Otto von Bismarck, Circular-Depesche vom 14. Mai 1872 zur Papstwahl: „Durch diese Beschlüsse ist der Papst in die Lage gekommen, in jeder einzelnen Diözese die bischöflichen Rechte in die Hand zu nehmen, und die päpstliche Gewalt der landesbischöflichen zu substituieren. Die bischöfliche Jurisdiktion ist in der päpstlichen aufgegangen; der Papst übt nicht mehr, wie bisher, einzelne bestimmte Reservatrechte aus, sondern die ganze Fülle der bischöflichen Rechte ruht in seiner Hand; er ist im Prinzip an die Stelle jedes einzelnen Bischofs getreten, und es hängt nur von ihm ab, sich auch in der Praxis in jedem einzelnen Augenblick an die Stelle desselben gegenüber den Regierungen zu setzen. Die Bischöfe sind nur noch seine Werkzeuge, seine Beamten ohne eigne Verantwortlichkeit; sie sind den Regierungen gegenüber Beamte eines fremden Souveräns geworden und zwar eines Souveräns, der vermöge seiner Unfehlbarkeit ein vollkommen absoluter ist — mehr als irgend ein absoluter Monarch in der Welt.“

Ich bin über die Karl-Lehmann-Biografie „Der Kardinal“ von Daniel Deckers (Pattloch, 2002) auf dieses Zitat gekommen, das im Zusammenhang mit dem Konflikt zwischem Rom und der DBK in Sache katholischer Ausstieg auf der Konfliktberatung bei Schwangerschaftsabbrüche im September 1999 erwähnt wird: „Lehmann, der Professor, hatte diesen Brief in seinen Vorlesungen über die Kirche oft behandelt. Als Bischof musste Lehmann erfahren, dass die Wirklichkeit mitunter die Theorie einholt.“ (S. 340)

Circular-Depesche vom 14. Mai 1872

Von Otto von Bismarck

Vertraulich.

Berlin, den 14. Mai 1872.

Die Gesundheit des Papstes Pius IX. ist nach allen uns zukommenden Berichten eine durchaus befriedigende und keine Symptome einer baldigen Aenderung darbietende. Ueber kurz oder lang aber muß eine neue Papstwahl immer eintreten, und der Zeitpunkt entzieht sich der menschlichen Berechnung und Voraussicht. Die Stellung des Oberhauptes der katholischen Kirche ist für alle Regierungen, innerhalb deren Länder diese Kirche eine anerkannte Stellung hat, von solcher Bedeutung, daß es geboten scheint, sich die Folgen eines Wechsels in der Person des Papstes rechtzeitig zu vergegenwärtigen. Es ist schon früher anerkannt worden, daß die Regierungen, welche katholische Unterthanen haben, dadurch auch ein großes und unmittelbares Interesse an einer Papstwahl haben, sowohl an der zu wählenden Persönlichkeit selbst, als besonders auch daran, daß die Wahl von all den Garantien in formaler und materieller Beziehung umgeben sei, welche es den Regierungen möglich machen sie als eine gültige und allen Zweifel ausschließende auch für sich und den Theil der katholischen Kirche in ihren Ländern anzuerkennen. Denn daß die Regierungen, ehe sie dem durch Wahl konstituirten Souverän, der berufen ist, so weitgreifende, in vielen Stücken nahe an die Souveränetät grenzende Rechte, in ihren Ländern auszuüben, diese Rechte faktisch zugestehen, verpflichtet sind, gewissenhaft zu erwägen, ob sie die Wahl anerkennen können, darüber scheint mir kein Zweifel sein zu können. Ein Papst, welchem die Gesammtheit oder die Mehrzahl der europäischen Souveräne aus formalen oder materiellen Gründen glaubte die Anerkennung versagen zu müssen, würde so wenig denkbar sein, wie es denkbar daß ein Landesbischof in irgend einem Lande Rechte ausübte, ohne von der Staatsregierung anerkannt zu sein. Dies galt schon [2] unter der früheren Ordnung der Dinge, wo die Stellung der Bischöfe noch eine selbständigere war, und die Regierungen nur in seltenen Fällen in kirchlichen Dingen mit dem Papste in Berührung kamen. Schon die im Anfang dieses Jahr­hunderts geschlossenen Konkordate haben direktere und ge­wissermaßen intimere Beziehungen zwischen dem Papst und den Regierungen hervorgerufen; vor Allem aber hat das vatikanische Conzil und seine beiden wichtigsten Bestimmungen, über die Unfehlbarkeit und über die Jurisdiktion des Papstes die Stellung des letzteren auch den Regierungen gegenüber gänzlich verändert, und das Interesse der letzteren an der Papstwahl aufs höchste gesteigert, damit aber ihrem Rechte, sich darum zu kümmern, auch eine um so festere Basis gegeben. Denn durch diese Beschlüsse ist der Papst in die Lage gekommen, in jeder einzelnen Diözese die bischöflichen Rechte in die Hand zu nehmen, und die päpstliche Gewalt der landesbischöflichen zu substituiren. Die bischöfliche Jurisdiktion ist in der päpstlichen aufgegangen; der Papst übt nicht mehr, wie bisher, einzelne be­stimmte Reservatrechte aus, sondern die ganze Fülle der bischöflichen Rechte ruht in seiner Hand; er ist im Prinzip an die Stelle jedes einzelnen Bischofs getreten, und es hängt nur von ihm ab, sich auch in der Praxis in jedem einzelnen Augenblick an die Stelle desselben gegenüber den Regierungen zu setzen. Die Bischöfe sind nur noch seine Werkzeuge, seine Beamten ohne eigne Verantwortlichkeit; sie sind den Regierungen gegenüber Beamte eines fremden Souveräns geworden und zwar eines Souveräns, der vermöge seiner Unfehlbarkeit ein vollkommen absoluter ist — mehr als irgend ein absoluter Monarch in der Welt. Ehe die Regierun­gen irgend einem neuen Papste eine solche Stellung einräumen, und ihm die Ausübung solcher Rechte gestatten, müssen sie sich fragen, ob die Wahl und die Person desselben die Garantien darbieten, welche sie gegen den Mißbrauch solcher Gewalt zu fordern berechtigt sind. Dazu kommt noch, daß gerade unter den jetzigen Verhältnissen nicht mit Sicherheit zu erwarten steht, daß auch nur die Garantien, mit welchen in früheren Zeiten ein Konklave umgeben war und welche es selbst in seinen Formen und seiner Zusammen­setzung darbot, zur Anwendung kommen werden. Die vom römischen Kaiser, von Spanien und Frankreich geübte Exklu­sive hat sich oft genug als illusorisch erwiesen. Der Einfluß, welchen die verschiedenen Nationen durch Kardinäle ihrer Na­tionalität im Konklave ausüben konnten, hängt von zufäl­ligen Umständen ab. Unter welchen Umständen die nächste Papstwahl stattfinden, ob dieselbe nicht vielleicht in übereilter Weise versucht wird, so daß die früheren Garantien, auch der Form nach, nicht gesichert wären — wer wollte das voraussehen?

Aus diesen Erwägungen scheint es mir wünschenswerth, daß diejenigen europäischen Regierungen, welche durch die kirchlichen Interessen ihrer katholischen Unterthanen und durch die Stellung der katholischen Kirche in ihrem Lande bei der Papstwahl interessirt sind, sich rechtzeitig mit den dieselbe be­treffenden Fragen beschäftigen, und wo möglich, sich unter einander über die Art und Weise verständigen, wie sie sich derselben gegenüber verhalten wollen, und über die Bedin­gungen, von welchen sie event. die Anerkennung einer Wahl abhängig machen würden.

Eine Einigung der europäischen Regierungen in diesem Sinne würde von unermeßlichem Gewicht und vielleicht im Stande sein, im Voraus schwere und bedenkliche Komplikationen zu verhindern.

Ew. etc. ersuche ich daher ergebenst, die Regierung, bei welcher Sie beglaubigt zu sein die Ehre haben, zunächst vertraulich zu fragen, ob sie geneigt sein möchte, zu einem Ideenaustausch und einer eventuellen Verständigung mit uns über diese Frage die Hand zu bieten. Die Form, in welcher dies geschehen könnte, würde dann leicht gefunden werden, wenn wir vorerst der Bereitwilligkeit sicher sind.

Ich ermächtige Ew. etc., dieses Erlaß vorzulesen, bitte Sie aber einstweilen, denselben noch nicht aus der Hand zu geben und die Sache überhaupt mit Diskretion zu behandeln.

(gez.) von Bismarck.

Zuerst veröffentlicht in: Deutscher Reichs-Anzeiger und Königlich Preußischer Staats-Anzeiger, Nr. 304, 29. Dezember 1874, S. 1f.

Hier der Text als pdf.

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