Von Johannes Gründel
Die Geschichte der christlichen Armenfürsorge gewann im Hochmittelalter durch die Almosenlehre eine besondere Ausprägung. Man ging davon aus, daß jeglicher Besitz dem Menschen nur zur Nutznießung zugewiesen sei; der Kirche wie den einzelnen Christen bleibe die Sorge für die Hilfsbedürftigen auferlegt. Jedem Menschen sollte zwar entsprechend seinem Stande der notwendige Lebensbedarf zukommen; was jedoch über das Erforderliche hinausginge (= Überfluß), stünde von Rechts wegen den Armen und Notleidenden zu; denn der Schöpfer habe ja die Erdengüter letztlich für alle Menschen bestimmt. Für jeden Gläubigen besteht somit die unbedingte religiös-ethische Verpflichtung, von seinem Überfluß Almosen zu geben. Wer über dieses Gebot hinaus auch noch vom Notwendigen etwas abgibt, folgt einem Rat des Evangeliums. Die Soziallehren des Hochmittelalters betonen noch nicht die Arbeitspflicht der Armen. Thomas v. Aquin umschreibt das Almosen als jenen Dienst, den wir einem Bedürftigen aus Mitleid um Gottes willen erweisen (S. th. II. II. 32. 1). Als Almosen kann bald die Gabe, bald der Akt des Gebens bezeichnet werden. Im weiteren Sinne umfaßt Almosen alle Werke der geistlichen und leiblichen Barmherzigkeit. Im Anschluß an die Gerichtsrede (Mt 25,31-46) werden als die sieben leiblichen Almosen genannt: Hungrige speisen, Durstige tränken, Nackte bekleiden, Fremde beherbergen, Kranke besuchen. Gefangene befreien, Tote begraben. Als geistliche Almosen gelten: Unwissende belehren, Zweifelnden raten, Trauernde trösten, Sünder zurechtzuweisen, dem Beleidiger verzeihen, die Lästigen und Schwierigen ertragen und für alle beten (Thomas, S. th. II. II. 32. 2). Das Almosen bietet eine Möglichkeit, für begangene Sünden Genugtuung zu leisten. In der volkstümlichen Verkündigung durch zeitgenössische Kanzelredner und in der künstlerischen Darstellung der Werke der Barmherzigkeit erfuhr die karitative Tätigkeit jener Zeit gerade durch die Verpflichtung zum Almosengeben einen unerhörten Antrieb.
Lit.: A. Adam, Arbeit und Besitz nach Ratherius v. Verona, 1927 – Th. Horvert, Das Eigentumsrecht nach dem hl. Thomas v. Aquin, 1929.
Lexikon des Mittelalters (LMA), Bd. 1 (1980), Sp. 450f.