Rudolf Bultmann gegen Denunziantentum und Diffamierung der Juden (1933): „Ich muss als Christ das Unrecht beklagen, das gerade auch den deutschen Juden durch solche Diffamierung angetan wird. Ich weiß wohl, wie kompliziert das Judenproblem gerade in Deutschland ist. Aber »Wir wollen die Lüge ausmerzen« – so muss ich denn ehrlich sagen, dass gerade die Diffamierung der Juden, die jene Kundgebung enthält, aus der dieses schöne Gelöbnis stammt, nicht vom Geiste der Liebe getragen ist.“

Gegen Denunziantentum und Diffamierung der Juden

Von Rudolf Bultmann

… M. D. u. H.! Wir wollten uns angesichts der großen Möglichkeiten, die uns gerade jetzt erschlossen sind, unsere Verantwortung klar machen, so wie sie uns aus der kriti­schen Kraft des christlichen Glaubens deutlich wird. Wir verschließen unseren Blick nicht dagegen, daß mit den Möglichkeiten auch die Versuchungen gegeben sind; ja, es ist unsere Pflicht als Theologen, gerade darauf hinzuweisen, damit die Freude am Neuen rein und der Glaube an die neuen Möglichkeiten ehrlich sei.

Werden wir uns die Kraft des kritischen Blicks erhalten und den Versuchungen nicht erliegen? Daß wir mit reinen Händen an Deutschlands Zukunft mitarbeiten und ehr­lich an diese Zukunft glauben? Muß ich erst darauf hinweisen, daß in dieser entschei­dungsvollen Zeit auch die Dämonie der Sünde auf der Lauer liegt? »Wir wollen die Lüge ausmerzen« lautet ein schöner und großer Satz in der Kundgebung der deut­schen Studentenschaft. Zur Lüge gehört es auch, sich die Wahrheit zu verschleiern. Und ich will offen an drei Beispielen zeigen, welche Verantwortung wir als Kämpfer für das neue Deutschland diesen Versuchungen gegenüber haben; an den Beispielen der »Vorschußlorbeeren«, des Denunziantentums und des Kampfesmittels der Diffa­mierung.

Das erste Beispiel ist verhältnismäßig harmlos. Wenn Ad. Hitler in einem sehr erfreu­lichen Erlaß mahnte, alte Namen von Straßen und Plätzen nicht zu ändern, so mußte sich die neue Marburger Stadtverordneten-Versammlung doch beschämen lassen, die in ihrer ersten Sitzung keine dringlichere Pflicht der neuen Zeit erkannte, als einigen Straßen und Plätzen neue Namen zu geben. Die Sache ist jedoch nicht so harmlos, wie sie auf den ersten Blick aussieht. Denn durch solches Verfahren, Vorschußlorbeeren zu verteilen, nährt man ein eigentümliches Gefühl der Sicherheit, das nicht mit dem Glauben an die Zukunft zu verwechseln ist. Denn der Glaube schließt Ernst ein, und der Ernst weiß, was Ad. Hitler in seiner Rede gestern wieder betonte, daß wir erst am Anfang stehen, und daß noch unendlich viel von uns gefordert ist an geduldi­ger Arbeit und klarer Opferbereitschaft. Und ich brauche kaum darauf hinzuweisen, daß jene leichtsinnige Sicherheit am schnellsten umschlägt in Enttäuschung, wenn die Führung Opfer verlangt. Der Versuchung des Leichtsinns gegenüber haben wir den Ernst der Aufgabe einzuschärfen.

Das zweite Beispiel ist schlimmer, und die wiederholten Kundgebungen der Regie­rung gegen das Denunziantentum zeigen, welche Gefahr hier besteht. Ich weiß, daß z. B. der Kultusminister täglich Körbe voll Denunziationen erhält; ich weiß zum Glück auch, daß sie in die verdienten Papierkörbe wandern. Aber es liegt dabei nicht nur an dem etwaigen Erfolg der Denunziationen; sondern das Schlimmste ist dieses, daß solches Denunziantentum die Atmosphäre vergiftet, Mißtrauen zwischen den Volksgenossen stiftet und das freie und ehrliche Wort des Mannes unterdrückt. »Wir wollen die Lüge ausmerzen«, — dazu gehört auch, daß man das freie Wort ehrt, auch dann, wenn es anders lautet, als man zu hören wünscht. Denn sonst erzieht man zur Lüge.

Das führt uns schon auf das Dritte. Die Diffamierung anders Denkender ist kein edles Kampfmittel. Und wieder darf ich mich auf das Wort Ad. Hitlers berufen, daß die anders Denkenden nicht unterdrückt, sondern gewonnen werden sollen. Durch Dif­famierung überzeugt und gewinnt man nicht, sondern man stößt die besten der Geg­ner ab. Man gewinnt durch den Kampf des Geistes, in dem man den Gegner ehrt. Ich muß als Christ das Unrecht beklagen, das gerade auch den deutschen Juden durch solche Diffamierung angetan wird. Ich weiß wohl, wie kompliziert das Judenproblem gerade in Deutschland ist. Aber »Wir wollen die Lüge ausmerzen« – so muß ich denn ehrlich sagen, daß gerade die Diffamierung der Juden, die jene Kundgebung enthält, aus der dieses schöne Gelöbnis stammt, nicht vom Geiste der Liebe getragen ist. Hal­ten Sie den Kampf für das deutsche Volkstum rein, und sorgen Sie dafür, daß edles Wollen für Wahrheit und Deutschtum nicht durch dämonische Verzerrung entstellt wird!

Aber noch ein Letztes ist endlich zu sagen. Haben wir Sinn und Forderung des christ­lichen Glaubens richtig verstanden, so ist allerdings angesichts der Stimmen der Ge­genwart klar, daß dieser christliche Glaube selbst in Frage gestellt ist; m. a. W. daß wir uns zu entscheiden haben, ob christlicher Glaube für uns Geltung haben soll oder nicht. Er kann von seinem Wesen und Anspruch nichts preisgeben; denn »Verbum Domini manet in Aeternum«. Und vor Verfälschungen des Glaubens durch eine völ­kische Religiosität sollen wir uns ehrlicherweise ebenso hüten wie vor einer Verfäl­schung des völkischen Glaubens durch christlichen Aufputz. Es gilt: Entweder-Oder!

Die kurzen Worte dieser Stunde können an diese Entscheidung nur erinnern. Aber die Arbeit des Semesters wird die Entscheidungsfrage immer wieder zum Bewußtsein bringen und klären, damit die Entscheidung klar und gewissenhaft gefällt werden kann.

(Rudolf Bultmann in: Theologische Blätter, Jg. 12 (1933), Nr. 6, Sp. 165f.)

Quelle: Günther van Norden, Der deutsche Protestantismus im Jahr der nationalsozialistischen Machtergreifung, Gütersloh: GVH, 1979, S. 339-341.

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