig wir die Laster anderer Völker, z. B. Unzucht oder Diebstahl, deswegen nicht für Laster halten, weil sie bei ihnen zur Gewohnheit geworden sind, so wenig können wir unsere Trunkenheit entschuldigen. Und umso weniger wird sich der gerechte Gott von uns einen Strich durch sein Gesetz machen lassen.

Wenn aber einige deshalb die Trunkenheit nicht für eine so schwere Sünde gelten lassen wollen, weil sonst die wahren Christen unter uns gar zu dünn gesät wären, so stimme ich dieser Folgerung bei. Und ich schließe noch weiter, dass diese Sünde umso gefährlicher ist, je allgemeiner sie ist und je weniger sie als Sünde erkannt wird, sodass man sich sogar – wie die Sodomiter – ihrer rühmt oder sie beschönigt oder gar für ganz gering achtet.

Man betrachte ferner die Menge der Prozesse, und man wird finden, wenn man sie recht untersucht, dass dieselben höchst selten ohne Verletzung der christlichen Liebe und in den rechtmäßigen Schranken auch nur von einer Seite geführt werden. Es ist zwar kein Unrecht, sich der göttlichen Hilfe durch die Obrigkeit zu bedienen und sie gerichtlich zu suchen, aber wir müssen uns dabei doch gegen den Nächsten so verhalten, wie wir verlangen, dass er sich gegen uns verhalten solle. Dass dies aber in der Regel nicht geschieht, sondern die meisten, welche ihr Recht bei der Obrigkeit suchen, die Hilfe derselben nur als Mittel gebrauchen, um ihre Rachgier, Unbilligkeit und sündlichen Begierden zu befriedigen, das ist abermals eine Sünde, die nicht als solche betrachtet wird und an die man daher in der Buße fast gar nicht denkt.

Sieht man auf die Handlungen, Handwerke und andere Berufsarten, mit denen jeder seinen Lebensunterhalt sucht, so sind dieselben so wenig nach den Regeln Christi eingerichtet, dass vielmehr nicht wenige öffentliche Verordnungen und hergebrachte Gebräuche in denselben ihnen schnurstracks zuwiderlaufen. Wie selten bedenkt jemand, dass die Absicht seiner Berufsarbeiten nicht bloß seine eigene Erhaltung und die Erwerbung seiner Notdurft sein soll, sondern ebenso sehr die Ehre Gottes und der Nutzen des Nächsten!

Daher hält man es nicht für Sünde, wenn man solche Vorteile nutzt, die in der Welt keinen bösen Namen nach sich ziehen, sondern wohl als Klugheit und Vorsichtigkeit gerühmt werden, obgleich sie unserem Nebenmenschen sehr beschwerlich sind und ihn wohl gar unterdrücken und aussaugen. Selbst diejenigen, die als die besten Christen gelten wollen, machen sich hierüber wohl kein Gewissen. So hat die leidige Gewohnheit die Regeln unseres Christentums verdunkelt, dass es uns ungereimt erscheinen will, wenn man in den einzelnen Fällen das verlangt, was im Allgemeinen von allen zugestanden wird: den Nächsten zu lieben wie sich selbst. Denn die Kraft dieser Worte wird wenig erwogen.

Zwar ist die Gemeinschaft der Güter, welche in der ersten jerusalemitischen Kirche bestand, unter den Christen nicht geboten, aber wer denkt wohl daran, dass eine andere Gemeinschaft der Güter durchaus notwendig sei? Muss ich nämlich erkennen, dass ich nichts Eigenes habe, sondern dass alles Eigentum meines Gottes ist und ich nur ein bestellter Haushalter darüber bin, so steht es mir keineswegs frei, das Meine für mich zu behalten, wie und solange ich will. Vielmehr darf mich kein Bedenken zurückhalten, es als ein gemeinschaftliches Gut hinzugeben, sobald die Liebe es erfordert, um es zur Ehre des Hausvaters und zur Notdurft meiner Mitknechte anzuwenden. Mein Nebenmensch mag es zwar nach weltlichem Recht nicht fordern, doch darf ich es ihm ohne Verletzung des göttlichen Rechts der Liebe nicht vorenthalten, wenn ihm dadurch wirklich geholfen werden kann.

Sind das nicht fast fremde Lehren, wenn man davon redet? Und doch ist es eine notwendige Folge der christlichen Liebe, wie sie in der ersten Kirche durchgängig praktiziert wurde. Dort hob weder die Gemeinschaft, in der niemand etwas Eigenes besaß, die Gelegenheit zur Tugend und christlichen Liebe auf, noch wurde das weltliche Eigentum zum Hindernis der brüderlichen Liebe. Daher hatten die Reichen bei den ersten Christen keinen anderen Vorteil, als dass sie auch reich sein mussten an guten Werken (1 Tim. 6,18). Sie hatten die Sorge und Mühe, ihr Eigentum recht zu verwalten, indem sie jederzeit bereit waren, es dort anzuwenden, wo sie ihre Liebe zu Gott und dem Nächsten bezeugen konnten und dessen Notdurft sahen. Die Armen hingegen hatten keine andere „Beschwerde“ – wenn man es denn so nennen will – als dass sie nicht von ihrem eigenen Besitz, sondern von der Handreichung ihrer Brüder lebten. Betteln war unter den Brüdern nicht notwendig, denn sie hätten es als ebenso ungeziemend empfunden, es unter sich dazu kommen zu lassen, wie es Gott im Alten Testament in seiner wohlgeordneten Polizei-Ordnung den Juden nicht gestattete (5 Mos. 15,4).

Jetzt aber ist es dahin gekommen, dass das Betteln ganz allgemein ist, obgleich man es vielmehr als ein Mittel, einen Deckmantel und eine Beförderung vieler großer Sünden betrachten sollte. Es ist eine Beschwerde für diejenigen, die zu christlicher Mildtätigkeit geneigt sind, eine Verkürzung der wirklich Bedürftigen, ein schändlicher Missstand des Gemeinwesens – ja, ein Schandfleck unseres Christentums. Die meisten Menschen kennen kaum noch eine andere Form der Wohltätigkeit gegenüber dem notleidenden Nächsten, als Bettlern mit Unwillen einige Pfennige hinzuwerfen. Sie sind weit davon entfernt zu erkennen, dass sie auch zu solchen Liebeserweisungen verpflichtet sind, bei denen sie die Ausgaben tatsächlich spüren sollten.

Im Alten Testament musste man nach göttlicher Verordnung mehr als den Zehnten – denn wie aus dem Gesetz ersichtlich ist, gab es davon mehrere Arten – für die Unterhaltung des Predigtamtes, des Gottesdienstes und der Armen zurücklegen und anwenden. Sollten uns nicht die reichlichen Wohltaten, die Christus uns erwiesen hat, noch viel mehr bereitwillig machen, nicht weniger, sondern noch mehr und alles, was wir haben, hinzugeben, wenn die Notdurft des Nächsten es erfordert? Dass dies nicht geschieht und dass selbst die Mildtätigkeit der wohltätigsten Menschen fast nie über das Teilen ihres Überflusses hinausgeht (Mark. 12,44), zeigt deutlich, wie weit wir von der ernsthaften Übung der Bruderliebe entfernt sind – so sehr, dass wir kaum glauben wollen, was sie tatsächlich erfordert.

Dies ist nicht der Ort, um alles auszuführen, doch aus diesen Beispielen wird hinreichend deutlich, dass Sünden unter uns herrschen, die – ungeachtet des deutlichen Zeugnisses der Schrift – nicht als Sünden erkannt werden, wodurch ihr Ärgernis umso größeren Schaden anrichtet.

Dabei bleibt es nicht, sondern wenn wir die Art und Weise betrachten, wie der große Haufen gewöhnlich Gott dient, so ist sie nicht gemäß unserer heilsamen Lehre. Dies hat der selige D. Paul Tarnow in seiner „Rede vom neuen Evangelium“ so trefflich dargelegt, dass es wünschenswert wäre, wenn dieses Werk in aller Hände gelangte.

Wir erkennen gerne an, dass wir einzig und allein durch den Glauben selig werden und dass die Werke oder der gottselige Wandel weder viel noch wenig zur Seligkeit beitragen. Diese gehören vielmehr als Frucht des Glaubens zur Dankbarkeit, zu der wir Gott verpflichtet sind, nachdem er bereits unserem Glauben die Gerechtigkeit und Seligkeit geschenkt hat. Es sei ferne von uns, von dieser Lehre auch nur einen Fingerbreit abzuweichen, da wir lieber unser Leben und die ganze Welt hingeben würden, als das Geringste von dieser Wahrheit preiszugeben.

Ebenso erkennen wir die Kraft des göttlichen gepredigten Wortes an, dass es eine Kraft Gottes ist, um alle selig zu machen, die daran glauben (Röm. 1,16). Deshalb sind wir nicht nur dazu verpflichtet, es fleißig zu hören, sondern auch deshalb, weil es die göttliche Hand ist, die die Gnade anbietet und dem Glaubenden überreicht – und zwar durch die Gnade des Heiligen Geistes, der das Wort selbst in uns erweckt.

Ich kann auch die Taufe und ihre Kraft nicht hoch genug preisen und glaube, dass sie das eigentliche Bad der Wiedergeburt und Erneuerung durch den Heiligen Geist ist (Tit. 3,5). Oder, wie unser Luther im Katechismus sagt: „dass sie Vergebung der Sünden wirke, von Tod und Teufel erlöse und (nicht nur verspreche, sondern tatsächlich) die ewige Seligkeit gebe.“ Nicht weniger erkenne ich die herrliche Kraft des nicht nur geistlichen, sondern auch sakramentalen, mündlichen Genusses des Leibes und Blutes des Herrn im heiligen Abendmahl an. Und ich widerspreche von Herzen den Reformierten, wenn sie leugnen, dass wir dieses Pfand unserer Erlösung in, mit und unter dem Brot und Wein empfangen, indem sie seine Kraft schwächen und keine andere Wirksamkeit darin erkennen als die, die auch außerhalb des Sakraments beim geistlichen Genuss vorhanden wäre.

Wie ich nun die Lehre unserer Kirche in all diesen Punkten von Herzen und mit Überzeugung vertrete und daher Luthers Schriften umso wertvoller für mich sind, da sie diese Wahrheiten in einzigartiger Fülle enthalten, so kann ich nicht leugnen, dass ich feststelle, wie der große Haufen, der sich ebenfalls „evangelisch“ nennt, ganz andere Vorstellungen und Einbildungen hegt, die unserer Lehre und dem Bekenntnis unserer Kirche zuwiderlaufen.

Wie viele gibt es, die ein so offensichtlich unchristliches Leben führen, dass sie selbst zugeben müssen, dass sie in allen Punkten von der Regel abweichen und auch keinen Vorsatz haben, künftig anders zu leben – und sich dennoch fest einbilden, dass sie dennoch selig werden? Fragt man sie, worauf sich ihre Hoffnung gründet, so wird sich herausstellen – was sie selbst bekennen –, dass sie sich darauf verlassen, dass wir ja nicht durch unser Leben selig werden. Sie sagen: „Nun, ich glaube ja an Christus und setze all mein Vertrauen auf ihn, also kann es nicht fehlen, dass ich durch diesen Glauben selig werde.“ Doch sie halten eine fleischliche Einbildung eines Glaubens für den Glauben, der selig macht – was ein schrecklicher Betrug des Teufels ist.

Unser teurer Luther spricht ganz anders über den Glauben. In seiner Vorrede zur Epistel an die Römer sagt er:

„Glaube ist nicht der menschliche Wahn und Traum, den Etliche für Glauben halten; und wenn sie dann sehen, dass keine Besserung des Lebens und keine guten Werke folgen, und doch viel vom Glauben hören und reden können, fallen sie in den Irrtum und sprechen: ‚Der Glaube sei nicht genug, man müsse Werke tun, soll man fromm und selig werden.‘“

Es ist also gewiss, dass all jene, die in herrschenden Sünden leben – und daher des Heiligen Geistes und des rechten Glaubens nicht fähig sind –, keinen anderen Glauben besitzen können als einen solchen menschlichen Wahn. Doch wie groß ist ihre Zahl!

Die leere Einbildung des Glaubens, dieses von unserer Seite einzigen Mittels zur Seligkeit, tut also großen Schaden. Dazu kommt in Bezug auf die von Gott verordneten Gnadenmittel des Wortes und des Sakraments eine andere schädliche Einbildung: als genügte schon der bloße äußerliche Gebrauch derselben. Dadurch wird die Kirche nicht weniger verwüstet, viele Menschen zur Verdammnis geführt und in der falschen Einbildung des wahren Glaubens gestärkt.

Denn wir können nicht leugnen, sondern werden durch die tägliche Erfahrung davon überzeugt, dass nicht wenige meinen, ihr ganzes Christentum bestehe darin, und alsdann hätten sie dem Gottesdienst genug getan, wenn sie eben getauft wären, das Wort Gottes in der Kirche hörten, beichteten, die Absolution empfingen und zum heiligen Abendmahl gingen – mag nun das Herz dabei sein oder nicht, mögen Früchte folgen oder nicht. Wenn es hoch kommt, bemühen sie sich etwa, dabei ein solches Leben zu führen, in dem die Obrigkeit nichts Strafbares findet.

Oder, wie der teure Johann Arndt solche Leute in seinem Werk Wahres Christentum (Buch 2, Kapitel 4) beschreibt:

„Ich bin ein Christ, getauft, habe Gottes Wort rein, höre dasselbe, gebrauche das heilige Sakrament des Abendmahls, ich glaube und bekenne auch alle Artikel des christlichen Glaubens; darum kann es mir nicht fehlen, mein Tun muss Gott gefallen, und ich muss selig werden. So schließt jetzt alle Welt und hält auch dafür, darin bestehe die Gerechtigkeit.“

Man sehe am angegebenen Ort auch die Antwort. Aber damit kehren solche blinde Leute Gottes heilige Absicht ganz um. Denn Gott hat dir freilich die Taufe gegeben, dass du nur einmal getauft werden darfst. Aber er hat mit dir darin einen Bund gemacht, welcher auf seiner Seite ein Gnadenbund, von deiner Seite aber ein Bund des Glaubens und guten Gewissens ist. Dieser Bund muss nun dein Leben lang währen.

Du tröstest dich also vergeblich deiner Taufe und der darin zugesagten Gnade der Seligkeit, wenn du auf deiner Seite nicht auch in dem Bunde des Glaubens und guten Gewissens bleibst oder, wenn du ihn verletzt, ihn wiederum durch herzliche Buße aufrichtest. Also muss deine Taufe, soll sie dir nützen, in steter Übung des ganzen Lebens bleiben.

Wiederum hörst du das Wort Gottes. Das ist recht getan, aber es ist nicht genug, dass dein Ohr es hört. Lässt du es auch innerlich in dein Herz dringen und solche himmlische Speise daselbst verdauen, sodass du Saft und Kraft davon empfängst? Oder geht es zu einem Ohr hinein, zum anderen hinaus? Im ersten Fall gilt dir freilich das Wort des Herrn (Lukas 11,28):

„Selig sind, die Gottes Wort hören und bewahren.“

Ist aber Letzteres der Fall, so kann das Werk, dass du es gehört hast, dich nicht selig machen, wohl aber deine Verdammnis vergrößern, weil du die empfangene Gnade nicht besser angewendet hast.

Wie viele aber sind nun derer, die nicht einmal sagen können, dass sie Gottes Wort bei sich Frucht bringen lassen, und dennoch sich einbilden, das solle sie selig machen – dass sie ihrer Meinung nach mit dem Kirchengehen Gott solchen Gehorsam und Dienst geleistet haben!

So geht es auch mit der Beichte und Absolution, die wir freilich für ein kräftiges Mittel des evangelischen Trostes und der Vergebung der Sünden halten – aber nur für Gläubige. Doch trösten sich damit so viele, bei denen nicht das Geringste von dem oben beschriebenen wahren Glauben zu finden ist. Sie beichten und lassen sich absolvieren bei aller fortwährenden Unbußfertigkeit und bilden sich ein, dass ihnen dies nützen soll, weil sie die Beichte gesprochen haben und die Absolution über sie gesprochen wurde.

Dasselbe geschieht beim heiligen Abendmahl, wobei unglaublich viele Leute nur daran denken, dass sie das heilige Werk verrichten und wie oft sie es bereits getan haben. Aber ob sie auch ihr geistliches Leben dadurch gestärkt sehen, ob sie mit Herz, Mund und Nachfolge des Herrn Tod verkündigen, ob der Herr bei ihnen wirkt und herrscht oder ob sie den alten Adam noch auf seinem Thron lassen – daran wird kaum gedacht.

Das heißt ja, recht unvermerkt den schädlichen Irrtum des operis operati, den wir an den Katholiken tadeln, in gewisser Weise wieder einzuführen. Daran ist nun nicht die Lehre unserer Kirche schuld, welche solchen Einbildungen eifrig widerspricht. Vielmehr ist es die Bosheit der Menschen und die List des Teufels, der die von Gott verordneten Mittel zur Seligkeit den Menschen zur Veranlassung größerer Sicherheit und desto schwererer Verdammnis zu machen sucht.

Außerdem ist nicht zu leugnen, dass manche Prediger mit mehr Fleiß solcher Sicherheit und falschen Einbildungen widersprechen und den Leuten die Augen öffnen sollten. Dadurch könnten mehrere noch aus ihrem Schlafe aufgeweckt und aus dem Verderben gerissen werden.

Dies ist leider der betrübte Zustand der äußerlichen Gestalt unserer evangelischen Kirche, obwohl dieselbe die wahre und in der Lehre reine Kirche ist.

Daran stoßen sich zunächst die Juden, die unter uns wohnen. Diese werden in ihrem Unglauben gestärkt, ja zur Lästerung des Namens des Herrn gereizt. Denn sie können unmöglich glauben, dass wir Christus für einen wahren Gott halten, wenn wir seinen Geboten so wenig folgen. Oder sie müssen unseren Herrn Jesus für einen bösen Menschen halten, wenn sie ihn und seine Lehre aus unserem Leben beurteilen.

Wir können also nicht leugnen, dass das Ärgernis, welches die armen Leute an uns nehmen, eine große Ursache der bisherigen Verstockung der Juden und ein bedeutendes Hindernis ihrer Bekehrung gewesen ist.

Wie andere, so hat dies mit nachdrücklichen Worten beklagt der hochberühmte Straßburger, nachmals aber Rostocker Professor Dr. Johann Georg Dorscheus, wenn er in einem Programm zu der von Herrn L. Jakob Helwig über die Materie des apostolischen Geheimnisses (Römer 11,25–26) zu haltenden Disputation also redet:

„Wie früher die Juden, so viel an ihnen war, verhinderten, dass den Heiden das Evangelium gepredigt wurde, so verscherzen die Christen ihr eigenes Heil und hindern die Seligkeit der Juden und anderer Ungläubiger, die sie vielmehr fördern und zu Wege bringen sollten. Denn sie leben in den schädlichsten Ärgernissen, Gottlosigkeit, Heuchelei, Ungerechtigkeit, Betrügerei, Unreinigkeit, anderen erschrecklichen Lastern, Spaltungen, Hass, Streit, grausamen und erschrecklichen Kriegen. Besonders und hauptsächlich aber haben sie das Band der heiligsten brüderlichen Liebe zerrissen.

Wenn aber solche Dinge, die mit dem seligmachenden Glauben durchaus nicht bestehen können, unter uns auf eine so auffallende Weise herrschen – wer sollte denn nicht den so höchst verderbten, gefährlichen und fast verzweifelten Zustand unserer Kirche bitterlich beweinen? Wer sollte zweifeln, dass nicht unsere Tage die letzten und recht schwere Zeiten seien? Wer sollte nicht die meisten von denen, die Christi Namen bekennen, unter die Zahl derjenigen rechnen müssen, die um ihres Unglaubens willen durch Gottes strenges Gericht abgehauen werden? Denn das heutige gottlose und verruchte Leben der Christen, die zwar den Schein der Gottseligkeit haben, aber ihre Kraft verleugnen und durch Missbrauch der göttlichen Langmut und Güte sich den Zorn als einen Schatz häufen, ist ja nichts anderes als ein lauter Zeuge des herrschenden boshaften Unglaubens.“

Sonderlich aber ist es Gott allein bekannt, mit was für Wehmut gottselige Herzen solches betrübte Wesen ansehen und mit wie vielen tausend Seufzern und Tränen sie den Schaden Josephs bejammern, dass sie dergleichen mit Augen schauen und doch keine Hilfe mehr absehen, sondern bemerken müssen, dass es fast immer ärger werden wolle.

Wie oft rufen sie mit David in Psalm 119,53: „Ich bin entbrannt über die Gottlosen, die dein Gesetz verlassen.“ Vers 136: „Meine Augen fließen mit Wasser, dass man dein Gesetz nicht hält.“ Vers 139: „Ich habe mich schier zu Tode geeifert, dass meine Widersacher dein Wort vergessen.“ Vers 158: „Ich sehe die Verächter und es tut mir weh, dass sie dein Wort nicht halten!“

Es schmerzt sie umso mehr, dergleichen Gräuel zu sehen, je herzlicher sie ihren Gott lieben und je sehnlicher sie die Heiligung seines Namens, die Erweiterung seines Reiches und die Vollbringung seines Willens gefördert sehen möchten, was daher auch die Gegenstände ihres täglichen Gebets sind. Es jammert sie um so vieler Seelen, die sie in solcher Gefahr wissen. Es fällt ihnen selbst schwer, sich unter solchen Ärgernissen von der Welt unbefleckt zu erhalten, und sie sind besorgt, dass nicht etwa sie selbst oder doch die Ihrigen von diesem Strom des Verderbens mit hingerissen und verführt werden könnten.

Unter solchen Umständen kann die Freude über den äußerlichen ruhigen Wohlstand, wenn Gott sie damit gesegnet hat, den tiefen Schmerz über das allgemeine Elend nicht heben. Und erhielte sie nicht die starke Hand Gottes und versicherte sie, dass sie, wenn sie auch die allgemeine Besserung nicht erlebten, doch mit Baruch (Jeremia 45,5) ihre Seele zur Beute davonbringen sollten, so würden sie gar in ihrer Betrübnis versinken.

Dieses Verderben unserer evangelischen Kirche ist auch die vornehmste Ursache, wodurch viele gute Gemüter, die sich in anderen irrgläubigen Gemeinden, sonderlich aber in der römischen Kirche befinden, abgehalten werden, sich zu uns zu bekennen, obwohl sie den in ihrer Kirche herrschenden Gräuel so deutlich erkennen, dass sogar Katholiken den Papst und seinen Stuhl für den von Gott verkündeten Antichristen halten und zuweilen ihr Herz in wehmütigen Klagen ausschütten.

Wenn sie also auch bei dieser Erkenntnis der bei ihnen herrschenden Irrtümer und Gräuel bereit wären, sich einer offenbaren Gemeinde Jesu Christi mit Freuden einzuverleiben, wenn sie eine solche wüssten, so kommen sie doch letztlich zu dem Gedanken, es müsse keine reine Kirche mehr auf der Welt geben, sondern die Kinder Gottes lägen noch gefangen in Babel. Daher erwarten sie mit Geduld die göttliche Erlösung und dienen Gott in solcher babylonischen Knechtschaft mit Furcht und Zittern, wobei sie sich der gröbsten Gräuel, so viel sie noch können, enthalten und die übrigen aber beklagen.

Außer diesem sehen sie kein anderes Mittel und leben also in steter Unruhe und Angst ihres Herzens. Denn die meisten von ihnen betrachten unsere Kirche nur äußerlich, da ihnen unsere Lehre nicht bekannt ist. Andere, die diese kennen, halten sie für einen bloßen Vorwand, wenn ihr das Leben nicht entspricht, und wissen, dass das Reich Gottes nicht in Worten, sondern in der Kraft besteht. Daher halten sie unsere Kirche ebenso wenig für die wahre wie ihre eigene, sondern betrachten alles als ein babylonisches Mischmasch, in dem kein Teil dem anderen viel voraus hat, sodass es nicht lohnenswert sei, von einer zur anderen zu wechseln.

Wir können dennoch solche Leute nicht entschuldigen, denn sie haben genug Gelegenheit, die Lehre unserer Kirche zu erfassen. Wenn sie diese mit Gottes Wort übereinstimmend und ihre eigene dagegen als widersprechend fänden, wären sie in ihrem Gewissen verpflichtet, sich dann der in der Lehre wenigstens reinen Kirche anzuschließen. Dort dürften sie gemäß der göttlichen Verheißung in Jesaja 55 mit Recht hoffen, wahre fromme Kinder Gottes anzutreffen, in deren Bekenntnis sie keinem Irrtum beipflichten und bei deren Gottesdienst sie keiner Abgötterei oder ähnlicher Sünden sich teilhaftig machen müssten. So könnten sie sich dennoch rein erhalten, auch wenn sie vieles Ärgernis sehen.

Denn es wäre zu viel verlangt, wenn man unsere Kirche allein wegen der oben erwähnten Ärgernisse zu Babel zählen wollte. Was das geistliche Babel sei, haben wir von niemand anderem als dem Heiligen Geist zu lernen. Derselbe aber hat sie in Offenbarung 18,5.9.18 durch Johannes’ Feder so beschrieben, dass man mit halb geschlossenen Augen noch erkennen kann, dass damit nichts anderes gemeint sein kann als Rom, die große Stadt, die über die Könige der Erde herrschte und, nachdem sie das weltliche Regiment über den Erdkreis verloren hatte, dieses nun im Geistlichen wieder zu erringen sucht.

Wir haben nun nicht die Macht, das geistliche Babel nach eigenem Gutdünken außerhalb der Schrift zu bestimmen. Es kann also keine Gemeinde zu Babel gehören, die Babel und deren Regiment öffentlich verwirft, ihr in nichts zu Willen ist und sich von ihr nicht regieren lässt – auch wenn sie sonst Mängel und etwas von den in Babel angenommenen bösen Sitten an sich hat.

Wir können Gott nicht genug für die Wohltat danken, dass er uns durch das selige Reformationswerk – wie einst die Juden durch das Edikt des Kyrus unter dem Hohenpriester Jeschua und dem Fürsten Serubbabel – aus der römischen babylonischen Gefangenschaft geführt und in die selige Freiheit gesetzt hat.

Doch es ist uns beinahe ergangen wie den alten Juden. Diese waren zwar zurückgekehrt, hatten Stadt und Land inne, und man fing an zu bauen. Auch wurde im zweiten Jahr der Grund zum Hause des Herrn gelegt, aber es fehlte nicht an Widerwärtigen, die ihnen im Wege standen und sogar ein Verbot des Königs Artaxerxes erreichten, sodass der Tempelbau bis in das zweite Jahr des Darius gänzlich ruhen musste.

Dazu kam die große Nachlässigkeit der Juden, die sich damit zufriedengaben, dass sie aus Babel erlöst waren und einigermaßen ihren Gottesdienst halten konnten. Nun beeiferten sie sich nicht sonderlich, diesen in den rechten Stand zu bringen, sondern genossen ihren zeitlichen Frieden und ihre Ruhe und entschuldigten sich nach Haggai 1,2: „Die Zeit ist noch nicht da, dass man das Haus des Herrn baue“, woraufhin der Herr in Haggai 1,4 straft: „Aber eure Zeit ist da, dass ihr in getäfelten Häusern wohnet, und dies Haus muss wüst stehen.“

Zwar waren die Juden aus der Gefangenschaft, aber ihr Zustand im Geistlichen und Weltlichen war noch gar nicht, wie er sein sollte. Die Geringschätzung des Hauses des Herrn klebte ihnen von Babel her noch so sehr an, dass ihr geistlicher Zustand möglicherweise kaum besser war als in der Gefangenschaft – bis schließlich durch das ernste Zureden der Propheten Sacharja und Haggai unter der Aufsicht Serubbabels und Jeschuas der Tempel vollendet wurde.

Damit war jedoch immer noch nicht alles getan, was geschehen sollte, und nicht alles wiederhergestellt, was der König von Babel zuvor zerstört hatte. Vielmehr trugen Esra, der Schriftgelehrte, und nach ihm Nehemia noch vieles zur Ordnung der Kirche, zur Wiederherstellung der Stadtmauern und zur bürgerlichen Ordnung bei, wie in den Büchern Esra und Nehemia nachzulesen ist.

Wir decken auch nichts auf, was nicht leider ohnehin vor Augen liegt, und wollen der heimlichen Gebrechen im Einzelnen nicht gedenken. Es ist also vergeblich, das Offensichtliche vor den Widersachern verbergen zu wollen. Bilden wir uns das ein, so schmeicheln wir uns sehr, wenn wir glauben, sie sähen unsere Gebrechen nicht viel schärfer als wir selbst. Der Feind hat Luchsaugen und erkennt manches, was der andere an sich selbst nicht wahrnimmt. Wenn wir daher auch das, was jene längst gesehen haben, verbergen wollten, so gewinnen wir damit nichts, außer dass es uns später umso mehr vorgehalten wird – als wollten wir es noch einigermaßen verteidigen. Hingegen, wenn man die Fehler erkennt und sein herzliches Missfallen daran bekundet, wird umso deutlicher, dass nicht die ganze Kirche daran Schuld hat.

Unsere Gegner betrachten solche Gebrechen zudem ganz anders, als würden sie aus unserer Religion selbst entspringen und als sei das ganze Herz vergiftet. Wir können jedoch nur zeigen, dass der Schaden sich nur in den Gliedern und im Äußeren befindet, indem wir ihn ohne Beschönigung offenlegen. Auch haben unsere Gegner, besonders die römische Kirche, keinen Grund, das Bekenntnis unserer äußerlichen Gebrechen zu ihrem Vorteil zu missbrauchen. Denn abgesehen von den Gräueln und Hauptgebrechen, die von den Unserigen vor der ganzen Welt aufgedeckt wurden, haben in alter und neuer Zeit redliche und besonnene Leute aus geistlichem und weltlichem Stand ihre eigenen Missstände erkannt und angeprangert, was sie nicht leugnen können und noch täglich tun. Daher sollten sie sich vielmehr darüber schämen und zuerst vor ihrer eigenen Tür kehren, statt sich damit zu rühmen, dass auch bei anderen nicht alles rein sei.

Ja, wir können der römischen Kirche mit gutem Recht nachweisen, dass ein großer Teil der Fehler, die sich bei uns noch finden, von ihr geerbt wurde und dass sie dort in ähnlicher oder noch viel gröberer Weise fortbestehen. Um jedoch die Kirche zu bessern, das Verlangen frommer Herzen zu erfüllen und den Irrenden den Zugang zur Wahrheit weiter zu öffnen, sollten uns sowohl Gottes Ehre als auch die Liebe zur Kirche antreiben, sorgfältiger und fleißiger alle diese Gebrechen zu betrachten – und nicht zu unserem eigenen Schaden die Augen davor zu verschließen, während unsere Gegner ohnehin alles genau genug erkennen. Wer in dieser Sache dem Herrn gehört, muss, so gut er kann, mitwirken, denn es ist eine gemeinsame Aufgabe.

Sehen wir auf die Heilige Schrift, so dürfen wir nicht daran zweifeln, dass Gott seiner Kirche hier auf Erden einen besseren Zustand verheißen hat. Wir haben zuerst die herrliche Weissagung des heiligen Paulus und das von ihm offenbarte Geheimnis (Röm. 11,25-26), dass, nachdem die Fülle der Heiden eingegangen ist, ganz Israel selig werden soll. Das bedeutet, dass ein bedeutender Teil des bisher so verstockten jüdischen Volkes zum Herrn bekehrt werden soll. Darauf weisen viele Stellen der Propheten im Alten Testament hin, etwa Hosea 3,4-5. Wie schon die alten Kirchenväter haben auch fast alle bedeutenden Lehrer unserer Kirche dieses Geheimnis in den Worten des Apostels erkannt. Wir wollen jedoch nicht verschweigen, dass selbst unser sonst hochgeschätzter Lehrer D. Luther und mit ihm verschiedene unserer angesehenen Männer gezweifelt haben, ob Paulus dies wirklich so meinte, wie es der Wortlaut besagt. Sie hielten die Verheißung bereits für erfüllt durch die Bekehrungen seit der Apostel­zeit. Wir wollen dieser Meinung zwar nicht mit weitläufigen Widersprüchen entgegentreten oder sie ausführlich widerlegen, denn auch Erleuchtete können eine Weissagung leicht missverstehen, bevor sie erfüllt ist. Doch ebenso wenig können wir uns von der buchstäblichen Bedeutung der Worte abbringen lassen, die mit dem gesamten Zusammenhang dieser paulinischen Stelle übereinstimmen, und hoffen, dass uns dies niemand verargen wird.

Ferner haben wir auch einen größeren Fall des päpstlichen Roms zu erwarten. Denn obgleich ihm bereits ein merklicher Stoß durch unseren seligen Luther versetzt wurde, ist seine geistliche Macht noch immer viel zu groß, als dass wir behaupten könnten, die Weissagung der Offenbarung (Kapitel 18 und 19) sei bereits erfüllt. Wenn diese beiden Ereignisse eintreten, sehe ich nicht, wie man daran zweifeln könnte, dass die wahre Kirche insgesamt in einen viel seligeren und herrlicheren Zustand kommen wird als heute. Denn wenn die Juden bekehrt werden sollen, muss entweder die wahre Kirche bereits in einem heiligeren Zustand sein, damit ihr heiliger Wandel ein Mittel zu deren Bekehrung wird, oder zumindest müssen die bisherigen Ärgernisse als Hindernis beseitigt sein. Selbst wenn sie durch göttliche Kraft auf eine Weise bekehrt würden, die wir noch nicht vorhersehen können, ist es sehr wahrscheinlich, dass das Beispiel eines solchen neubekehrten Volkes eine merkliche Erneuerung und Besserung unserer Kirche nach sich ziehen wird. Denn unter den neubekehrten Juden wird sich zweifellos derselbe Eifer zeigen wie einst bei den ersten aus den Heiden bekehrten Christen.

Wir dürfen also mit Recht hoffen, dass die gesamte, aus Juden und Heiden gesammelte Kirche mit heiligem Eifer gewissermaßen im Wettbewerb stehen wird, Gott in reinem Glauben und mit reichen Früchten zu dienen und sich gegenseitig zu erbauen. Viel wird dazu beitragen, wenn nicht nur das Ärgernis des antichristlichen Roms beseitigt sein wird, sondern auch jene, die jetzt unter seiner schweren Tyrannei leben und sich – wie viele vor Luthers Zeiten – nirgends anders hinzuwenden wissen, endlich in die Freiheit des Evangeliums eintreten können.

Da uns all dies von Gott verheißen ist, muss seine Erfüllung zu seiner Zeit notwendig eintreten. Denn kein Wort des Herrn fällt auf die Erde, ohne erfüllt zu werden. Während wir auf diese Erfüllung hoffen, dürfen wir jedoch nicht untätig darauf warten und mit den Toren, von denen Salomo spricht, über dem bloßen Wünschen sterben. Vielmehr sind wir alle verpflichtet, nicht säumig zu sein, sondern nach Kräften zur Bekehrung der Juden, zur geistlichen Schwächung des Papsttums oder zur Besserung unserer Kirche beizutragen – und wenigstens so viel zu tun, wie uns möglich ist, auch wenn wir erkennen, dass nicht der ganze Zweck völlig erreicht werden kann.

Es steht außer Zweifel, dass Gottes Ratschluss auch ohne unser Zutun ausgeführt und die Verheißung der Schrift erfüllt werden wird. Doch wir sollten bedenken, dass auch uns gilt, was Mordechai seiner Nichte Esther (Est. 4,14) sagte: „Wenn du in dieser Zeit schweigst, wird eine Hilfe und Errettung von einem anderen Ort den Juden erstehen; du aber und deines Vaters Haus werdet umkommen.“ Wenn wir, denen Gott durch den Dienst Luthers das helle Licht des Evangeliums erneut geschenkt hat, hier säumig sind, wird Gott sich anderweitig Hilfe verschaffen. Doch dies könnte uns schwerer Strafe wegen unserer Undankbarkeit aussetzen, sodass Gott dieses Licht von uns nimmt und zu anderen gibt.

Es darf hier niemand denken, wir beabsichtigten und suchten zu viel. Es sei nicht möglich, alles in solcher Vollkommenheit und nach der Regel zu haben, sodass die üble Beschaffenheit der Zeit eher mit Erbarmen zu tragen als mit Unwillen zu beklagen sei. Wenn man die Vollkommenheit suche, so müsse man aus diesem Leben in jenes gehen; dort würde man allein etwas Vollkommenes antreffen, das man eher nicht zu hoffen dürfe.

Auf solche Einwendungen antworte ich: Einmal ist nach der Vollkommenheit zu trachten gar nicht verboten, sondern wir werden vielmehr dazu angetrieben. Und wie wäre es zu wünschen, dass wir sie erlangen möchten! Andererseits gestehe ich gern, dass wir es in diesem Leben nicht dazu bringen werden. Vielmehr gilt: Je weiter ein frommer Christ kommt, desto mehr wird er sehen, wie viel ihm noch mangele, sodass er sich nie weniger einbilden wird, vollkommen zu sein, als wenn er am meisten danach trachtet. So wie wir sehen, dass sich gewöhnlich die Fleißigsten weit weniger für gelehrt halten als andere, die erst kurze Zeit in die Bücher zu sehen begonnen haben – denn sie erkennen mit der Zeit immer mehr, was zur wahren Gelehrsamkeit gehöre, was sie vorher noch nicht verstanden haben.

So wäre auch hier viel eher zu befürchten, dass sich jene, bei denen kaum ein Anfang geschehen ist, für vollkommen halten möchten, als jene, die mit Ernst der Vollkommenheit nachjagen. Indessen, auch wenn wir es in diesem Leben freilich nimmermehr zu einem solchen Grad der Vollkommenheit bringen werden, dass nichts mehr dazugetan werden könnte oder sollte, so sind wir doch verpflichtet, einen Anfang mit dem Trachten nach der Vollkommenheit zu machen.

Paulus sagt in 2. Korinther 13,11: „Zuletzt, liebe Brüder, freut euch, seid vollkommen“, und in Vers 9: „Desselbige wünschen wir auch, nämlich eure Vollkommenheit.“ In Kolosser 1,28 heißt es: „Wir ermahnen alle Menschen und lehren alle Menschen mit aller Weisheit, auf dass wir jeden Menschen vollkommen in Christus Jesus darstellen.“ Ebenso spricht er in 2. Timotheus 3,17: „Dass ein Mensch Gottes vollkommen sei, zu allem guten Werk geschickt.“ Und in Philipper 3,15: „Wie viele nun unser vollkommen sind, die lasst uns also gesinnt sein.“ Von einem höheren, hier unerreichbaren Grad der Vollkommenheit sagt er jedoch zuvor in Vers 12: „Nicht, dass ich es schon ergriffen habe oder schon vollkommen sei.“

Wie diese Aussagen für jeden einzelnen Christen gelten, so auch für die ganze Kirche, damit sie mehr und mehr vollkommen werde und sowohl für alle Gläubigen als auch für jeden Einzelnen wahr werde, was Paulus in Epheser 4,13 sagt: „Dass wir alle hinkommen zu einerlei Glauben und Erkenntnis des Sohnes Gottes und ein vollkommener Mann werden, der da sei im Maße des vollkommenen Alters Christi.“

Wir meinen nun mit der Vollkommenheit, die wir von der Kirche verlangen, nicht, dass kein einziger Heuchler mehr in ihr sei – denn wir wissen wohl, dass der Weizenacker niemals so rein angetroffen wird, dass sich nicht auch Unkraut auf ihm findet. Aber das wünschen wir allerdings, dass die Kirche von offenen Ärgernissen frei sei, dass also kein offenkundiger Sünder ohne gebührende Ahndung und letztlich ohne Ausschließung in ihr gelassen werde und dass die wahren Glieder der Kirche reichliche Früchte hervorbringen mögen. Dies geschähe so, dass nicht – wie leider jetzt – das Unkraut den Weizen bedecke und unscheinbar mache, sondern umgekehrt der Weizen das Unkraut bedecke, sodass Letzteres kaum mehr wahrgenommen werde.

Sollte man auch dies für unmöglich halten, so führe ich als Beispiel die erste christliche Kirche an – als deutlichen Beweis, dass nicht unmöglich sein kann, was damals möglich gewesen ist. Die Kirchengeschichte bezeugt, dass die erste christliche Kirche in einem solchen seligen Zustand gewesen sei, dass man die Christen an ihrem gottseligen Leben erkannt und von anderen Leuten unterschieden habe. So spricht Tertullian:

„Durch was Anderes zeichnen wir uns von Anderen aus als durch die höchste Weisheit, indem wir eitle Werke des menschlichen Geistes nicht anbeten; durch Genügsamkeit, dass wir nicht nach dem Eigentum anderer trachten; durch Züchtigkeit, die wir nicht einmal mit den Augen verletzen; durch Barmherzigkeit, mit der wir uns den Dürftigen zuwenden; durch die Wahrheit selbst, mit der wir anstoßen; durch Freiheit schließlich, für die wir zu sterben wissen. Wer wissen will, was Christen sind, der muss sie nach diesen Kennzeichen beurteilen.“

Wie wohl stand es damals! Wie herrlich war es, wenn der liebe alte Ignatius in seinem Brief an die Epheser sagen konnte, „dass die, welche sich zu Christus bekannten, nicht nur durch das, was sie sagten, sondern auch durch das, was sie taten, erkannt wurden.“

Eusebius berichtet in seiner Kirchengeschichte (Buch 4, Kapitel 7), dass die Kirche, obwohl sie besonders durch das schlechte Leben der Ketzer bei den Heiden in schlechten Ruf gekommen sei, dennoch in ihrem Ruhm auf außergewöhnliche Weise gewachsen sei. Sie habe sich stets in der Ausübung der Tugend gezeigt und sei durch Ehrbarkeit, Redlichkeit, Freimütigkeit, Zucht und Reinheit des göttlichen Lebens sowie durch Weisheit Allen – sowohl Griechen als auch Ausländern – leuchtend erschienen.

Welcher Ruhm war es, dass Tertullian sich in seinem Buch an den Landpfleger Scapula (Kapitel 4) nicht scheute, im Namen der ganzen Kirche zu erklären: „Das Anvertraute halten wir niemandem vor, Ehebruch ist ferne von uns, die Waisen behandeln wir rechtschaffen, die Notleidenden erquicken wir, niemandem vergelten wir Böses mit Bösem!“

Auch der Heide Plinius bekennt in seiner bekannten Epistel an Kaiser Trajan, dass er, obwohl er einige zur Erforschung der Wahrheit gefoltert habe, nicht erfahren konnte, dass sie sich irgendeines Lasters schuldig gemacht hätten – außer ihrer von den Römern verworfenen Religion. Dieses Bekenntnis eines Feindes, der zugleich ihr Richter war, ist von nicht geringer Bedeutung.

Wenn man die besonderen Beispiele der herrlichen Tugenden betrachtet, die an Einzelnen hervorgetreten sind, kann man nur Freude und Scham empfinden.

Wie nun der Zustand der christlichen Kirche damaliger Zeit unser kaltes und laues Wesen beschämt, so zeigt er zugleich, dass das, was wir wünschen, nicht unmöglich ist. Es muss daher unsere eigene Schuld sein, dass man von uns nicht das Gleiche rühmen kann. Denn derselbe Heilige Geist, der damals in den ersten Christen all dies gewirkt hat, ist auch uns von Gott geschenkt und ebenso kräftig und willig, das Werk der Heiligung in uns zu vollbringen. Die einzige Ursache kann also nur sein, dass wir ihn nicht in uns wirken lassen, sondern seine Gnadenwirkungen selbst behindern.

Daher ist es nicht vergeblich, sich damit zu befassen, wie die Kirche wieder in einen besseren Zustand gebracht werden könnte.

In der Sache aber, die uns alle angeht, ist es die Pflicht aller Christen, vor allem aber aller, die der Herr an irgendeinem Ort zu Wächtern seiner Kirche gesetzt hat, auf den jeweiligen Zustand der Kirche zu sehen und darauf bedacht zu sein, wie ihnen zu helfen sei. Zudem ist die Kirche ein solcher Leib, der überall die gleiche Natur hat, und deswegen, wenn auch nicht jederzeit überall mit derselben Krankheit behaftet, doch stets dieser Gefahr unterworfen ist. Wer also fleißig untersucht und erkannt hat, was ihm bei seiner Gemeinde zur Besserung derselben dienlich ist, der wird auch ziemlich richtig erkennen, wie, unter Beachtung der verschiedenen Umstände, anderen Gemeinden ebenfalls zu helfen sei. Dieser unstreitig jedem Prediger obliegenden Pflicht zufolge habe auch ich bisher nach dem Vermögen, das Gott verliehen hat, Acht gegeben, wie die Mängel der mir und meinen geliebten Amtsbrüdern anvertrauten hiesigen Kirche zu bessern und sie mehr zu erbauen wären, und er- kühne mich auch nun, das, was ich in gottseligem Nachdenken nach Anleitung der Schrift für nützlich und notwendig erachtet habe, hier zu Papier zu bringen, ob wenigstens dadurch anderen erleuchteteren und einfluss­reicheren Männern Anlass gegeben werde, auch an ihrem Teil diesem wichtigen Werk nachzudenken und zu ersetzen, woran es diesen Vorschlägen mangeln sollte, oder wenn diese nicht ausführbar befunden würden, bessere Vorschläge zu machen. Wie ich denn bereit bin, jedem, auch dem Einfältigsten, der mir in meinen Amtsverrichtungen und allem anderen, was zur Erbauung gehört, etwas Besseres und Vorzüglicheres zeigen wird, zu weichen und für seine Zurechtweisung zu danken. Denn es ist ja alles nicht unsere, sondern Gottes Sache, und es steht ihm frei, auch durch Mittelpersonen, die vor der Welt unscheinbar und verachtet sind, dergleichen Dinge vorzutragen, die er zu segnen beschlossen hat. In diesem Vertrauen und williger Unterwerfung unter solche, welche das Beste der Kirche mehr erforscht haben, gingen meine unvorgreiflichen Gedanken in dieser Sache dahin, dass unserer ganzen Kirche, so wie jedem einzelnen Teil derselben, auf nachstehende Weise durch göttliche Gnade geholfen und sie wieder in einen blühenderen Zustand gebracht werden möge. Dabei bemerke ich noch, dass ich nicht alle Mittel hier anführe, z. B. die Aufrichtung der Kirchenzucht, welche gleichwohl von der höchsten Wichtigkeit, aber von dem teuren und eifrigen Theologen Johann Saubert in seinem nie genug gepriesenen „Zuchtbüchlein“ zur Genüge behandelt ist; ebenso die Auferziehung der Jugend u. s. w.

I.

Man müsste darauf denken, das Wort Gottes reichlicher unter uns zu bringen. Wir wissen, dass wir von Natur aus nichts Gutes an uns haben, sondern, soll etwas an uns sein, so muss es von Gott in uns gewirkt werden, und dazu ist das Wort Gottes das kräftige Mittel, indem der Glaube durch das Evangelium entzündet werden muss, das Gesetz aber die Regel der guten Werke und viele herrliche Antriebe gibt, denselben nachzujagen. Je reichlicher also das Wort Gottes unter uns wohnen wird, desto mehr werden wir Glauben und dessen Früchte entspringen sehen. Nun sollte es zwar scheinen, dass das Wort Gottes reichlich genug unter uns wohne, indem an manchen Orten (und zwar auch in hiesiger Stadt) täglich, anderswo doch öfter, von der Kanzel gepredigt wird. Wo wir aber der Sache reiflich nachdenken, werden wir auch in diesem Punkt vieles finden, was noch weiter notwendig wäre. Ich verwerfe die Predigten nicht, wie sie gewöhnlich gehalten werden, wobei aus einem bestimmten vorgelegten Text und dessen Erklärung die christliche Gemeinde unterrichtet wird, indem ich ja selbst dergleichen vortrage und verrichte; aber ich finde, dass dies nicht genug sei, denn

1. Wir wissen, „dass alle Schrift, von Gott eingegeben, nützlich ist zur Lehre, zur Strafe, zur Besserung, zur Züchtigung in der Gerechtigkeit“ (2. Tim. 3).
Daher sollte auch alle Schrift, ohne Ausnahme, der Gemeinde bekannt sein, wollen wir anders allen notwendigen Nutzen erhalten. Wenn man nun aber auch alle Texte, die in vielen Jahren nacheinander in einem Ort der Gemeinde vorgetragen werden, zusammennimmt, so wird das ein noch gar geringer Teil der uns gegebenen Schrift sein; das Übrige hört die Gemeinde gar nicht, oder nur einzelne Sprüche daraus, die in den Predigten angeführt werden, ohne dass sie den ganzen Zusammenhang, der doch wichtig ist, vernehmen könnte.

2. Die Leute haben auch wenig Gelegenheit, den Verstand der Schrift anders zu fassen, als aus den Texten, die ihnen etwa ausgelegt werden, noch weniger aber, sich so darin zu üben, als die Erbauung erfordert; denn das bloße Lesen zu Hause, das an sich herrlich und lobenswert ist, kann doch noch nicht bei allen genügen.

Es ist daher zu überlegen, ob nicht der Kirche wohl geraten wäre, wenn neben den gewöhnlichen Predigten über die verordneten Texte die Leute noch auf andere Weise weiter in die Schrift geführt würden:

1. Mit fleißiger Lesung der heiligen Schrift selbst, sonderlich aber des Neuen Testaments. Das ist ja nicht schwer, dass jeder Hausvater seine Bibel oder wenigstens das Neue Testament bei der Hand habe und täglich etwas darin lese oder, wenn er des Lesens unerfahren ist, sich von anderen lesen lasse. Wie notwendig und nützlich solches allen Christen in allen Ständen sei, hat stattlich und kräftig im vergangenen Jahrhundert Andreas Hyperius dargetan, dessen zwei Bücher von diesem Gegenstande bald danach G. Nigrinus verdeutscht hat. Nachdem das Buch aber fast unbekannt geworden ist, hat es neulich Herr D. Elias Veyel, mein werthester früherer Mitgenosse zu Straßburg und in Christo geliebter Bruder, durch eine nochmalige Auflage wiederum bekannt gemacht.

2. Näherhin, dass also die Leute zum häuslichen Bibellesen angetrieben würden, wäre es ratsam, wenn man es einführen könnte, dass zu gewissen Zeiten in öffentlicher Gemeinde die biblischen Bücher nacheinander ohne weitläufigere Erklärung, als etwa kurzer Summarien, die man dazu täte, verlesen würden, zu aller, vornehmlich aber der Erbauung derer, die gar nicht oder nicht gut lesen könnten oder keine eigenen Bibeln hätten.

3. Es wäre vielleicht auch nicht undienlich, wenigstens setze ich es zu anderer reiflicher Überlegung hierher, wenn wir wieder die alte apostolische Art der Kirchenversammlungen in Gang brächten, da neben unseren gewöhnlichen Predigten auch andere Versammlungen abgehalten würden, auf die Art, wie Paulus in 1 Kor. 14 diese beschreibt, wo nicht einer allein aufträte, um zu lehren (was für die gewöhnlichen Gottesdienste bleibt), sondern auch andere, die mit Gaben und Erkenntnis begnadigt sind, jedoch ohne Unordnung und Zanksucht, mit dazu redeten und ihre gottseligen Gedanken über die vorgelegte Materie vortrugen, die übrigen aber darüber richten sollten. Dies könnte etwa nicht unpassend folgender Art geschehen: Wenn zu gewissen Zeiten mehrere Prediger, wo nämlich mehrere an einem Ort sind, oder auch unter Leitung des Predigers mehrere andere Gemeindeglieder, welche von Gott mit ziemlicher Erkenntnis begabt oder in derselben zuzunehmen begierig sind, zusammenkämen, die heilige Schrift vor sich nähmen, daraus laut läsen und über jede Stelle derselben sich brüderlich unterhielten, was der einfache Verstand derselben und was darin zu unserer Erbauung dienlich wäre. Dabei wäre teils jedem, der die Sache nicht hinreichend verstand, erlaubt, seine Zweifel vorzubringen und deren Erläuterung zu verlangen; teils müssten die, welche weiter gekommen sind, so wie die Prediger, ihre Einsicht, die sie in jede Stelle hätten, mitteilen; was nun jeder vorgebracht hätte, würde dann von den übrigen, sonderlich den berufenen Lehrern, untersucht, wie es der Meinung des heiligen Geistes in der Schrift gemäß sei, und so die ganze Versammlung erbaut. Es müsste aber alles in rechter Absicht auf Gottes Ehre und das geistliche Wachstum eingerichtet werden, daher auch in den Grenzen, die dieser Absicht gemäß wären, bleiben; hingegen, wo sich Vorwitz, Zanksucht, das Suchen eigener Ehre und dergleichen einschleichen wollte, hätten besonders die Prediger, die die Leitung des Ganzen behielten, solches zu verhüten und sorgfältig abzuschneiden. Hieraus wäre nicht geringer Nutzen zu hoffen. Es lernten die Prediger selbst ihre Zuhörer und deren Schwächen oder Fortschritte in der Lehre der Gottseligkeit kennen, ebenso würde ein zu beider Bestem viel beitragendes Vertrauen zwischen ihnen gestiftet; sodann hätten die Zuhörer eine gute Gelegenheit, ihren Fleiß im göttlichen Wort zu üben und sich dazu aufzumuntern, ebenso ihre aufkommenden Bedenken, weshalb sie nicht gerade jedes Mal den Prediger zu besuchen wagen, diesem bescheiden vorzutragen und dessen Entscheidung anzuhören; und so würden sie in kurzer Zeit sowohl für sich selbst wachsen als auch tüchtiger werden, ihre Hauskirche, Kinder und Gesinde besser zu unterrichten. So lange solche Übungen fehlen, werden die Predigten, wo einer allein in zusammenhängender Rede etwas vorträgt, nicht immer recht und hinlänglich erfasst, weil keine Zeit dazwischen ist, der Sache nachzudenken; oder wenn man dem einen nachdenkt, entgeht das Folgende, was aber bei solchen erbaulichen Unterredungen nicht geschieht. Ebenso wenig genügt es, wenn man zu Hause für sich in der Bibel liest, sobald man niemanden dabei hat, der den Verstand und die Absicht jeder Stelle einigermaßen mitzeigen hilft und dem Lesenden alles, was er gern verstehen möchte, zur Genüge erläutern kann. Was nun bei diesen beiden, der öffentlichen Predigt und der Hausandacht, mangelte, würde durch derartige Übungen ersetzt, und weder den Predigern noch den Zuhörern große Arbeit gemacht, sehr viel aber zur Erfüllung der Ermahnung Pauli beigetragen, wenn er Kol. 3,16 sagt: „Lasset das Wort Christi unter euch reichlich wohnen in aller Weisheit. Lehret und vermahnet euch selbst mit Psalmen und Lobgesängen und geistlichen, lieblichen Liedern“, welche auch bei solchen Versammlungen zum Lobe Gottes und zur Aufmunterung gebraucht werden könnten.

So viel ist einmal gewiß, dass die fleißige Beschäftigung mit Gottes Wort, die nicht bloß in der Anhörung von Predigten, sondern auch im Lesen, Betrachten und Unterredungen darüber nach Ps. 1,2 besteht, das vorzüglichste Mittel sein muss, etwas zu bessern, es geschehe nun durch die jetzt nachgewiesenen Einrichtungen oder durch noch zweckmäßigere, von anderen vorzuschlagende Anstalten. Denn das Wort Gottes bleibt der Same, aus dem alles Gute bei uns herkommen muss; und gelingt es uns, die Leute eifrig zu machen, dass sie darin fleißig forschen und in diesem Buch des Lebens ihre Freude suchen, so wird das geistliche Leben bei ihnen herrlich gestärkt, und aus ihnen werden ganz andere Leute.

Was hat doch unser seliger Luther eifriger gesucht, als die Leute zum fleißigen Lesen der Schrift anzureizen, so sehr, dass er auch fast Bedenken getragen hat, seine Bücher ausgehen zu lassen, damit nicht dadurch die Leute träger gemacht werden möchten, die Schrift selbst zu lesen. Seine Worte lauten: „Gern hätte ich’s gesehen, dass meine Bücher allesamt wären dahinten geblieben und untergegangen, und ist unter anderen Ursachen eine, dass mir graut vor dem Exempel; denn ich sehe wohl, welchen Nutzen es in der Kirche geschafft hat, da man hat außer und neben der heiligen Schrift angefangen, viel Bücher und große Bibliotheken zu sammeln, sonderlich ohne allen Unterschied allerlei Väter, Konzilien und Lehre aufzuraffen; damit nicht allein die edle Zeit und das Studieren in der Schrift versäumt, sondern auch die reine Erkenntnis göttlichen Wortes endlich verloren ist. Auch ist es unsere Meinung gewesen, da wir die Bibel selbst zu verdeutschen anfingen, dass wir hofften, es sollte des Schreibens weniger und des Studierens und Lesens in der Schrift mehr werden; denn auch alles andere Schreiben soll in und zu der Schrift weisen; denn so gut werden’s weder Konzilien, Väter, noch wir machen, wenn’s auf’s Höchste und Beste geraten kann, als die Heilige Schrift, die Gott selbst gemacht hat. Wer meine Bücher in dieser Zeit ja haben will, der lasse sie ihm bei Leibe nicht als ein Hindernis, die Schrift selbst zu studieren,“ u.s.w. Ähnliche Äußerungen finden sich auch sonst bei ihm.

Eins der wichtigsten bösen Stücke im Papsttum, wodurch sich die päpstliche Gewalt befestigt, ist dies gewesen, dass sie die Leute vom Lesen der heiligen Schrift abgehalten haben, und noch nach Vermögen abhalten, um sie in Unwissenheit zu erhalten, und so sich völlige Gewalt über ihre Gewissen anzueignen; dagegen war es zum großen Teil der Zweck der teuren Reformation, die Menschen zu dem Worte Gottes, welches fast unter der Bank versteckt gelegen, wieder zu bringen. Wie nun dies das kräftigste Mittel gewesen, wodurch Gott sein Werk gesegnet hat, so wird auch eben dies das vorzüglichste Mittel zur Besserung der Kirche sein, dass der Ekel, den Viele an der Schrift haben, oder die Nachlässigkeit, in derselben zu forschen, abgetan, und hingegen herzlicher Eifer zu derselben erweckt werde. Neben dem würde unser oft erwähnter D. Luther noch ein anderes mit dem vorigen genau verbundenes Mittel vorschlagen, welches jetzt das zweite sein soll.

II.

Die Aufrichtung und fleißige Übung des geistlichen Priestertums.
Es wird jeder, der etwas fleißig in Luthers Schriften gelesen hat, beobachtet haben, mit welchem Ernst der selige Mann solches geistliche Priestertum getrieben habe, da nicht nur der Prediger, sondern alle Christen von ihrem Erlöser zu Priestern gemacht, mit dem heiligen Geist gesalbt und zu geistlichen priesterlichen Verrichtungen berufen sind. Denn Petrus redet ja nicht mit den Predigern allein, wenn er sagt 1 Petr. 2,9: „Ihr aber seid das auserwählte Geschlecht, das königliche Priestertum, das heilige Volk, das Volk des Eigentums, dass ihr verkündigen sollt die Tugenden dessen, der euch berufen hat von der Finsternis zu seinem wunderbaren Licht.“ Wer ausführlich diese unser Lehrers Meinung hiervon und was die priesterlichen Ämter seien, vernehmen und lesen will, der lese seine Schriften an die Böhmen, wie man die Diener der Kirche wählen und einsetzen soll, da wird er sehen, wie stattlich erwiesen sei, dass allen Christen insgesamt ohne Unterschied alle geistlichen Ämter zustehen, obwohl deren ordentliche und öffentliche Verrichtung den dazu bestellten Dienern anbefohlen ist, und nur im Notfall von anderen verrichtet werden mögen; die aber, welche nicht zu den öffentlichen Verrichtungen gehören, sollen immerfort zu Hause und im gemeinen Leben von allen getrieben werden.

Es ist eine besondere List des leidigen Teufels gewesen, dass es derselbe im Papsttum dahin gebracht hat, dass alle solche geistlichen Ämter allein der Klerisei überwiesen (die sich daher auch hochmütiger Weise allein den Namen „Geistlichen,“ welcher allen Christen tatsächlich zugehört, aneignet) und die übrigen Christen davon ausgeschlossen sind, als käme denselben nicht zu, in dem Wort des Herrn fleißig zu forschen, geschweige denn andere neben sich zu unterrichten, zu vermahnen, zu strafen, zu trösten und das privatim zu tun, was dem Kirchendiener öffentlich zu tun obliegt; sondern als wären dies lauter Dinge, die an dem Predigtamt allein hingen. Damit sind die sogenannten Laien zu dem, was sie billig mit angehen sollte, träge gemacht, und so ist eine schreckliche Unwissenheit und Wesen entstanden. Hingegen konnten nun die sogenannten Geistlichen tun, was sie wollten, da ihnen niemand in die Karten sehen oder die geringste Einrede tun durfte. Daher ist dieses angemahnte Monopol des geistlichen Standes neben der oben angedeuteten Abhaltung von der Schrift eins der vorzüglichsten Mittel im Papsttum, womit Rom seine Gewalt über die armen Christen befestigt hat und, wo es noch herrscht, bis jetzt erhält. Es konnte also nicht empfindlicher angegriffen werden, als dass im Gegenteil Luther zeigte, wie alle Christen zu den geistlichen Ämtern berufen, und nicht nur befugt, sondern auch, wenn sie anders Christen sein wollen, verbunden sind, sich derselben anzunehmen, wenn auch nicht der öffentlichen Verwaltung derselben, wozu die Verordnung der das gleiche Recht besitzenden Gemeinde gehört; denn es ist jeder Christ verpflichtet, nicht nur selbst sich und was an ihm ist, Gebet, Danksagung, gute Werke, Almosen u.s.w. zu opfern, und in dem Wort des Herrn emsig zu forschen, sondern auch anderen absonderlich seine Hausgenossen, nach der Gnade, die ihm gegeben ist, zu lehren, zu strafen, zu ermahnen, an ihrer Bekehrung zu arbeiten, zu erbauen, ihr Leben zu beobachten, für alle zu beten und für ihre Seligkeit nach Möglichkeit zu sorgen. Wenn dies erst den Leuten gewiesen wird, so wird dann jeder so viel mehr auf sich selbst Acht geben und sich dessen befleißigen, was zu seiner und seines Nebenmenschen Erbauung dient. Wo hingegen solche Lehre nicht bekannt und getrieben wird, entsteht alle Sicherheit und Trägheit, indem niemand denkt, dass ihn dergleichen angehe, sondern jeder bildet sich ein, wie er zu seinem Amt, Handel, Handwerk u.s.w. berufen sei, und dies nicht des Pfarrers Sache sei, so sei hingegen der Pfarrer zu den geistlichen Verrichtungen, der Beschäftigung mit Gottes Wort, Beten, Studieren, Lehren, Vermahnen, Trösten, Strafen u.s.w. dermaßen allein berufen, dass andere sich nichts darum zu bekümmern hätten, ja wohl dem Pfarrer in sein Amt griffen, wo sie irgendwie damit umgingen; geschweige denn, dass sie auch selbst auf den Pfarrer mit Achtung geben und wo er säumig ist, ihn selbst brüderlich ermahnen, überhaupt aber in allem ihm an die Hand gehen sollten. Durch den ordentlichen Gebrauch dieses Priestertums geschieht aber dem Predigtamt so gar kein Abbruch, dass vielmehr der Mangel desselben eine der wichtigsten Ursachen ist, warum das Predigtamt nicht alles das ausrichten kann, was es billig sollte, weil es ohne die Hilfe des allgemeinen Priestertums zu schwach ist, und ein Mann nicht genug ist, bei so vielen, als gewöhnlich einem Einzigen zur Seelsorge anvertraut werden, das auszurichten, was zur Erbauung nötig ist. Wenn aber die Priester ihr Amt tun, so hat der Prediger als ihr Direktor und ältester Bruder eine bedeutende Hilfe in seinem Amt und dessen öffentlichen und besonderen Verrichtungen, sodass ihm die Last nicht zu schwer wird.

Man sollte daher billig in weitere Überlegung ziehen, wie nicht nur diese Materie, die nach Luthers Zeiten kaum mehr getrieben wurde, den Leuten bekannter gemacht werden könnte, wozu des Herrn Joh. Vielitz gottselige Predigten hierüber sehr dienlich wären, sondern wie auch die Sache selbst in bessere Übung zu bringen wäre; wozu der vorige Vorschlag einer einzuführenden Übung im Lesen und Erklären der Schrift nicht ungeeignet sein möchte. Meines geringen Teils bin ich fest überzeugt, dass schon viel getan wäre, immer mehrere gewonnen und die Kirche merklich gebessert werden würde, wenn nur in jeder Gemeinde einige zu diesen beiden Stücken, zu fleißiger Beschäftigung mit Gottes Wort und zu treuer Ausübung ihrer priesterlichen Pflichten gebracht werden könnten, wobei sie außer dem Übrigen vornämlich die brüderliche Ermahnung und Bestrafung ausüben sollten, die fast ganz unter uns erloschen ist, aber billig ernstlich getrieben, und von den Predigern nach Vermögen geschützt werden sollte, wenn einige deshalb etwa leiden müssten.

III.

Zu diesen Stücken gehört auch, dass man den Leuten gut einpräge und sie bald daran gewöhne, sich zu überzeugen, dass es mit dem Wissen im Christentum durchaus nicht genug sei, sondern dass es vielmehr in der Ausübung bestehe. Besonders hat unser lieber Heiland öfters uns die Liebe als das rechte Kennzeichen seiner Jünger anbefohlen Joh. 13,34,35: „Ein neues Gebot gebe ich euch, dass ihr euch untereinander liebt, wie ich euch geliebt habe, auf dass auch ihr einander lieb habt. Dabei wird jedermann erkennen, dass ihr meine Jünger seid, so ihr Liebe untereinander habt.“ Kap. 15,12: „Das ist mein Gebot, dass ihr euch untereinander liebt, gleich wie ich euch liebe.“ 1 Joh. 3,10.18: „Daran wird es offenbar, welche die Kinder Gottes und die Kinder des Teufels sind. Wer nicht recht tut, der ist nicht von Gott, und wer nicht seinen Bruder liebt. Meine Kindlein, lasset uns nicht lieben mit Worten, noch mit der Zunge, sondern mit der Tat und mit der Wahrheit.“ Kap. 4,3.8.11.12.21: „Ihr Lieben, lasset uns untereinander lieb haben, denn die Liebe ist von Gott; und wer lieb hat, der ist von Gott geboren, und kennt Gott. Wer nicht lieb hat, der kennt Gott nicht; denn Gott ist die Liebe. Ihr Lieben, hat uns Gott also geliebt, so sollen wir uns auch untereinander lieben. Niemand hat Gott jemals gesehen. So wir uns untereinander lieben, so bleibt Gott in uns, und seine Liebe ist völlig in uns. Und dieses Gebot haben wir von ihm, dass, wer Gott liebt, dass der auch seinen Bruder liebe.“ Daher pflegte auch der liebe Johannes in seinem hohen Alter nach dem Zeugnis des Hieronymus fast nichts mehr zu seinen Jüngern zu sagen, als: „Kindlein, liebt euch untereinander,“ sodass seine Jünger und Zuhörer endlich verdrossen wurden, immer einerlei zu hören, und ihn fragten, warum er ihnen allezeit einerlei sage, worauf sie zur Antwort bekamen: „Weil es der Befehl des Herrn ist, und so der geschieht, ist’s genug.“ Freilich besteht eines gläubigen und durch den Glauben seligen Menschen ganzes Leben und Erfüllung der Gebote in der Liebe.

Wenn wir daher eine inbrünstige Liebe unter unseren Christen erst gegeneinander, sodann gegen alle Menschen — denn brüderliche und allgemeine Liebe müssen aufeinander nach 2 Petr. 1,7 folgen — erwecken und in die Übung bringen können, so ist fast alles, was wir verlangen, ausgerichtet, denn darin bestehen nach Röm. 13,9 alle Gebote. Demnach sollte man den Leuten fleißig dies vorhalten und die Vortrefflichkeit der Liebe des Nächsten, so wie umgekehrt, die große Gefahr und Schaden der verkehrten Eigenliebe nachdrücklich vor Augen stellen, wie dies besonders der geistreiche Johann Arndt im wahren Christentum Bch. 4, Abth. 2, Kap. 22 und folgende schon ausgeführt hat. Damit wäre aber auch die Ausübung dieser Liebe zu verbinden, dass man die Gemeindeglieder gewöhne, nicht leicht eine Gelegenheit aus der Acht zu lassen, wo sie dem Nächsten ihre Liebe tätig beweisen können, dabei aber allemal fleißig das Herz zu untersuchen, ob es aus wahrer Liebe gehandelt oder andere Absichten dabei gehabt. Man hätte sie anzuleiten, besonders wenn sie beleidigt worden, auf sich Achtung zu geben und nicht nur sich aller Rache zu enthalten, sondern auch lieber etwas von ihrem Rechte und der Behauptung desselben nachzugeben, als sich von ihren Herzen betrügen zu lassen und feindselige Leidenschaften mit einzumischen, ja man rate ihnen, dass sie mit Fleiß Gelegenheit suchen, dem Feinde Gutes zu tun, damit nur dem zur Rache geneigten alten Adam durch solche Zähmung wehe getan, hingegen die Liebe tiefer ins Herz gedrückt werde.

Dazu, wie überhaupt zum Wachstum im Christentum, wäre es sehr dienlich, wenn diejenigen, welche sich mit Ernst vorgenommen haben, fortan in den Wegen des Herrn zu wandeln, in vertraulichem Umgang mit ihrem Beichtvater oder auch einem anderen verständigen, erleuchteten Christen stünden und demselben immer Rechenschaft geben wollten, wie sie leben, wo sie Gelegenheit gehabt haben, die christliche Liebe zu üben, wo sie dieselbe benutzt oder versäumt haben; um jederzeit von ihnen Rat und Unterricht zu erhalten, wie sie nach erlangter Erkenntnis ihrer Mängel es anzufangen haben, sich davon zu befreien. Damit muss freilich auch der feste Entschluss verbunden sein, dem erhaltenen Rat wirklich zu folgen, es sei denn, dass ihnen etwas wider den deutlichen Willen Gottes zugemutet würde. Wo sie zweifelten, ob sie dies oder jenes ihrem Nächsten zuliebe zu tun schuldig wären oder nicht, wäre ihnen ebenfalls zu raten, es lieber zu tun, als zu unterlassen.

IV.

Endlich sollten wir auch genaue Achtung auf uns geben, wie man bei den Religionsstreitigkeiten und gegen Ungläubige oder Falschgläubige sich zu verhalten habe, dass wir uns nämlich vor allen Dingen befleißigen sollen, uns selbst und die Unsrigen, auch alle übrigen Glaubensbrüder in der erkannten Wahrheit zu bekräftigen, zu stärken, und hingegen vor aller Verführung mit großer Sorgfalt zu verwahren. Nächstdem aber haben wir uns auch unserer Pflicht gegen die Irrenden zu erinnern.

1. Deren sind wir schuldig, eifriges Gebet, dass der grundgütige Gott auch mit dem Licht, womit er uns begnadigt, erleuchten, zu der reinen Wahrheit führen, ihnen alle Gelegenheit dazu geben möge, um ihre Herzen dazu bereiten oder doch mit Abwendung ihrer sonst gefährlichen Irrtümer das Wenige, was sie noch von wahrer Erkenntnis des Heils in Christo übrig haben, also kräftig sein lassen wolle, dass sie noch zuletzt als ein Brand aus dem Feuer errettet werden mögen. Denn dies ist die Kraft der drei ersten Bitten, dass Gott seinen Namen auch an ihnen geheiligt, sein Reich zu ihnen gebracht und seinen gnädigen Willen an und in ihnen vollbracht werden lasse.

2. Wir haben ihnen mit gutem Exempel voranzugehen und uns auf’s Eifrigste zu hüten, dass wir ihnen in Nichts Ärgernis geben, denn sonst machen wir ihnen damit falsche und üble Begriffe von unserer reinen Lehre und erschweren somit ihre Bekehrung.

3. Hat uns Gott die dazu dienlichen Gaben gegeben, und hoffen wir Gelegenheit gefunden zu haben, sie zu gewinnen, so sollen wir auch gern das Unsrige tun, indem wir ihnen teils mit bescheidener und nachdrücklicher Vorstellung der von uns bekannten Wahrheit zeigen, wie diese durchaus in der Einfalt der Lehre Christi gegründet sei; teils mit ebenso kräftiger wie ruhiger Widerlegung ihrer Irrtümer nachweisen, wie diese gegen Gottes Wort streiten und was für Gefahr sie nach sich ziehen. Das alles aber muss auf solche Art geschehen, dass die Leute, mit denen man handelt, selbst sehen können, dass man alles aus herzlicher Liebe gegen sie, ohne fleischliche und unziemliche Leidenschaften tut. Sollte man in einiger Heftigkeit übernommen werden, so müsse dies allein aus reinem Eifer für die göttliche Ehre geschehen. Besonders aber hat man sich vor Scheltworten und persönlichen Anzüglichkeiten zu hüten, welche alsbald alles, was man Gutes zu bauen meint, niederreißen. Sehen wir, dass wir angefangen haben, etwas auszu¬richten, so haben wir das Angefangene umso fleißiger auch mit Hilfe Anderer fortzusetzen; bemerkt man aber, dass Andere von ihren vorgefassten Meinungen so eingenommen sind, dass sie diesmal das Vorgehaltene nicht begreifen können, wenn man auch sonst ein Gemüt bei ihnen gewahr wird, das seinem Gott gern dienen wollte, so hat man solche Leute dahin zu vermahnen, dass sie wenigstens die von uns gehörte Wahrheit nicht lästern, noch übel davon reden, derselben in der Furcht des Herrn und mit herzlichem Gebet ferner nachdenken und indessen ihrem Gott nach denjenigen praktischen Grundsätzen und Lebensregeln, welche die Meisten, die den christlichen Namen tragen, noch unter sich ziemlich allgemein haben, eifrig dienen und in der Wahrheit zuzunehmen trachten sollen.

4. Dazu, wie überhaupt gegen alle Ungläubigen und Irrende, soll kommen die Übung herzlicher Liebe, dass wir zwar zu der Übung und Fortpflanzung ihres Un- und Irrglaubens ihnen nicht behilflich sind, vielmehr mit Eifer uns demselben widersetzen, aber in anderen Dingen, welche zum menschlichen Leben gehören, zeigen, dass wir sie für unsere Nächsten erkennen, wie der Samariter, Luc. 10, als des Juden Nächster, von Christus vorgestellt wird; ja, dass wir sie nach dem Recht der Schöpfung und der gegen alle sich erstreckenden göttlichen Liebe, obwohl nicht nach der Wiedergeburt, für Brüder halten und so in unsern Herzen gegen sie gesinnt sein, wie wir den Befehl haben, alle, wie uns selbst, zu lieben. Wenn man also einem Ungläubigen oder Irrenden der Religion wegen Schimpf oder Leid antut, so ist das nicht nur ein fleischlicher, sondern auch der Bekehrung solcher Leute schädlicher Eifer, indem der rechtmäßige Hass der Religion die der Person schuldige Liebe weder aufheben noch schwächen soll.

Dieses möchte vielleicht der nächste und von Gott gesegnetste Weg sein, wenn wir von der Vereinigung der unter den Christen befindlichen meisten Religionen einige Hoffnung haben sollen, dass wir nicht bloß alles aufs Disputieren setzen, indem die gegenwärtige Beschaffenheit der mit so viel fleischlichem als geistlichem Eifer erfüllten Gemüter die Disputationen fruchtlos machet. Es ist zwar wahr, dass die Verteidigung der reinen Lehre, und also auch das Disputieren, welches ein Teil derselben ist, ebensowohl in der Kirche erhalten werden muss, als andere zur Erbauung verordnete Verrichtungen, wie wir an dem geheiligten Exempel Christi, der Apostel und deren Nachfolger sehen, die auch disputiert, d. i. die entgegenstehenden Irrtümer kräftig widerlegt, und die Wahrheit beschützt haben; vielmehr würde der die christliche Kirche in die größte Gefahr stürzen, welcher diesen notwendigen Gebrauch des geistlichen Schwerts, des göttlichen Wortes, insofern es gegen die Irrlehren angewendet werden sollte, wegnehmen und verwerfen wollte. Dessen ungeachtet bleibe ich bei dem von unserem seligen Arndt im 39. Kapitel des ersten Buches seines wahren Christentums trefflich erwiesenen Satz: „Dass die Lauterkeit der Lehre und des göttlichen Wortes nicht allein mit Disputieren und vielen Büchern erhalten werde, sondern auch mit wahrer Buße und heiligem Leben.“ Damit gehören zusammen die beiden vorhergehenden Kapitel: „Wer Christus mit Glauben, heiligem Leben und steter Buße nicht folgt, der kann von der Blindheit seines Herzens nicht erlöst werden, sondern muss in der ewigen Finsternis bleiben; kann auch Christus nicht recht erkennen, noch Gemeinschaft und Teil mit ihm haben.“ Und das unchristliche Leben ist eine Ursache falscher, verführerischer Lehren, Verstockung und Verblendung.

1. Ich glaube also, dass nicht alles Disputieren nützlich und gut sei, sondern es gilt von Manchem das Wort unseres seligen Luther: „Nicht durch Lehren, sondern durch Disputieren wird die Wahrheit verloren, denn das ist die üble Folge der Disputationen, dass die Herzen dadurch leicht aus dem Umgang mit Gott kommen und mit Gezänk beschäftiget das versäumen, was das Wichtigste ist.“ Ach, wie oft sind die Disputanten selbst Leute ohne Geist und Glauben, mit fleischlicher Weisheit, wenn sie auch mit der Schrift übereinstimmt, erfüllt, keineswegs aber von Gott gelehrt! Denn alle Wissenschaft, die wir aus eigenen natürlichen Kräften und durch bloßen menschlichen Fleiß, ohne das Licht des heiligen Geistes, aus der Schrift erlernen, ist eine fleischliche Weisheit; oder wollen wir sagen, dass die Vernunft die göttliche Weisheit erzeuge? Was ist nun von solchen zu hoffen? Wie oft bringt man fremdes Feuer in das Heiligtum des Herrn, d. i. eine fremde Absicht, dass man nicht Gottes, sondern seine eigene Ehre sucht? Solche Opfer aber gefallen Gott nicht, sondern ziehen seinen Fluch herzu, dass also mit solchem Disputieren nichts ausgerichtet wird. Wie oft ist die Behauptung der einmal angenommenen Meinung, der Ruhm eines scharfen Verstandes oder eines scharfsinnigen Kopfes und die Überwindung des Gegners, geschehe sie auch, auf welche Weise sie wolle, vielmehr die Regel, nach der man sich richtet, als die Untersuchung und Erhaltung der Wahrheit? Dadurch kann man aber leicht dem Gegner einen solchen Anstoß geben, dass, wenn er auch nicht zu antworten vermag, doch die Art, wie man gegen ihn verfahren ist, die bemerkten fleischlichen Leidenschaften, die ausgestoßenen Schimpfworte und dergleichen Dinge, die nur nach dem alten Menschen schmecken, seine sonst gehoffte Bekehrung hindern. Sollte man vieles bisherige Disputieren recht untersuchen, so würde man bald diesen, bald jenen Mangel finden, und man wird nicht mit Unrecht behaupten können, dass dies mit eine Ursache sei, weshalb nicht alles, was man wünscht, dadurch erreicht, vielen vielmehr das Disputieren dermaßen zuwidergeworden ist, dass sie einen unziemlichen Hass darauf geworfen haben und nur mehr dem Disputieren beimessen wollen, was die Schuld des Missbrauchs davon ist.

2. Gleichwie aber nicht alles Disputieren lobenswert und nützlich ist, so ist auch das rechte Disputieren nicht das einzige Mittel zur Erhaltung der Wahrheit, sondern dazu gehört noch mehr. Der einzige und völlige Zweck des Disputierens an sich selbst ist die Rettung der wahren Lehre von den falschen Meinungen und der Letzteren Widerlegung, dass der menschliche Verstand erkenne, dieser Lehrsatz sei dem Inhalt des Wortes Gottes gemäß, jener zuwider, und wo es am besten angestellt wird, kann nur dieses erreicht werden. Wenn man es aber dabei allein beließe, wie es bei denen der Fall ist, die nur darauf denken, dass sie viele Lutheraner machen möchten, sich aber weiter nicht angelegen sein lassen, wie sie bei solchem Bekenntnis auch wahre Kern-Christen würden, und daher das wahre Bekenntnis gleichsam als eine Partei, deren Anzahl man vermehren müsse, ansehen, nicht aber als einen Eingang zu dem Weg, worauf man Gott künftig eifrig dienen wolle, so will Gott auch dazu nicht einmal seinen Segen geben, dass der Zweck der Disputationen erreicht werde. Soll Gottes Ehre recht befördert werden, so muss man den Gegner nicht bloß suchen zu überzeugen, sondern zu bekehren, und die gerettete Wahrheit zu schuldiger Dankbarkeit und heiligem Gehorsam gegen Gott anwenden. Die Überzeugung des Verstandes aber von der Wahrheit ist bei weitem noch nicht der Glaube, sondern dazu gehört mehr; es muss uns also angelegen sein, das Übrige, was zur Bekehrung des Irrenden nötig ist, hinzuzufügen und alle Hindernisse derselben wegzuräumen. Vor allem aber müssen wir herzlich verlangen, die erkannte Wahrheit in uns und anderen zu weiterer Ehre Gottes anzuwenden und ihm in solchem Licht auch zu dienen. Dahin gehören die herrlichen Sprüche Christi Joh. 7,17: „So jemand will des Vaters Willen tun, der wird inne werden, ob diese Lehre von Gott sei oder ob ich von mir rede.“ Hier sagt also unser Heiland deutlich, es sei keiner recht in seiner Seele göttlich versiegelt von der göttlichen Wahrheit seiner Lehre, bei dem nicht auch das Verlangen da ist, den Willen des Vaters zu tun, und es also nicht bloß bei dem Wissen bleiben zu lassen. Wiederum Joh. 8,31.32: „So ihr bleiben werdet an meiner Rede, so seid ihr meine rechten Jünger, und werdet die Wahrheit erkennen und die Wahrheit wird euch freimachen.“ Und Joh. 14,21: „Wer meine Gebote hat und hält sie, der ist’s, der mich liebt; wer mich aber liebt, der wird von meinem Vater geliebt werden, und ich werde ihn lieben und mich ihm offenbaren.“

Aus dem Allen erhellt, dass das Disputieren nicht genügt, um sowohl bei uns selbst die Wahrheit zu erhalten, als auch sie den noch Irrenden beizubringen, sondern dass dazu die heilige Liebe Gottes nötig ist. Ach, dass wir Evangelische uns nur erst auf das Eifrigste angelegen sein ließen, Gott die Früchte seiner Wahrheit in herzlicher Liebe zu bringen, also einen unserem Beruf würdigen Wandel zu führen und das in sichtbarer ungefärbter Liebe gegen unseren Nächsten, auch gegen Irrgläubige, mit Übung der oben berührten Pflichten zu beweisen; dass dann die noch Irrenden darnach trachteten, wenn sie die von uns bekannte Wahrheit noch nicht begreifen können, dass sie wenigstens anfangen wollten, Gott nach dem Maß der Erkenntnis, die sie etwa noch aus der christlichen Lehre übrig haben, mit Ernst und Eifer zu dienen in Liebe Gottes und des Nächsten! Es ist keinem Zweifel unterworfen, dass dann Gott sowohl uns in der Wahrheit immer mehr zunehmen lassen als auch die Freude geben würde, Andere, deren Irrtum wir jetzt beklagen, bald in einem Glauben neben uns zu sehen. Denn sein Wort hat einmal die Kraft, wenn sie nicht entweder von denen, die es führen, oder bei denen, denen man es führt, boshaft gehindert wird, die Herzen zu bekehren. Dazu kommt, dass nach der Erklärung Petri, 1 Petr. 3,1.2., auch der heilige Wandel selbst zu der Bekehrung viel beiträgt.

V.

In allen diesen Dingen, die die Kirche betreffen, hängt von dem Predigtamt das Meiste ab. Wie daher die Mängel, die sich bei Predigern finden, am meisten schaden, so ist es umso mehr daran gelegen, dass man solche Leute hat, welche nicht nur zuerst wahre Christen sind, sondern auch göttliche Weisheit besitzen und andere vorsichtig auf den Weg des Herrn führen. Es würde also zu der Besserung der Kirche sehr wichtig, ja durchaus notwendig sein, dass man nur solche Männer zum Predigtamt beriefe, die dazu tüchtig wären. Und überhaupt bei dem ganzen Berufungswerk nichts anderes als die Ehre Gottes im Auge hätte, mit Hintansetzung aller fleischlichen Absichten und Rücksichtnahmen auf Gunst, Freundschaft, Geschenke und dergleichen unziemliche Dinge, wie denn die hierbei stattfindenden Missbräuche nicht eine der geringsten Ursachen der Gebrechen unserer Kirche sind, was wir aber diesmal nicht weiter ausführen wollen.

Soll man aber dergleichen tüchtige Personen zu dem Kirchendienst berufen, so muss man auch solche haben und daher auf den Schulen und Universitäten erziehen. Ach Gott gebe gnädiglich, dass alles hierzu Notwendige auf den Universitäten fleißig von den Professoren der Theologie beobachtet werde, und sie dafür sorgen helfen, wie das nicht nur von dem eifrigen seligen Joh. Matth. Meyfart, sondern auch vor und nach ihm von so vielen anderen gottseligen Herzen wehmütig beklagte und fast bei den Studenten aller Fakultäten übliche, unchristliche akademische Leben mit nachdrücklichen Mitteln abgeschafft und gebessert würde, damit man an dem Leben der Studenten erkennen möchte, dass die Akademien nicht Wohnstätten des Ehrgeiz-, Sauf-, Balge- und Zank-Teufels wären, sondern wie es billig sein sollte, Pflanzgärten der Kirche in allen Ständen und Werkstätten des heiligen Geistes.

Hier können nun die Herren Professoren mit ihrem eigenen Beispiel viel tun, indem ohne dasselbe schwerlich rechte Besserung zu hoffen ist, wenn sie sich nämlich als solche Männer zeigen, die der Welt abgestorben sind, in nichts ihre eigene Ehre, Vorteil oder Lust, sondern in allem allein ihres Gottes Ehre und ihrer Zuhörer Heil suchten. Wenn sie diese Absicht bei allen ihren Studien, Bücherschreiben, Vorlesungen, Disputationen und anderen Verrichtungen vor Augen hätten und damit den Studenten ein lebendiges Muster gäben, wonach diese ihr Leben zu ordnen hätten; denn wir sind so geartet, dass Beispiele bei uns so viel wie die Lehre selbst, zuweilen auch noch mehr, ausrichten. Gregorius von Nazianz sagt von Basilius: „Seine Rede und Lehre war gleich einem Donner, weil sein Leben wie ein Blitz war.“ Daher sollten die Professoren auch an ihren Tischen gute Zucht halten und keinem Mutwillen Raum geben. Vielmehr sollten sie erbauliche Gespräche führen und unziemliche, besonders Gottes Wort, Sprüche, Liederverse und dergleichen im verkehrten Verstande zum Bösen missbrauchte Dinge abwenden, auch wohl mit Ernst bestrafen, nicht aber mit Wohlgefallen anhören, denn es geschieht dadurch mehr Böses, als man denken möchte. Ja, es gibt oft gottseligen Gemütern auf ihr Leben lang einen Anstoß, so oft sie an solche Worte kommen.

Nächstdem sollte billig den Studenten fleißig eingeschärft werden, dass nicht weniger an ihrem gottseligen Leben als an ihrem Fleiß und Studieren gelegen sei, ja dieses ohne das erstere nichts wert sei. Des alten Justin bekannten Rede soll uns stets in Gedanken sein: „Unsere Religion besteht nicht in Worten, sondern in Taten“, was er von St. Paulus gelernt hat (1 Kor 4,20): „Das Reich Gottes besteht nicht in Worten, sondern in der Kraft.“ Es wäre ihnen beständig nachzuweisen, dass es, wenn es schon überhaupt im menschlichen Leben heißt: „Wer an Kenntnissen zunimmt und an guten Sitten abnimmt, der nimmt mehr ab als zu“, so dies vielmehr in geistlichen Dingen gelte, wo einmal alles auf die Ausübung des Glaubens und Lebens gerichtet werden muss, weil die Theologie nicht ein totes Wissen, sondern ein ins Leben eingreifender Zustand ist. Deswegen nennt der christliche und um die Straßburger Kirche sowohl verdiente selige D. Johann Schmidt, mein in Christo geliebter Vater, dieses „einen großen und schrecklichen Götzen, dass man auf hohen Schulen und Universitäten, wenn man auch gar fleißig sein will, gar sehr neben den rechten Zweck hinschieße, der da sei, dass Gott geehrt werde, oder etwas deutlicher, dass die wahre, unverfälschte, christliche Religion, die herzliche Übung der Gottseligkeit und christliche Tugend desto besser gepflegt, getrieben und in die Gemüter eingedrückt werde.“ Siehe dessen Scheid- und Absage-Brief des eifrigen gerechten Gottes an alle Unbußfertigen und Heuchler aus dem Buche der Richter Kap. 10. Pred. 2. S. 37, wo auch seine übrigen Worte wert sind, gelesen zu werden, da er es zuletzt einen Gräuel der Verwüstung nennt.

Der wegen seiner vornämlich zur Rettung der wahren Lehre herausgegebenen Schriften berühmte Theologe, Herr D. Abraham Calov, mein insbesondere hochgeehrter Gönner, zieht die Ursachen kurz zusammen, weshalb ein Student der Theologie sich eines gottseligen Lebens befleißigen müsse, die zu deutsch also lauten mögen:

  1. Weil der Apostel seinen Timotheus also unterrichtet (1 Tim. 2,24, 1 Tim. 1,18.19. Kap. 3,2, Kap. 4,7.12. Tim. 1,17).
  2. Der heilige Geist, der wahre und einzige Lehrmeister, wohnt nicht in einem Herzen, welches der Sünde untertan ist (Joh. 16,13. 1 Joh. 2,27). Die Welt kann den Geist der Wahrheit nicht empfangen (Joh. 14,17).
  3. Ein Student der Theologie geht um mit der göttlichen Weisheit, die nicht fleischlich, sondern geistlich und heilig ist (Jak. 3,15), deren Anfang die Furcht des Herrn ist (Ps. 111,9; Sprichw. Sal. 1,7.9.10).
  4. Die Theologie besteht nicht in bloßer Wissenschaft, sondern in des Herzens Affekt und in der Übung (wie wir erst aus Justin gehört).
  5. Selig ist (sprachen die Alten), wer die Schrift in Werke kehrt. „Wisset ihr dieses, sagt Christus, Joh. 13,17, selig seid ihr, so ihr’s tut.“ Christi Jünger sollten demnach die Schrift also forschen, dass sie sie zur Übung bringen und tun, was sie wissen.
  6. Hingegen kommt die Weisheit nicht in eine boshafte Seele und wohnt nicht in einem Leibe, der der Sünde untertan ist (Weish. 1,4). Wer also den Sünden nachhängt, kann keine Wohnung des heiligen Geistes werden. Wie die Leviten, ehe sie in die Hütte des Stifts eingingen, sich vorher waschen mussten (2 Mos. 30,18; 1 Kön. 7,23; 2 Kor. 4,2), also sollen sich auch diejenigen, die einmal in der Hütte des Herrn aus- und eingehen wollten, der Heiligung und Reinigung des Lebens befleißigen.“

Ach wollte Gott, diese Worte stünden aller Orten vor und in allen Hörsälen und in jedes Studenten Stübchen ihm stets vor Augen, ja in seinem Herzen, so würden wir bald eine andere Kirche haben.

Ich kann nicht unterlassen, die Worte des lieben und gottseligen Theologen D. Johann Gerhard auch hierher zu setzen, aus seiner Harmonie der Evangelien Kap. 176, S. 1333:

„Welche die wahre Liebe Christi nicht haben und die Übung der Gottseligkeit unterlassen, erlangen nicht die vollständigere Erkenntnis Christi und die reichlichere Gabe des heiligen Geistes; um daher eine wahre, lebendige, tätige und heilsame Erkenntnis göttlicher Dinge zu erlangen, genügt es nicht, die Schrift zu lesen und zu forschen, sondern es muss auch die Liebe Christi dazu kommen, d. h. dass man vor Sünden sich hüte wider das Gewissen, mit welchen dem heiligen Geiste ein Riegel vorgeschoben wird, und dass man sich der Gottseligkeit ernstlich befleißige.“

O dass dieser Grund bei den Studenten der Theologie gelegt würde; dass sie nur glaubten, sie müssten bereits in den ersten Jahren ihrer Universitätszeit der Welt absterben und ihr Leben führen, wie es sich für solche ziemt, welche einmal Fürbilder der Herde werden sollen, dass man sie überzeugen könnte, es sei ein solches Leben nicht nur eine Zierde, sondern ein durchaus notwendiges Werk, ohne welches sie zwar Studenten einer Wissenschaft von heiligen Dingen, nicht aber Studenten der Gottesgelehrtheit sein, die allein im Lichte des heiligen Geistes gelernt wird. Wenn dies alles den Studenten der Theologie gleich zu Beginn ihres akademischen Lebens vorgehalten und eingeprägt würde, so dürfte man nicht vergeblich hoffen, dass es ihre ganze Studentenzeit, ja ihr ganzes Leben lang viele Früchte nach sich ziehen würde. Stattdessen leben viele in dem Gedanken, es sei an einem Studenten der Theologie zwar löblich, wenn er auch ordentlich lebe; indessen sei dies aber nicht so nötig, wenn er nur fleißig studiere und ein gelehrter Mann werde, so habe es nicht viel auf sich, wenn er sich auch dabei vom Weltgeist regieren lasse, und mit anderen alle Welt-Lust mitmache, und es sei noch Zeit genug, das Leben zu ändern, wenn er einmal Prediger werde; gerade als wäre das in unserem Vermögen, da doch vielmehr die fest eingedrückte Weltliebe den Leuten gemeiniglich in ihrem ganzen Leben anhängt, und solche verkehrte Meinung der Kirche so großen Schaden tut.

Sollte es also in dieser Beziehung besser werden, so wäre notwendig, dass die Herren Professoren sowohl auf das Leben als auf die Studien der ihnen anvertrauten Studenten Acht gäben, und mit denen, die es bedürfen, oft deshalb sprächen. Auch gegen die, welche zwar viel lernen, aber auch fleißig schwärmen, saufen und auf alle Weise ihren Ehrgeiz und Weltsinn zeigen, sollte man sich so betrügen, dass dieselben sehen müssten, sie seien deswegen von ihren Lehrern verachtet, und ihre ausgezeichneten Fähigkeiten und guten Fortschritte helfen ihnen nichts, sondern man sehe sie als Leute an, die einmal so viel schädlicher sein würden, je mehr Gaben sie empfangen. Dagegen sollte man anderen, welche ein wahrhaft gottseliges Leben führen, wenn sie auch in der Wissenschaft schwächer wären, öffentlich und absonderlich seine Liebe zeigen, und sie den anderen weit vorziehen. Ja, man sollte diese stets jenen in der Beförderung vorziehen, oder vielmehr sie allein befördern, die anderen aber so lange von aller Hoffnung der Beförderung ausschließen, bis sie sich ganz geändert hätten.

So wäre es in der Tat Recht, denn es ist gewiss, dass ein zwar mit wenigen Gaben gezierter Mensch, der aber Gott herzlich liebt, mit seinem geringen Talent und Wissen der Gemeinde Gottes mehr nützen wird, als ein eiteler Welt-Narr, wenn er auch ein doppelter Doktor wäre und voller Kunst steckte, aber von Gott nicht gelehrt wäre; denn des Ersteren Arbeit ist gesegnet, weil er den heiligen Geist bei sich hat, während der Letztere nur ein in der Tat fleischliches Wissen hat, womit er sehr leicht mehr schaden als nützen kann. Es würde auch nicht übel sein, wenn alle Studenten von jeder Universität Zeugnisse mitbringen müssten, nicht nur über ihre Geschicklichkeit und ihren Fleiß, sondern auch über ihr gottseliges Leben. Es müssten aber freilich dann solche Zeugnisse mit großem Bedacht gegeben und keinem erteilt werden, der nicht mit Wahrheit darauf Anspruch hätte. Diese Mittel möchten wohl zu Wege bringen, dass Studenten der Theologie einsehen, wie nötig ihnen das sei, woran oft die Wenigsten gedenken. Sodann hätten die Herren Professoren nach ihrer Einsicht und Geschicklichkeit wohl zu beobachten, welche Studien etwa jedem der Studierenden, nach der Beschaffenheit ihrer Anlagen, ihres Vaterlandes, ihrer zu hoffenden Anstellung usw. nützlich und nötig sind. Da wird freilich mit einigen die Polemik mit mehr Eifer aus dem Grunde getrieben werden müssen, indem es auch der Kirche nie an Leuten fehlen darf, die den Feinden der Wahrheit entgegen treten, und nicht zulassen, dass jeder Goliath ungescheut dem Zeug Israels Hohn spreche, sondern es ist nötig, dass man auch einige David habe, die hervortreten und demselben zu begegnen wissen. Sollte sich Gelegenheit finden, dass der von dem vortrefflichen Theologen, dem D. Nikolaus Hunnius in seiner Konsultation getätigte Vorschlag vorsichtig ausgeführt würde, so wäre solcher Sache einigermaßen geholfen. Bei anderen braucht nicht gerade die Polemik ihr Hauptstudium zu sein, doch müssen sie sich also rüsten, dass sie bei Gelegenheit den Widersachern das Maul stopfen und ihre Gemeinden dermaleinst vor Irrtum zu verwahren vermögen. Dabei wäre besonders wünschenswert, dass die, in deren Vaterlande etwa Juden wohnen, auch in den Streitpunkten, die wir mit denselben haben, fleißiger geübt würden, um an ihnen ihr Amt zu tun. Überhaupt aber wäre es gut, dass nach dem Wunsch einiger ausgezeichneter Theologen auch Disputationen in deutscher Sprache auf Akademien gehalten würden, damit die Studenten die dazu dienlichen Ausdrücke brauchen lernten, indem es ihnen sonst im Amt schwer fällt, wenn sie auf der Kanzel etwas von einer Streitsache erwähnen und der Gemeinde deutsch vortragen sollen, worin sie sich niemals geübt haben. Neben diesen nun, welche die Polemik fleißiger zu treiben haben, sind wiederum andere, bei denen es genügt, dass sie die Lehre gründlich verstehen, wenn sie von den Streitpunkten nur so viel wissen, dass sie vor Irrtum gesichert sind und ihren Zuhörern zeigen können, was wahr oder falsch ist; wo es auf schwerere Dinge kommt, können sie sich ja Anderer Hilfe und Rat bedienen.

Ohne eine treue Anleitung aber versteht ein angehender Student in allem dem nicht, was ihm nötig ist, oder nicht nötig, und so geschieht, was auch der den rechten Zweck im Auge habende selige D. Christoph Scheibler in seiner Vorrede des Handbuchs zur praktischen Theologie klagt: „Wenn Einige ihre ganze Studienzeit mit Streitsachen zugebracht haben, so müsse Eins von Beiden folgen: Entweder müsse er ein ungeschickter Prediger sein, wie gelehrt er auch in solchen Streitsachen wäre, oder müsste von neuem und auf eine andere Art erst Theologie studieren und darin ein Anfänger werden, wie solches die tägliche Erfahrung bezeugt.“

Überhaupt aber wäre sorgfältig darauf zu achten, dass auch in den Streitigkeiten selbst Maß gehalten wird, und lieber gezeigt würde, wie die unnötigen Streitfragen zu vermeiden sind, als sie auszudehnen, damit die ganze Theologie wieder zu ihrer apostolischen Einfalt gebracht werden möge. Dazu könnten die Professoren viel beitragen, wenn sie teils selbst alle ihre Studien und Schriften danach einrichteten, teils den Fürwitz derer, die unnütze Streitmaterien auf die Bahn bringen, mit Fleiß hintertreiben und dagegen einen steten Widerwillen an den Tag legen wollten. Es würde auch nützlich sein, wenn solche Bücher wie die „Deutsche Theologie“ und Taulers Schriften, durch deren Gebrauch neben der Schrift unser teurer Luther geworden ist, was er gewesen ist, mehr in die Hände der Studenten gebracht und deren Gebrauch ihnen empfohlen würde. Das ist Luthers Rat selbst, der von dem Mann Gottes Tauler, wie er ihn anderswo nennt, in der 23. Epistel an Spalatin also schreibt: „So Du Lust hast, die alte reine Theologie in deutscher Sprache zu lesen, so kannst Du Dir die Predigten Johann Taulers des Predigermönchs verschaffen; denn ich habe weder in lateinischer noch deutscher Sprache die Theologie reiner und heilsamer gefunden, die also mit dem Evangelium übereinstimmte.“ Und in der 17. Epistel: „Ich bitte Dich noch einmal, glaube mir doch in dem Fall, und folge mir, und kaufe Dir das Buch Taulers, wozu ich Dich auch zuvor vermahnt habe, wo Du es nur bekommen kannst, wie Du es dann leicht bekommen wirst. Denn das ist ein Buch, darin Du finden wirst, welche Kunst der reinen heilsamen Lehre, dagegen jetzt alle Kunst eisern und irdisch ist, sei es gleich in griechischer, oder lateinischer oder hebräischer Sprache.“ Anderswo sagt er: „Ich habe mehr der reinen göttlichen Lehre darinnen gefunden, als ich in allen Büchern der Lehrer auf allen Universitäten gefunden habe oder darinnen gefunden werden mag.“ Von der „Deutschen Theologie“, die er auch dem Tauler zuschreibt, die aber jünger ist und, was ich für eine besondere Ehre unserer Stadt halte, in unserem Frankfurt geschrieben sein soll, gibt er dieses Urteil: „Ich muss meinen alten Narren rühmen, und sage, dass mir nach der Bibel und St. Augustin nicht ein Buch vorgekommen ist, aus dem ich mehr gelernt habe und erlernen will, was Gott, Christus, Mensch und alle Dinge sind, als eben das Büchlein.“ Daher sind auch diese Bücher von unserem lieben Arndt der christlichen Erbauung zum Besten aufs Neue herausgegeben worden und mit einer Vorrede geziert worden. Es ist auch vielmehr zu loben als zu tadeln, dass der teure Mann in seinem „Wahren Christentum“ sich oft Taulers Worte bedient und ihn gerühmt hat. Zu diesen beiden ist noch zu setzen Thomas von Kempis „Nachfolge Christi“, welche daher zum gemeinen Nutzen der die tätige Gottseligkeit in seinen Schriften auch löblich treibende D. Johann Olearius, mein besonders hochgeehrter Gönner, noch erst vor einigen Jahren aufs Neue hat auflegen lassen und eine Einleitung beigefügt. Dahin möchten wir auch unter den Alten ein feines, gottseliges Büchlein eines unbekannten Verfassers ziehen, welches die Ursachen des Verfalles der christlichen Religion und die Mittel zu deren Wiederherstellung angibt, und den kleineren Werken Ephraems des Syrers beigedruckt ist, sowie viele andere dergleichen alte Bücher. Wenn man solchen Büchern das, was ihnen aus der Finsternis ihrer Zeit noch anklebt, zugutehält, wie das ja auch einen verständigen Leser nicht irren wird, so würden sie ohne Zweifel viel mehr Gutes bei den Studenten ausrichten und ihnen einen Geschmack der wahren Gottseligkeit geben, wenn sie ihnen mehr in die Hände gebracht würden, als etwa andere oft mit unnützen Spitzfindigkeiten erfüllte Bücher, die nur dem Ehrgeiz des alten Adams vieles und bequemes Futter geben. Es würde hoffentlich bei Vielen durch solche Mittel erfüllt werden, was der obenerwähnte Chyträus so herzlich verlangt: „Dass wir vielmehr durch gottseligen Glauben, heiliges Leben und Liebe zu Gott und dem Nächsten dartun, dass wir Christen und Theologen sind, als durch scharfsinnig und spitzfindig Disputieren.“

Da aber eben darum, weil die Theologie ein in das Leben eingreifender Zustand ist, und nicht in bloßer Wissenschaft besteht, das bloße Studieren und andererseits bloßes Lernen und Lehren nicht genug ist, so wäre darauf zu denken, wie allerhand Übungen angestellt werden möchten, in denen auch das Gemüt auf die Dinge, die ins Leben eingreifen und zur eigenen Erbauung gehören, gerichtet und geübt würde. Ich wünschte daher nicht allein, dass in besonderen Vorlesungen solche Materien, vornehmlich aus den Lebensregeln, die wir von unserem liebsten Heiland und von seinen Aposteln aufgezeichnet haben, fleißig behandelt und den Studenten eingeschärft werden, sondern ihnen auch an die Hand gegeben würde, wie sie gottselige Betrachtungen anstellen, wie sie in Prüfung ihrer selbst sich besser erkennen, wie sie den Lüsten des Fleisches widerstreben, wie sie ihre Begierden zähmen und der Welt ganz absterben, wie sie endlich ihren Wachstum im Guten, oder wo es ihnen noch mangele, erforschen möchten, nach St. Augustinus‘ Regel Kap. 7 von der christlichen Lehre: „So viel sehen die Menschen, als sie dieser Welt absterben; sofern sie aber derselben leben, sehen sie nichts.“ Die Studenten müssen also anfangen, das selbst zu tun, was sie dermaleinst Anderen lehren sollen, denn das bloße Studieren kann’s einmal nicht tun. Unser lieber Luther hat also davon gehalten über den 5. Psalm: „Ein rechter Theologe wird nicht durch Verstehen oder Lehre oder Grübeln, sondern durch Leben, ja durch Sterben und Verdammnis.“

Wie aber solche Übungen anzustellen wären, stelle ich gottseligen und verständigen Professoren eigenem Befinden anheim; sollte ich Erlaubnis haben, einen Vorschlag zu machen, so würde ich Folgendes für dienlich halten: Ein frommer Theologe finge zuerst die Sache mit nicht gar Vielen, aber solchen unter der Zahl seiner Zuhörer an, bei denen er bereits eine herzliche Begierde, rechtschaffene Christen zu sein, bemerkte, und nähme mit ihnen das Neue Testament zu lesen, und zwar so, dass sie mit Übergehung dessen, was zur Gelehrsamkeit gehört, allein auf das Acht geben, was zu ihrer Erbauung dienlich ist; und zwar so, dass jeder selbst die Erlaubnis habe, jedes Mal seine Gedanken bei jedem Vers zu sagen, und wie er denselben zu eigenem und Anderen Gebrauch anzuwenden finde, wobei der Professor, der das Ganze leitet, die richtigen Bemerkungen bekräftigte, wenn er sie aber vom rechten Zweck abweichen sieht, denselben freundlich und klar aus dem Text zeige und nachweise, bei welcher Gelegenheit diese oder jene Regel in Ausübung zu bringen wäre. Dabei könnte dann solche Vertraulichkeit und Freundschaft unter den Gliedern dieses Collegii gestiftet werden, dass sie sich nicht nur einander zur Übung dessen, was sie hörten, vermahnten, sondern auch bei sich forschten, wo sie solche Regeln bisher nicht beachtet haben, und dann umso eher trachteten, dieselben ins Werk zu setzen; auch sich untereinander verabredeten, aufeinander zu sehen, wie der Eine oder der Andere sich dazu schicken würde, mit dazu gehöriger brüderlicher Erinnerung. Wenn sie sich dabei zur Pflicht machten, sich untereinander selbst und ihrem Professor Rechenschaft zu geben, wie sie bei dieser oder jener Gelegenheit sich den erhaltenen Vorschriften gemäß gezeigt hätten, so würde dann in solcher vertraulichen Konferenz sich bald zeigen, wie weit man fortgeschritten ist und wo vornehmlich nachzuhelfen ist, indem darin jede Sache, insofern sie diese angeht, nach Gottes Wort beurteilt würde (denn von Anderen vermessen zu urteilen oder einen fremden Knecht zu richten, müssten sie nicht erst anfangen). Es würde aber der Professor keine andere Meisterschaft über das ihm anvertraute Gewissen begehren, als dass er als ein Geübter ihnen aus unseres einzigen Meisters Wort dasjenige zeigte, was er von jeglichem Fall halte, je mehr sie aber selbst Erfahrungen machten, desto mehr würde er mit ihnen gemeinsam alles festsetzen. Wenn dies eine Zeit lang mit herzlicher und eifriger Anrufung Gottes fortgesetzt würde, auch besonders jeder, vornehmlich wenn er sich zum heiligen Abendmahl vorbereiten will, den Zustand seines Gewissens dem gesamten Collegium vorstellte und allemal dessen Rat folgte, so würden ohne Zweifel in kurzer Zeit herrliche Fortschritte in der Gottseligkeit folgen, auch sodann, wenn es einmal recht angefangen, immer mehr mit Nutzen dazu gezogen werden können, und endlich solche Leute aus ihnen werden können, welche rechtschaffene Christen wären, ehe sie in das Amt treten, in dem sie Andere dazu machen sollen, die sich also eher befleißigen, zu tun, als zu lehren, was die rechte Art der wahren Lehrer in der Schule unseres Heilandes ist, wie solches mein hochwerter Freund und in dem Herrn geliebter Bruder, welcher den Schaden Josephs sich wohl inniglich zu Herzen nimmt, Herr Gottlieb Spitzel in seiner „Alten Hohen-Schule Jesu Christi“ mit so lieben und würdigen Beispielen vorstellt. Dessen „Fromme Zurückgezogenheit eines Gelehrten, oder Anleitung, von der Eitelkeit der weltlichen Gelehrsamkeit zu aufrichtiger Gottseligkeit zu gelangen“, auch ein vorzügliches nützliches Werk, kann sehr vielen Vorschub und Licht zu dem Vorhaben, gottselige Theologen zu bilden, geben und wird deswegen allen Studenten, welche den rechten Zweck im Auge haben, zum Lesen empfohlen.

Neben diesen zu ihrem eigenen Christentum dienlichen Übungen würde es auch wohl nützlich sein, wenn ihnen von ihren Lehrern Gelegenheit gemacht würde, zu einigen Vorübungen der Dinge, womit sie dermaleinst in ihrem Amte umzugehen haben werden, zuweilen einige Unwissende zu unterrichten, Kranke zu trösten und dergleichen, vornehmlich sich aber im Predigen zu üben, dass ihnen bald gezeigt werde, wie sie Alles in solchen Predigten zur Erbauung einzurichten haben.

VI.

Dies hänge ich endlich noch als das sechste Mittel an, wodurch der christlichen Kirche in einen besseren Zustand geholfen werden könnte, wenn nämlich die Predigten von allen so eingerichtet würden, dass der Zweck derselben, nämlich Glauben und dessen Früchte hervorzubringen, bei den Zuhörern bestmöglichst erreicht werde. Es werden zwar wenige evangelische Orte sein, wo nicht genug Predigten gehalten werden, aber dennoch finden viele gottselige Gemüter an vielen Predigten nicht wenig auszusetzen, denn es gibt Prediger, die oft ihre meisten Predigten mit Dingen anfüllen, womit sie sich den Ruhm der Gelehrsamkeit erwerben wollen, obwohl die Zuhörer nichts davon verstehen; da müssen oft viele fremde Sprachen herbei, von denen vielleicht nicht ein Einziger in der Kirche ein Wort versteht. Wie manche tragen mehr Sorge dafür, dass der Eingang passend, und der Übergang natürlich, dass die Einteilung kunstreich genug, und alle Teile recht nach der Redekunst abgemessen und ausgeziert seien, als dass sie solche Materien wählten und durch Gottes Gnade ausführten, wovon die Zuhörer im Leben und Sterben Nutzen haben könnten. So soll es aber nicht sein, denn weil die Kanzel nicht der Ort ist, wo man seine Kunst mit Pracht sehen lassen, sondern das Wort des Herrn einfältig, aber gewaltig predigen, und dies das göttliche Mittel sein soll, die Leute selig zu machen, so sollte auch billig alles auf die Erreichung dieses Zwecks eingerichtet werden. Der Prediger sollte sich überhaupt vielmehr nach seinen Zuhörern richten, weil diese ihn sonst nicht verstehen, und dabei sollte er stets mehr auf die Einfältigen sehen, die den größten Teil ausmachen, als auf etliche wenige Gelehrte, wo sich dergleichen finden lassen.

Da auch der Katechismus die ersten Grundzüge des Christentums in sich fasst, und alle aus demselben zuerst ihren Glauben gelernt haben, so sollte derselbe, mehr dem Sinn als den Worten nach, immer fleißiger in Katechismuslehren, zu denen man auch, wo es geht, die Erwachsenen heranziehe, getrieben, und ein Prediger darüber nicht müde werden. Außer dem wäre es, wenn man Gelegenheit hat, auch zweckmäßig, in den Predigten das den Leuten immer wieder vorzulegen, was sie einmal gelernt haben, und sich selbst dessen nicht zu schämen. Was sonst noch bei den Predigten Äußeres zu beobachten ist, übergehe ich hier gern und bleibe beim Inhalt stehen.

Weil nun unser ganzes Christentum in dem inneren oder neuen Menschen besteht, dessen Seele der Glaube ist, und seine Wirkungen die Frucht des Lebens sind, so halte ich es für unumgänglich notwendig, dass alle Predigten darauf gerichtet werden sollten, einerseits zwar die teuren Wohltaten Gottes, wie sie auf den inneren Menschen zielen, also vorzutragen, dass dadurch der Glaube und somit der innere Mensch immer mehr und mehr gestärkt werde; andererseits aber die Werke also zu treiben, dass wir keinesfalls uns begnügen, die Leute bloß zur Unterlassung der äußerlichen Laster und zur Übung der äußerlichen Tugenden zu bringen, und es also gleichsam nur mit dem äußerlichen Menschen zu tun haben, was von der heidnischen Moral auch geschieht; sondern dass wir den rechten Grund in den Herzen legen, zeigen, es sei lauter Heuchelei, was nicht aus diesem Grunde geht, und daher die Leute gewöhnen, erst nach solcher innerlichen Herzensänderung zu trachten und durch den Gebrauch der gegebenen Gnadenmittel ein solches Herz zu erlangen, das wahrhaftig Gott über alles und seinen Nächsten als sich selbst liebt, damit dann solche Liebe sich tätig erweise. Daher soll man auch fleißig nachweisen, wie die göttlichen Mittel des Wortes und der Sakramente es mit solchem innerlichen Menschen zu tun haben; es sei also nicht genug, dass wir das Wort mit dem äußerlichen Ohr hören, sondern wir müssen es auch in das Herz dringen lassen, dass wir daselbst den Heiligen Geist reden hören, d. i. seine Versiegelung und Kraft des Wortes mit lebendiger Bewegung und Trost fühlen; es sei nicht genug, dass wir getauft sind, sondern unser innerer Mensch, welcher Christus in der Taufe angezogen hat, müsse auch mit ihm bekleidet bleiben und das durch sein äußerliches Leben beweisen; es sei nicht genug, äußerlich das heilige Abendmahl empfangen zu haben, sondern unser innerer Mensch müsse auch durch solche selige Speise wahrhaftig genährt werden; es sei nicht genug, äußerlich mit dem Munde zu beten, sondern das rechte und wahre Gebet geschehe in unserem Herzen und breche entweder dann erst in Worte aus, oder bleibe wohl auch gar in der Seele, wo es doch Gott finde und antreffe; es sei nicht genug, dass wir in dem äußerlichen Tempel Gott dienen, sondern unser innerer Mensch müsse vor allem anderen in seinem eigenen Tempel (im Herzen) Gott verehren, man sei äußerlich in der Kirche oder nicht, und was dergleichen mehr ist. Darauf sollten billig alle Predigten gerichtet werden, weil darin die rechte Kraft des ganzen Christentums besteht, und wenn dies geschähe, so würde gewisslich vielmehr Erbauung erfolgen, als jetzt bei vielen geschieht.

Textgrundlage: Philipp Jakob Speners Pia desideria – Herzliches Verlangen nach Gottgefälliger Besserung der wahren evangelischen Kirche sammt einigen einfältig dahin abzweckenden christlichen Vorschlägen. Aufs neue überarbeitet und mit Anmerkungen versehen von F.W.P. Ludwig Feldner, evangel. Pastor. Niesky bei Görlitz, 1846.

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