Von Eberhard Jüngel
1
„Es sind jetzt mehr als 40 Jahre her, daß ich bei Franz Overbeck den Satz gelesen habe: anders als durch Verwegenheit sei Theologie nicht mehr zu begründen. Ich habe ihn mir gemerkt.“ Der alte Karl Barth dürfte mit dieser Erinnerung an das Geheimnis seiner ihn in den Rang eines modernen Kirchenvaters erhebenden Wirksamkeit gerührt haben. Unter den protestantischen Profilen, die aus der Geschichte der evangelischen Christenheit nicht wegzudenken sind, ist das des Schweizers Karl Barth nicht zuletzt wegen der Verwegenheit, mit der er im Widerspruch zum Geist seiner Zeit eine Neubegründung der Theologie versucht hat, eines der profiliertesten. Ein entscheidendes Kapitel der neueren Kirchen- und Theologiegeschichte ist in seiner Handschrift, verwegen genug, geschrieben. Barths Theologie galt der Kirche. Sie galt ihr so kompromißlos, daß sie gerade deshalb politisch wirksam wurde und sein Name auch im Buch der weltlichen Geschichte nicht zu übersehen ist. Man muß wohl an die Reformatoren des 16. Jahrhunderts denken, um die Bedeutung dieses Mannes an anderen Gestalten des Protestantismus messen zu können — wobei sich die Unterschiede von selbst verstehen.
Dabei wollte seine Theologie nichts anderes sein als „eine Theologie für die Pfarrer“. Aus der eigenen bedrängenden Erfahrung, für die Aufgabe, das Evangelium zu verkündigen, keine hinreichende Orientierung zu haben, war der verwegene Aufbruch zu neuen Ufern erwachsen, der der Schweizer Stimme des jungen Theologen zunächst im deutschsprachigen Raum, dann in Europa und schließlich in der ganzen Welt Gehör und Beachtung, aber auch leidenschaftliche Gegnerschaft verschaffte. Im Leben, Denken und Wirken Karl Barths begegnete den aufhorchenden Zeitgenossen in authentischer Weise eine „theologische Existenz“.
2
Die theologischen Anfänge Barths lassen sich ebensowenig wie seine spätere Wirksamkeit ohne Rückbezug auf das gelebte Leben verstehen. Der biographische Bezug darf freilich nicht dazu verführen, sich von seinem theologischen Werk ablenken zu lassen. Er kann aber davor bewahren, dieses Werk als eine von seiner theologischen Existenz und ihren geschichtlichen Bedingtheiten abstrahierbare zeitlose Lehre mißzuverstehen. Gerade als ein Kopf, der an den Wandlungen des 20. Jahrhunderts maßgeblich mitgewirkt hat und ein Jahrhundert hat bauen helfen, war Barth ein Kind seiner nach Erneuerung verlangenden Zeit. Sein Lebenslauf ist voll von Wegmarken, die deutlich machen, daß die Geschichte seines Denkens zugleich die Lebensgeschichte dieses Denkers ist.
3
Da ist zunächst Basel, die Geburtsstadt, in der Karl Barth am 10. Mai 1886 zur Welt kam und im hohen Alter von zweiundachtzig Jahren auch gestorben ist. Seiner Herkunft nach war er der Vaterstadt vor allem mütterlicherseits verbunden. Die Ehefrau des Pfarrers Johann Friedrich Barth, Frau Anna Katharina geb. Sartorius, war eine Basler Pastorentochter und das Enkelkind eines aus Deutschland nach Basel berufenen, aber wegen Trunksucht aus diesem Amt wieder entlassenen Theologieprofessors. Über die Mutter gab es auch verwandtschaftliche Beziehungen zur Familie Jakob Burckhardts. Der Vater hatte kurz vor der Geburt des Sohnes Karl, seines ersten Kindes, eine Lehrtätigkeit an der Basler Predigerschule übernommen, die als Gegengewicht gegen die damalige liberale Universitätstheologie gegründet worden war.
Barth selbst stand dem Basler Bürgertum und den Traditionen seines Geistes allerdings eher reserviert gegenüber und behauptete sogar froh darüber zu sein, daß er nur zu drei Achteln aus dem echten Basel stamme. Das Zeugnis, das er dem als Repräsentanten des Basler Geistes verstandenen dortigen Theologentum ausstellte – im Grunde konservativ und vor allen Extremen gefeit durch eine milde humanistische Skepsis –, liest sich denn auch nicht wie ein Selbstporträt. Vollends die Basler Fastnacht mit ihren Maskeraden erregte seine lebhafte Antipathie, die mit seiner Abneigung gegen die Rede vom verborgenen Gott und jedwede andere Selbstverbergung Zusammenhängen mag.
Dennoch ist Barth von nicht wenigen Eigenheiten der Basler Mentalität unverkennbar geprägt worden. Die Basler Lust zur – keineswegs immer freundlichen – Pointe hat er zeitlebens nicht verdrängt. Sein schriftstellerisches Werk spricht eine pointierte Sprache, in der sich die Hintergründigkeit gelassener Heiterkeit mit treffsicherem Witz durchaus verträgt. Und seine nicht selten boshaft zugespitzte, geschliffene Polemik, von seinen Freunden ebenso geschätzt wie von seinen Gegnern gefürchtet, hat Basler Format. Wichtiger ist allerdings der alemannische Hang und Drang zum Wesentlichen, der ihm nicht weniger eigen war als seinem philosophischen Zeitgenossen Martin Heidegger, nur eben in einer durch Basler Urbanität moderierten Gestalt. Aller Oberflächlichkeit abhold verlor er bei dem Versuch, denkend zum Wesen der Dinge vorzudringen und ihre Tiefe auszuloten, nie aus dem Blick, daß auch die Tiefe des Gedankens immer die Tiefe einer lebendigen Oberfläche ist. Es war der Sohn Basels, der wußte, wie sehr man gerade auf dem Weg zum Grund der Dinge sich in die Abgründe dunklen Tiefsinns versteigen kann. Nicht zuletzt deshalb nannte er den heiligen Geist gern den intimsten Freund des gesunden Menschenverstandes, eine Behauptung, mit der Barth wohl ausnahmsweise sogar der Zustimmung des im Basler Münster beigesetzten großen Humanisten Erasmus sicher sein konnte.
Erheblichen Einfluß gewann das geistig lebendige Basel auf den jungen Knaben durch eine eher unscheinbare Gestalt des Basler Geistes. Es waren die anspruchslosen baseldeutschen Kinderlieder von Abel Burckhardt, die schon das Kind – sagen wir ungeniert: theologisch – geprägt haben und die noch der alte Mann gern gesungen hat. In einer hochdogmatischen Erörterung hat er ihnen ein Denkmal gesetzt und die schlichte Selbstverständlichkeit gepriesen, mit der sie die biblisch bezeugten Geschehnisse der Weihnacht, des Karfreitags, des Ostertages usw. zur Sprache brachten, als ob sich das alles just heute morgen in Basel abspielte. Gerade in ihrer Naivität hat Barth im Rückblick eine Weisheit erkannt, die wohl geeignet sei, den Menschen „nachher durch ganze Ozeane von Historismus und Antihistorismus, Mystik und Rationalismus, Orthodoxie, Liberalismus und Existentialismus“ zwar „nicht unversucht und unangefochten, aber doch verhältnismäßig schadlos hindurchzutragen und irgendeinmal zur Sache selbst zurückzuführen“.
4
Die Berufung des Vaters zum Nachfolger Adolf Schlatters führte die Familie 1889 nach Bern. Die Erziehung im Elternhaus und in der Schule scheint im ganzen problemlos verlaufen zu sein, was nicht ausschließt, daß es zu gewissen Zusammenstößen mit dem schon früh seinen eigenen Willen geltend machenden Knaben gekommen ist. Der Vater, ein durch seinen großen Ernst auffallender Mann, war im Kreise der Familie fraglose Autorität. Daß er trotz seiner konservativen theologischen Ausrichtung freundlichen Verkehr mit dem Haupt der Liberalen, Adolf von Harnack, pflegte, daß er Mitbegründer einer „christlich-sozialen Gesellschaft“ war und daß er der sogenannten Frauenfrage besondere Aufmerksamkeit zuwendete, läßt ihn als nicht gerade einseitig erscheinen. Daß er wußte, was er wollte, bekam der Sohn mitunter schmerzlich zu spüren. Noch als Student mußte er sich dem väterlichen Willen beugen. Dennoch ist dem alten Karl Barth die sozusagen dialektische Erziehungsmethode der Mutter – „sehr, sehr lieb haben … mit dauernder Vorhaltung des Gesetzes“ – in unangenehmerer Erinnerung geblieben als die Autorität des Vaters. Mit etwas gar zu großem Erfolg scheint der heranwachsende Knabe sein Durchsetzungsvermögen an den jüngeren Geschwistern, insbesondere an den Brüdern, erprobt zu haben, die ihm den Mißbrauch des Erstgeborenenrechtes noch im Alter ein wenig verargten. Doch die kritischen und selbstkritischen Erinnerungen, die der alte Karl Barth über das Elternhaus gelegentlich äußerte, sind Randerscheinungen. Im ganzen hat er gern und dankbar auf die Berner Jugendzeit und die ihm zuteil gewordene Erziehung „in einem guten christlichen Geiste“ zurückgeblickt.
Etwas zuviel von diesem Geist atmete möglicherweise die „bibelgläubig-positiv“ ausgerichtete Schule, in der sich alsbald eine unbestreitbar einseitige Begabung des Schülers herausstellte. Das Rechnen sagte ihm vom ersten Schultag an nicht zu – von Luther weiß man ähnliches -, und die naturwissenschaftlichen Fächer stießen den erwachenden Intellekt nachhaltig ab. Dafür war er jedoch eine Leseratte mit starken historischen Interessen, die im Dichten von allerlei Dramen in der Manier Friedrich Schillers produktiv verarbeitet wurden. Der Hang zum Tintenfaß, der in der Familie ähnlich gefährlich gewesen sein soll wie bei anderen der Hang zur Flasche, machte sich jedenfalls früh bemerkbar. Im Nachlaß Barths fand man ein Diarium des Scholaren mit der handschriftlichen Titulatur „Karl Barths Sämtliche Werke“ …
Besonderer Erwähnung bedarf das empfängliche Gemüt des Knaben für große Musik, das schon bald für immer von der Bekanntschaft mit den Tönen Mozarts geprägt wurde. Als er zum ersten Mal ein paar Takte aus der Zauberflöte, vom Vater auf dem Klavier angeschlagen, vernahm, gingen sie ihm durch und durch. „Das ging in mich hinein, ich weiß nicht wie – und ich habe gemerkt: Der ist’s!“. Er ist es geblieben bis zum letzten Lebenstag, und er hat auch für den Theologen Karl Barth eine kaum zu überschätzende Bedeutung gehabt. Meinte er doch in keuscher Nachbarschaft zur Musik Mozarts seine eigene theologische Denkbewegung identifizieren zu können: in jener Musik, die – gerade weil sie nichts verkündigen, nichts bekennen, nichts besagen will – aus höchster Höhe herkommend das zwiespältig geteilte Dasein zusammenklingen läßt, „des Daseins rechte und seine linke Seite und also die Freude und den Schmerz, das Gute und das Böse, das Leben und den Tod“, aber immer in einer Wendung vom Tod zum Leben, vom Schmerz zur Freude, von der Zwiespältigkeit des Daseins zu Gottes guter Schöpfung. In Mozarts Musik klang für Karl Barth das Geheimnis auf, dem theologisch nachzudenken er sich berufen wußte.
Zum Theologiestudium entschloß sich Barth am Tage seiner Konfirmation. Wesentlichen Anteil an dieser Entscheidung hatte der fesselnde Konfirmandenunterricht bei dem damals über die Schweizer Grenzen hinaus bekannten Berner Pfarrer Robert Aeschbacher, der den Glauben zu verstehen lehrte und auch seine soziale Relevanz deutlich zu machen verstand. 1904 begann Barth sein Studium in Bern, ohne bei den dort lehrenden Professoren theologisch Feuer zu fangen. Es war die sogenannte historisch-kritische Schule, die er offensichtlich derart gründlich durchlaufen mußte, daß sie ihn später nicht mehr sonderlich zu beeindrucken vermochte. Sein Wunsch, das Studium im liberalen Marburg fortzusetzen, stieß auf den entschiedenen Widerstand des Vaters, der den Sohn gern im konservativen Halle oder in Greifswald gesehen hätte. Man einigte sich schließlich auf Berlin, wo Barth bei dem Alttestamentler Hermann Gunkel die religionsgeschichtliche Methode der Bibelauslegung kennen lernte und von Adolf von Harnack gefesselt wurde. Ihn nannte er auch später noch seinen Lehrer. Inzwischen war ihm das Studium von Kants „Kritik der praktischen Vernunft“ wichtig geworden. Und neben Kant trat Schleiermacher in seinen Gesichtskreis. Die Beschäftigung mit diesem größten Theologen der Neuzeit, der ihn zunächst begeisterte, dem er später jedoch von Grund auf widersprach, hat ihn nicht mehr losgelassen.
Dem maßgeblichen Interpreten Schleiermachers begegnete er, als er nach je einem Semester in Bern und in Tübingen endlich doch in dem ersehnten Marburg eintraf, um sein Studium bei den dortigen Vertretern der liberalen Theologie und insbesondere bei Wilhelm Herrmann fortzusetzen, der sein eigentlicher Lehrer wurde. In Herrmanns Auditorium fand er die Freiheit theologischen Denkens, nach der er suchte. Die dogmatische Arbeit Herrmanns war frei von aller Apologetik. Sie war in sich selbst begründet, machte keine Anleihen bei anderen Wissenschaften und wurde gerade deshalb ernst genommen. „Es war“, so berichtet Barth, „Metall in Herrmanns Stimme“. Mit der Marburger Theologie, die er „eimerweise zu sich genommen“ zu haben behauptete, zog Barth in das Vikariat, um dann noch einmal als Redaktionsgehilfe Martin Rades, des Herausgebers der damals viel gelesenen „Christlichen Welt“, nach Marburg zurückzukehren. In Rade gewann er einen väterlichen Freund, der das ungewöhnliche Format Barths bald erkannte und seinen weiteren Weg fortan aufmerksam, hilfreich und kritisch begleitete. Als Barth 1909 die Stelle eines Hilfspastors in Genf übernahm, war es „ein ganzer Marburger“, der von den Ufern der Lahn in die Stadt Calvins übersiedelte. Um so erstaunlicher, daß er alsbald dessen Schriften gründlicher zu studieren begann.
7
Von 1911 an war Barth acht Jahre lang Pfarrer in Safenwil, wo er 1913 heiratete. In der keineswegs spannungslosen Ehe, aus der fünf Kinder hervorgingen, erwies sich Frau Nelly geb. Hoffmann in ihrer oft entsagungsvollen Treue als eine geduldige und nicht selten schmerzlich duldende Lebensgefährtin. Sein letztes Buch hat Barth ihr „in großer Dankbarkeit“ gewidmet. In der Safenwiler Zeit entstand zudem die für die kommenden Entscheidungen so bedeutsame Freundschaft mit Eduard Thurneysen, der Barths theologischen Weg am konsequentesten mitging und anfangs wohl auch mitbestimmte.
Doch zunächst reduzierte sich die theologische Arbeit des Safenwiler Pfarrers auf die allerdings sehr sorgfältige Vorbereitung von Predigt und Unterricht. Der durch die Notlage seiner Arbeiter geprägte Ort konfrontierte den jungen Pfarrer unvermittelt mit den Klassengegensätzen der damaligen Gesellschaft. Er fühlte sich herausgefordert. Der Eintritt in die Sozialdemokratische Partei war eine der Konsequenzen, die Barth zog. Er schrieb und hielt Vorträge zur sozialen Frage, befaßte sich mit Gewerkschaftsproblemen und geriet mehrfach in Konflikt mit den Fabrikanten der Safenwiler Gegend. Die für die jüngeren Schweizer Theologen damals fast selbstverständlichen Kontakte mit der von Heinrich Kutter und Leonhard Ragaz repräsentierten Bewegung der religiösen Sozialisten wurden nun intensiviert. Kutters These, daß der Machtbereich Gottes größer ist als die Kirche, fand ebenso Beachtung wie die von Ragaz vertretene Theorie, daß der Sozialismus eine vorlaufende Erscheinung des Reiches Gottes sei. Barth begann, zwischen Religion und Christentum zu unterscheiden.
Ebensowenig wie ein „religiöser Pfarrer“ wollte er jedoch ein „politischer Pfarrer“ sein. Er war unterwegs zu einem neuen Selbstverständnis. Intensive Aufmerksamkeit wendete er jetzt den beiden Blumhardts zu, bei denen er zu finden schien, wonach er mehr oder weniger bewußt suchte: ein religionskritisches oder gar religionsloses Christentum, eine der Welt die Treue haltende Gottesfurcht und vor allem die österliche Gewißheit „Jesus ist Sieger!“. Nichts hat seine spätere Theologie stärker geprägt als diese Gewißheit. Aber wie sollte man diese Gewißheit unter die Leute bringen? Es war die Predigtnot, von Gott reden zu müssen und doch nicht reden zu können, die die Freunde Barth und Thurneysen nach einer neuen Grundlage ihrer theologischen Existenz suchen ließ. Unter dem Eindruck des ersten Weltkrieges und der theologisch zweifelhaften Stellungnahmen der meisten seiner Lehrer, aber auch angesichts des Versagens der europäischen Sozialdemokratie verschärfte sich die Krise, in die beide Pfarrer geraten waren. Es sollte die entscheidende Krise werden. Der Ausgang aus ihr war der verwegene Aufbruch zur Neubegründung der christlichen Theologie im 20. Jahrhundert.
8
Der Aufbruch zu neuen Ufern bereitete sich vor in einem neuen Umgang mit der Bibel. Der angemessene Gebrauch der Bibel müßte, so forderte Barth, dazu führen, zwischen den Tagesnachrichten der Zeitung und der frohen Nachricht des Neuen Testaments einen „organischen Zusammenhang“ zu finden. „Hätten wir uns doch früher zur Bibel bekehrt“ schrieb er im November 1918 an Thurneysen. Damals lag ein zweijähriges Studium des Römerbriefes hinter ihm. Die literarische Frucht dieses Studiums war der Barthsche „Römerbrief“, der 1919 in erster, 1922 völlig umgearbeitet in zweiter Auflage erschien.
Das Buch hatte sich bald einen ähnlichen Rang verschafft wie Schleiermachers berühmte „Reden über die Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern“. Doch welch ein Unterschied! Wie Hammerschläge klingen die auf der ersten Seite zu lesenden Worte: „Eine Botschaft von Gott …, keine menschliche Religionslehre … Eine objektive Erkenntnis, nicht Erlebnisse, Erfahrungen und Empfindungen.“ Weiter konnte man sich von Schleiermacher und der von ihm geprägten Frömmigkeit nicht entfernen. Schärfer konnte der Gegensatz zu der einst „eimerweise“ zu sich genommenen liberalen Theologie nicht formuliert werden.
Von der herrschenden Theologie wurden die neuen Töne, die sich auch in einer Reihe von Vorträgen Gehör verschafften, durchaus als die Provokation empfunden, als die sie gemeint waren. Nicht der religiöse Mensch, sondern die Gottheit Gottes, nicht die Unmittelbarkeit der Seele zu Gott, sondern der nur als Wunder zu begreifende Durchbruch Gottes in die Welt sollte verkündigt werden. „Senkrecht von oben“ nur ereigne sich Gottes Offenbarung und erschließe sich die Bedeutung Jesu Christi, dessen allein von Gott gewirkte Auferstehung von den Toten deshalb als Urdatum des christlichen Glaubens gelten müsse. Wer dergleichen proklamierte, für den mußte das moderne Interesse am historischen Jesus wie ein Strohfeuer in sich zusammensacken. „Ihr habt Ostern hinter Euch“ rief der Paulusausleger Karl Barth der christlichen Gemeinde und mit ihr der ganzen Welt ins Gedächtnis. Man horchte auf. Man schüttelte zwar den Kopf, doch man horchte auf.
Der „Römerbrief“ machte den Autor mit einem Schlag bekannt und brachte ihm 1921 eine Berufung auf die neu gegründete Professur für reformierte Theologie in Göttingen ein. Ein Jahr später erschien die zweite Auflage des Buches, dessen erste Fassung dem Verfasser nun zu wolkig und spekulativ vorkam, so daß bei der Neubearbeitung „kein Stein auf dem anderen“ blieb. Diese Neufassung wurde, wie der alte Barth nicht ohne ein gewisses Knurren bemerkte, „für die Fama des Verfassers für Jahrzehnte … entscheidend“. Sie begründete seinen Ruf, ein, wenn nicht der Urheber der neuen theologischen Bewegung zu sein, die man alsbald und seitdem als Dialektische Theologie zu kennzeichnen pflegte und zu der neben Thurneysen Friedrich Gogarten, Georg Merz, Emil Brunner (mit Einschränkung auch Paul Tillich) und vor allem Rudolf Bultmann zu zählen sind. Man gründete sogar eine eigene Zeitschrift mit dem signifikanten Titel „Zwischen den Zeiten“. Zwischen Bultmann und Barth kam es für eine Weile zu einer beträchtlichen theologischen Nähe, die von den später aufbrechenden und – vor allem durch die Schulbildungen zementierten — Gegensätzen nicht verdrängt werden sollte.
9
„Dialektisch“ nannte man die neue Theologie, weil sie mit elementaren Unterscheidungen und Entgegensetzungen arbeitete und – unter dem Einfluß Platons, Kierkegaards und Dostojewskis – jeder Synthese von Zeit und Ewigkeit leidenschaftlich widersprach. Mit expressionistischer, auf Paradoxien geradezu versessener Sprachkraft wurde der „unendlich qualitative Unterschied“ zwischen Himmel und Erde, Gott und Mensch, Transzendenz und Immanenz eingeschärft. „Welt ist Welt. Aber Gott ist Gott“ lautete die fensterlose Tautologie, die jeden religiösen Griff nach Gott verwehren sollte. Gegen die Synthese von Christentum und Kultur wurde das nur als „Revolution Gottes“ zu verstehende Reich Gottes verkündigt, von dem her das Wesen des Christentums zu bestimmen sei: „Christentum, das nicht ganz und gar und restlos Eschatologie ist, hat mit Christus ganz und gar und restlos nichts zu tun.“ Kommunikation zwischen Zeit und Ewigkeit kann sich deshalb nur im zeitlosen Augenblick, nur „zwischen den Zeiten“ ereignen.
Und auch das nur aufgrund des Wortes Gottes, das in der Bibel zu entdecken und in der Gegenwart zur Geltung zu bringen nun als die eigentliche Aufgabe kritischer, d. h. urteilsfähiger Theologie ausgegeben wurde. Dialektische Theologie ist wesentlich Theologie des Wortes Gottes und insofern Theologie in der Schule der Reformation. Im Blick auf die reformatorische Frage nach dem Wort Gottes ohne Urteilskraft und also unkritisch zu sein, warf Barth den Vertretern der „historisch-kritischen“ Wissenschaft vor: „Kritischer müßten mir die Historisch-Kritischen sein!“
Die einstigen Lehrer nahmen den Fehdehandschuh auf. Es kam zu einer literarischen Auseinandersetzung mit dem großen alten Mann der liberalen Theologie Adolf von Harnack, die in ihrer sachlichen Distanziertheit auf der Seite des alten und in ihrer leidenschaftlichen Sachlichkeit auf der Seite des jungen Professors ein Glanzpunkt evangelischer Theologie zu nennen ist.
10
Der Göttinger Professor, der sich ohne akademischen Grad und ohne wissenschaftliche Vorbereitungen in das neue Amt versetzt sah, mußte sich in harter, auch die Nächte nicht schonender Arbeit die fehlenden Voraussetzungen für seine Lehrtätigkeit verschaffen. Barth las neutestamentliche, theologiegeschichtliche und dogmatische Kollegs. Gründliche historische Studien ließen ihm – zum Entsetzen auch seiner Freunde – die altprotestantische Orthodoxie als eine ernst zu nehmende Herausforderung erscheinen, während sich ihm Pietismus und Rationalismus als zwei Seiten desselben neuprotestantischen Grundirrtums darstellten. Dieser Grundirrtum, den Barth merkwürdigerweise schon bei Luther sich anbahnen sieht, besteht darin, nicht Gott, sondern den Menschen zum Thema der Theologie gemacht und damit Theologie in Anthropologie verkehrt zu haben.
Die Studenten, die ihm in Scharen zuströmten, zog freilich mehr als die neu erworbene Gelehrsamkeit der unmittelbare Zugang „zur Sache selbst“ an, der ihnen in diesen ungewöhnlichen Kollegs eröffnet wurde. Für den Universitätsbetrieb befremdlich genug wurde Barths Hörsaal ein akademischer Anziehungspunkt, der damals wohl nur in den philosophischen Vorlesungen Martin Heideggers eine Parallele hatte.
Von Göttingen, wo er in Emmanuel Hirsch einen respektierten Widersacher hatte, wurde Barth 1925 nach Münster berufen. In dem dortigen Logiker Heinrich Scholz gewann er einen ebenso kritischen wie treuen Freund. Jetzt trat der Katholizismus deutlicher als bisher in sein Gesichtsfeld. Durch einen seiner interessantesten und tiefsinnigsten Vertreter, den Jesuiten Erich Przywara, wurde Barth angehalten, das Selbstverständnis der katholischen Kirche fortan ernsthafter in die eigenen Überlegungen einzubeziehen, um freilich das Trennende umso schärfer zu markieren.
Damals entstand als erste ausgesprochen systematische Abhandlung Barths die „Christliche Dogmatik im Entwurf“, die aber über einen ersten Band nicht hinauskam. Sie wurde vom Autor schon bald als Fehlstart eingeschätzt und dann durch die „Kirchliche Dogmatik“ ersetzt. Seinem sich ständig korrigierenden Geist erwiesen sich die bisher erarbeiteten Grundlagen als noch immer nicht tragfähig genug. In zunächst stiller Auseinandersetzung mit den Mitstreitern, die weitgehend auch eine Auseinandersetzung mit sich selber war, bemühte sich Barth aufs neue um die Klärung der Voraussetzungen oder vielmehr: der Voraussetzungslosigkeit christlicher Theologie. Darüber sollte die Gemeinschaft insbesondere mit Friedrich Gogarten, den Barth einst als einen „Kreuzer erster Klasse“ und – in Deutschland herrschte Inflation! – als „holländische Valuta“ begrüßt hatte, mehr und mehr zerbrechen. Die bisherige Weggefährtenschaft schien sich als ein Selbstmißverständnis herauszustellen. Die Führer der dialektischen Theologie, so kommentierte ein scharfzüngiger Beobachter die Szene, seien unter sich so uneins wie die chinesischen Revolutionsgenerale. Barth begann inmitten des Zulaufs, den er fand, einen immer schmaler werdenden Weg zu gehen und verglich sich nun gern mit dem einsamen Vogel auf dem Dache, der nur noch den Himmel, allerdings: einen weit geöffneten Himmel, über sich hat.
11
In diese Zeit fallen die ersten Schatten des kommenden Kirchenkampfes. Barth war inzwischen nach Bonn übergesiedelt, wo er seit 1930 als Professor für systematische Theologie tätig war. Seine Arbeitskraft und seine literarische Produktivität wurde immer stärker beansprucht. Besondere Hilfe und dasjenige Verständnis, ohne das er auch im privaten Bereich nicht mehr auskommen zu können glaubte, fand er in zunehmendem Maße bei seiner Mitarbeiterin Charlotte von Kirschbaum. Daß ihm diese Frau nach seinem eigenen Zeugnis „in jedem Sinn unentbehrlich“ wurde, hat das Familienleben belastet und den vielfältig angegriffenen und angefochtenen Theologen zusätzlich verwundbar gemacht. Barth hat sich zu dieser seiner Verwundbarkeit bekannt. Sie gehört zu seiner Biographie.
Charlotte von Kirschbaum hat wohl jede Seite des nun entstehenden gewaltigen Hauptwerkes druckfertig gemacht. Dieses von 1932 an erscheinende voluminöse opus magnum ist „Die Kirchliche Dogmatik“, die trotz ihres schließlich auf 9185 Seiten angewachsenen Umfanges eine große „Unvollendete“ geblieben ist. Die auch als schriftstellerische Leistung – z. B. mit dem Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung – ausgezeichnete Dogmatik hat dem einstigen theologischen Revolutionär den Ruf eines Kirchenvaters des 20. Jahrhunderts eingebracht. Und sie kann sich in der Tat überzeugend neben den Werken der Väter sehen lassen, von denen Barth seinerseits unvoreingenommen zu lernen bereit war. Insbesondere die Denkbewegung Anselms von Canterbury, dem ein eigenes und „mit der größten Liebe“ verfaßtes Buch zugedacht wurde, erachtete Barth für theologisch beispielhaft. Diese Denkbewegung, der auch die „Kirchliche Dogmatik“ folgt, besteht schlicht im Nach-denken dessen, was zuvor im Glaubensbekenntnis als Wahrheit der heiligen Schrift bejaht worden ist. „Der Theologe fragt, inwiefern es so ist, wie der Christ glaubt, daß es ist.“
Man hat diese Denkbewegung, indem man ein Wort Dietrich Bonhoeffers aufnahm, häufig als „Offenbarungspositivismus“ kritisiert. Doch der Vorwurf verkennt, daß es nicht abstrakt vorliegende „geoffenbarte Wahrheiten“ sind, denen die Dogmatik nachzudenken versucht, sondern daß es die in der Person Jesu Christi konkret begegnende und als solche in der Bibel bezeugte Wahrheit ist, die zum aufmerksamen Denken befreit. Die ganze „Kirchliche Dogmatik“ ist im Grunde nichts anderes als der mit Einsatz aller Intelligenz unternommene Versuch, unter immer wieder neuen Gesichtspunkten die Selbstaussage des johanneischen Christus nachzubuchstabieren: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben. Niemand kommt zum Vater denn durch mich“ (Joh. 14,6). Wobei es Barth besonders wichtig wurde, daß diese Wahrheit nach Joh. 8,32 befreiend wirkt.
12
Die in der Freiheit eines Christenmenschen sich ausweisende christologische Grundorientierung wurde das Kampfeszeichen, mit dem Barth gegen jeden Versuch zu Felde zog, das allein in Jesus Christus gelegte Fundament der Kirche durch andere Bausteine zu ersetzen, zu ergänzen oder noch einmal zu untermauern. Er klassifizierte derartige Versuche ein wenig pauschal als Variationen des alten Themas der „natürlichen Theologie“, die neben der Bibel die Ordnungen der Natur und neuerdings auch bestimmte Ereignisse der Geschichte oder gar „das natürliche Licht der menschlichen Vernunft“ als Quellen der Gotteserkenntnis und der ethischen Entscheidung in Anspruch nehmen zu können meint. Auf Emil Brunners Schrift „Natur und Gnade“ antwortete Barth 1934 mit einem schroffen „Nein!“, das zugleich jeder „Bindestrich-Theologie“ galt. Das reformatorische „Allein“ wurde kompromißlos gegen alle Unternehmungen zur Geltung gebracht, die sich zwar auch auf Luthers Devise beriefen, allein die heilige Schrift weise den Weg zum Heil, das allein in Jesus Christus da ist und, weil allein durch Gnade, allein aus Glauben zu erlangen ist. Nach Barths Urteil schielten jedoch die meisten sich derart lutherisch gebenden Unternehmungen nach anderen Autoritäten, so daß sie zu einer Theologie des „Zwar Entweder-Oder, aber auch Sowohl-Als-auch“ gerieten. In diesem auf beiden Seiten hinkenden Christentum identifizierte Barth den Krebsschaden der Kirche, der in Gestalt der „Deutschen Christen“ offen zum Ausbruch gekommen war.
Durch die Machtergreifung der Nationalsozialisten hatte sich die theologische Kontroverse, die man bis dahin als Professorengezänk bagatellisieren konnte, zu einem regelrechten Kirchenkampf zugespitzt, der die christliche Gemeinde unmittelbar betraf. Die politische Welt beobachtete die Vorgänge aufmerksam, wenn sie sich nicht sogar mit „groß Macht und viel List“ an ihnen beteiligte. Barth hatte schon im Juni 1933 als Beiheft der nun ihrem Ende entgegengehenden Zeitschrift „Zwischen den Zeiten“ eine Flugschrift mit dem bezeichnenden Titel „Theologische Existenz heute“ verfaßt, die sofort als Kampfschrift gegen eine sich an die neuen Machthaber anpassende Kirche verstanden wurde und innerhalb eines Jahres in 37.000 Exemplaren verbreitet war. Eines von diesen 37.000 Exemplaren hatte er auch Hitler zukommen lassen, der auf der letzten Seite dieses Manifestes lesen konnte, daß die Kirche „die naturgemäße Grenze jedes, auch des totalen Staates“ sei. Die Zeit „zwischen den Zeiten“ war vorbei. Theologie vollzog sich nun, gerade indem sie ihre Arbeit tat, „als wäre nichts geschehen“, im Strudel der Zeit. Ihre Sachgemäßheit war ihre Zeitgemäßheit.
13
Barths neuerlicher Ruf zur Sache fiel in der sich bildenden „Bekennenden Kirche“ auf fruchtbaren Boden, jedenfalls zunächst. Auf der ersten Bekenntnissynode in Barmen kam es am 31. Mai 1934 zur Verabschiedung einer weitgehend aus seiner Feder stammenden „Theologischen Erklärung“, die als die bedeutendste kirchliche Äußerung im protestantischen Deutschland seit den reformatorischen Bekenntnisschriften zu gelten hat. In ihrer ersten These wird in lapidarer Sprache zugleich die Summe der Barthschen Dogmatik formuliert: „Jesus Christus, wie er uns in der heiligen Schrift bezeugt wird, ist das eine Wort Gottes, das wir zu hören, dem wir im Leben und im Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben. Wir verwerfen die falsche Lehre, als könne und müsse die Kirche als Quelle ihrer Verkündigung außer und neben diesem einen Worte Gottes noch andere Ereignisse und Mächte, Gestalten und Wahrheiten als Gottes Offenbarung anerkennen.“
Das war eine unmißverständliche Sprache. Sie wurde auch außerhalb der Kirche verstanden. Noch im selben Jahr wurde Barth, weil er den uneingeschränkten Eid auf den Führer verweigert hatte, vom Dienst suspendiert und, obwohl ein Gericht seinem Einspruch im wesentlichen stattgegeben hatte, vom Reichswissenschaftsminister durch Erlaß vom 21. Juni 1935 in den Ruhestand versetzt. Seine Druckerzeugnisse wurden bald darauf in Deutschland verboten.
Der unfreiwillige Ruhestand währte indessen nur über ein Wochenende. In Basel sorgten ausgerechnet zwei erklärtermaßen atheistische Politiker dafür, daß Barth schon am nächsten Montag zum außerordentlichen Professor an der Universität seiner Vaterstadt ernannt wurde. Er freute sich, obwohl er die deutschen Studenten sehr vermißte, der neu gewonnenen schweizerischen Freiheit. Wenn er sich in den folgenden Jahren zu Worte meldete, dann wollte er bewußt als „eine Schweizer Stimme“ vernommen werden.
14
Von Basel aus ermutigte Barth die Christenheit Europas mit theologischen Argumenten zum Widerstand gegen die faschistische Barbarei. Er forderte das „Zeugnis des politischen Gottesdienstes“. Gegen die von Hitler proklamierte „Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa“ schärfte er ein: „Antisemitismus ist Sünde gegen den heiligen Geist“ – eine Feststellung, die man so auch außerhalb Deutschlands selten oder gar nicht hörte. Berühmtheit erlangte Barths Brief an den Prager Professor Hromádka vom 19. September 1938, in dem der – auch die Freunde in Deutschland schockierende – Satz zu lesen war, daß jetzt jeder tschechische Soldat zugleich für die Kirche Jesu Christi streite. Als während des zweiten Weltkrieges von der besorgten Schweizer Bundesregierung im einzelnen erwogen wurde, Barths Publikationsmöglichkeiten einzuschränken, hat die Basler Kantonsregierung dagegen öffentlich protestiert und so dafür Sorge getragen, daß Barth während des Krieges zum „Seelsorger unterdrückter Völker und zum Gewissen der Christenheit“ (G. Gloege) werden konnte.
Er ist es auch nach dem Ende des Krieges geblieben, als er sich für die geschlagenen Deutschen, aber gegen deren Wiederbewaffnung und gegen einen blinden Antikommunismus einsetzte. Mit seinen Warnungen wurde er erneut zum Stein des Anstoßes. Die geplante Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels wurde durch den damaligen Bundespräsidenten Theodor Heuss verhindert. Daß Barths (ihm oft zum Vorwurf gemachtes) Schweigen über die Zustände in den östlichen „Volksdemokratien“ nur die andere Seite mehrerer Interventionen zugunsten dort lebender Menschen war, hat er wohlweislich nicht an die große Glocke gehängt.
15
Die Hauptaufgabe des „späten Barth“, der er wohl oder übel geworden war, blieb indessen die Fortsetzung der „Kirchlichen Dogmatik“, die zunächst als Vorlesung den Studenten mitgeteilt und dann in unregelmäßigen Abständen gedruckt wurde – begleitet von einer Reihe kleinerer programmatischer Schriften. Die Konzentration auf die Basler Lehrtätigkeit machte die Studierenden zu seinen Nächsten, ohne die er sich seine Existenz als Lehrer der Kirche nicht gut vorstellen konnte. Daß immer weniger von ihnen bereit waren, das umfangreiche Werk Barths gründlich zu studieren, schmerzte ihn um so mehr, als er sich noch immer als einen der eigenen Zeit vorausdenkenden Theologen verstand. Seine Dogmatik hat das theologische Erbe von Jahrhunderten nicht nur weiterüberliefert, sondern an vielen für die christliche Lehre entscheidenden Stellen tiefgreifend umgestaltet, ja revolutioniert.
Das Bekenntnis zum dreieinigen Gott war der für Struktur und Inhalt der Dogmatik bestimmende Ausgangspunkt, an dem deutlich werden sollte, daß Gott schon für sich selbst kein einsames Wesen, vielmehr als Vater, Sohn und heiliger Geist ein auf sich selbst in Freiheit und Liebe bezogenes Gemeinschaftswesen ist. Als der in Freiheit Liebende und in seiner Liebe Ewigreiche wird Gott von Barth in allen Teilen der Dogmatik zur Sprache gebracht. Als der in Freiheit Liebende ist er von Ewigkeit her dem Menschen zugewendet, um dessentwillen er die Welt geschaffen hat und für den er selber in Jesus Christus Mensch geworden ist, um so den geliebten Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unfreiheit und Verdammnis zu erlösen. Hieß es beim „jungen Barth“ einst abweisend „Gott ist Gott“, so trat nun die „Menschlichkeit Gottes“ in das Zentrum der Barthschen Theologie. Galt früher der großen Kluft zwischen dem Reich Gottes und den Reichen dieser Welt die theologische Aufmerksamkeit, so behauptete Barth jetzt, daß es zwischen Gott und Mensch und so auch zwischen dem alleine von Gott herbeizuführenden Reich Gottes und den von uns zu bauenden und zu verantwortenden politischen Reichen eine echte Entsprechung, eine Analogie gebe. Der Mensch kann und soll als Gemeinschaftswesen dem dreieinigen Gott entsprechen.
Dementsprechend wurde die im Luthertum übliche Rede von „Gesetz und Evangelium“ umgekehrt: vom Ja des Evangeliums her sollte das Gesetz Gottes als ethische Weisung und als Nein zur menschlichen Sünde verstanden werden. Das ganze Gewicht der menschlichen Sünde wird nach Barth erst da erkannt, wo Sünden vergeben werden. Daß dies in Jesu Tod schon in universaler Gültigkeit geschehen, also die ganze Welt als bereits mit Gott versöhnte Schöpfung anzusprechen ist, wurde für Barth immer entscheidender. Nicht erst die Kirche mit ihrer Predigt und den Sakramenten und auch nicht erst der Glaube, sondern allein Jesus Christus selbst ist die Wende der Weltgeschichte und der Lebensgeschichte jedes einzelnen Menschen zum Heil. Diese Einsicht brachte Barth gegen Rudolf Bultmanns viel beachtetes und beredetes Programm einer – scheinbar den Glauben zum A und O machenden – „existentialen Interpretation“ des Neuen Testaments ebenso zur Geltung wie gegen das Übergewicht, das im Katholizismus der Kirche zugemessen wurde.
16
Um so erstaunlicher ist es, daß Barths Dogmatik immer stärker ökumenische Beachtung fand. Unter der kleinen seiner Theologie geltenden Bibliothek, die allmählich entstanden war, fanden sich zunehmend katholische Bücher von Gewicht; Nicht nur im Weltrat der Kirchen zu Genf, auch im Vatikan wurde Barth respektiert und wurden seine Vorschläge zur Erneuerung des Lebens der Kirche wohl erwogen. Nach dem „Zweiten Vatikanischen Konzil“ wurde er sogar von Papst Paul VI. empfangen. Und Barths Versicherung „Der Papst ist nicht der Antichrist!“ war nicht nur eine humorvolle, sondern eine bei allem Humor – Barth verstand befreiend zu lachen, wie ich es so nie wieder erlebt habe – sehr ernst gemeinte Revision der gegenteiligen Äußerungen Luthers. Barth ist, ohne aufzuhören ein pointierter Protestant zu sein, zum Vater der ökumenischen Theologie geworden.
Sein Blick ist denn auch in den letzten Lebensjahren stärker in die Zukunft als in die Vergangenheit gerichtet gewesen. Nach seiner Emeritierung im Jahre 1962 brach er zwar seine Arbeit an der „Kirchlichen Dogmatik“ ab, setzte aber, von bedrohlichen Erkrankungen mehrfach unterbrochen, seine Lehrtätigkeit in Gestalt kleinerer Kolloquien fort. Er hielt nun vermehrt Ausschau nach jüngeren Theologen, die das, was er gewollt und ausgerichtet hat, „in erneuerter Gestalt auf der ganzen Linie besser machen“. Doch nur zuoft blieb ihm nichts anderes übrig, als „zu seufzen und zu lachen über das, was in der heutigen Theologie links und rechts vor sich geht“. Mit der noch einmal die Kirche herausfordernden Lehre von der Taufe, in der die Kindertaufe in Frage gestellt wurde, und mit einer letzten Veröffentlichung über sein Verhältnis zu Schleiermacher verabschiedete sich Barth von der lesenden Welt. In der Nacht vom 9. zum 10. Dezember 1968 ist er in seinem Basler Haus friedlich entschlafen.
17
Die Wirkung Karl Barths ist bis jetzt noch nicht absehbar. Den „ewigreichen Gott“ einer zwar subjektiv, aber niemals objektiv gottlosen Welt zu bezeugen, war das erklärte Ziel seines Wirkens. Dabei wußte er, daß es dem Reichtum Gottes nicht widerspricht, wenn seine menschlichen Zeugen am Ende seufzende und stammelnde, gerade so aber menschliche Menschen sind. In dem kleinen Seufzer, so hat er einmal bemerkt, „mit dem wir zu Gott sagen: Ach, ja!… steckt Alles und Alles muß auch immer wieder zu diesem kleinen Seufzer werden“. Vielleicht wird sich gerade das als die eigentliche Wirkung Barths erweisen, daß er mit seinem gewaltigen theologischen Werk die Christenheit nur eben dies gelehrt hat, auf lautere Weise beides zu sagen: ein sich dem Geheimnis der Gnade Gottes anvertrauendes Ach und ein über die große Liebe Gottes staunendes und ihr auf menschliche Weise entsprechendes entschiedenes Ja.
Literaturhinweise:
Busch, Eberhard: Karl Barths Lebenslauf. Nach seinen Briefen und autobiographischen Texten, 4. Aufl., München 1986.
Jüngel, Eberhard: Barth-Studien, Zürich-Köln/Gütersloh 1982 (Ökumenische Theologie 9).
Quelle: Klaus Scholder/Dieter Kleinmann (Hrsg.), Protestanten von Martin Luther bis Dietrich Bonhoeffer. Portraits, Frankfurt am Main: Anton Hain, 21992, S. 337-352.