Gebot und Gewissen im evangelischen Verständnis
Von Wolf Krötke
»Mein Gewissen bleibt gefangen in Gottes Wort … Widerrufen kann und will ich nichts, weil es weder sicher noch geraten ist, etwas gegen sein Gewissen zu tun. Gott helfe mit, Amen.« So schließt Martin Luthers Verteidigungsrede am 18. April 1521 auf dem Reichstag von Worms.
Diese Worte, die in einer geschichtsträchtigen Entscheidungssituation gesprochen wurden, bringen für viele »das Protestantische« schlechthin zum Ausdruck. Der Protestant ist seinem Gewissen verpflichtet und nicht einer äußeren Autorität. Er behält sich das Recht vor, in seinem Glauben an Gott selbst zu urteilen, was wahr und falsch, was gut und böse ist. Er ist vor Gott unvertretbar für sich selbst verantwortlich. Er hat die Freiheit zu dieser Verantwortlichkeit und kann sie an niemand anders delegieren: nicht an die Kirche, nicht an Konzilien, nicht an den Staat und nicht an die öffentliche Meinung.
Man hat den Protestantismus darum eine »Gewissensreligion genannt. Das will sagen, sein Wesen ist die Freiheit des Individuums nicht nur in Glaubensfragen, sondern letztlich auch in politischer Hinsicht. Auf dem Boden einer solchen Gewissenreligion kann die Kirche nur auf der Basis der Freiheit aller gestaltet werden. Manche meinen, daß der Protestantismus darum auch als die Geburtsstätte der Idee einer neuzeitlichen, pluralistischen Gesell schaft angesehen werden muß, die auf der individuellen Freiheit aller beruht.
Doch das Wort von der »Gewissenreligion« ist mißverständlich, solange nicht eindeutig geklärt ist, was unter Gewissen zu verstehen ist. Es gibt eine antike Tradition, die auch von der christlichen Theologie aufgenommen wurde, nach der das Gewissen als eine »Stimme Gottes« in uns verstanden wurde. Das würde bedeuten, das Gewissen schreibt jedem Menschen mit göttlicher Autorität vor, wie er sich zu verhalten hat und wie die Anforderungen an das menschliche Tun zu bewerten sind. Menschen haben nur auf sich selbst zu hören, wenn sie Gottes Gebot vernehmen wollen. Sie sind keinerlei äußerer Instanz unterworfen. Das Problem, daß dieses Verständnis des Gewissens schafft, ist klar. Die Willkür des eigenen Urteilens ist dann gar nicht mehr klar von dem Gebot Gottes zu unterscheiden, das allen Menschen gilt. Im Extremfall kann es dazu kommen, daß sich selbst ein Verbrecher wie Adolf Hitler auf Luther beruft, weil auch er nur der Stimme seines Gewissen, dem »Gott in uns«, gefolgt sei.
Luthers Verständnis des Gewissens beruht im Unterschied dazu auf der Voraussetzung, daß Menschen von außerhalb ihrer selbst begründet, angesprochen und verpflichtet sind. Gott macht sie als Schöpfer zu dem, was sie sind. Er spricht ihnen im Evangelium die Würde bejahter Personen trotz ihrer Sünde zu. Er verpflichtet sie mit seinem Gebot zu einem Handeln, das seinem Willen gemäß ist. Das Gewissen aber meldet dem Menschen, das er in seinem Verhalten und Tun dem Gebot Gottes nicht entspricht. Es tritt als psychische Beunruhigung auf, die anzeigt, daß mit diesem Tun und Verhalten etwas nicht in Ordnung ist.
Es ist insofern keine Instanz im Menschen, die ihm sagt, was er tun soll. Es bezeugt ihm vielmehr im Verhältnis zu Gott die Qualität seiner Tat. Luther hat das Gewissen darum eine »Urteilskraft« genannt. Es urteilt über die Person als Täter, besser: es verurteilt sie. Denn es tritt als aktuelle, bedrohliche Beunruhigung nur auf, wenn das Tun problematisch ist und den Menschen mit sich selbst zu entzweien droht. Es ist also wesentlich das sogenannte schlechte Gewissen der sündigen Menschen, die mit Gott und mit sich selbst in Widerspruch geraten.
Ein »gutes Gewissen« dagegen ist das Schweigen des den Sünder beunruhigenden und umtreibenden Gewissens. Der Volksmund sagt nicht zu Unrecht, es sei »ein Ruhekissen«. Es hat nichts Bedrohliches zu sagen, wobei gerade die Tatsache, daß es in dieser Hinsicht schweigt, für die, welche den Gewissenruf kennen, aussagekräftig ist. Das Gewissen wird beruhigt, ja »getröstet«, wenn Gott den Menschen trotz seiner Selbstverurteilung durch das Gewissen bejaht. Dann ist er frei von der Sünde und frei dazu, in Selbstgewißheit das Rechte zu tun. Das Gewissen ist hier nur insofern im Spiel, als Menschen sich vorgreifend vorzustellen vermögen, daß ihr Gewissen sie verurteilen würde, wenn sie gegen das handeln, was ihnen im Glauben als Gottes Wille gewiß ist.
Die Warnung vor der zu erwartenden Verletzung des Gewissens weist allerdings daraufhin, daß Menschen auch im Glauben Sünder bleiben. Sie sind in der Gefahr, die Freiheit des Handelns jederzeit zu mißbrauchen und gegen Gottes Gebot zu handeln. Für diese Gefahr macht das Gewissen sensibel.
Das ist allerdings nicht so zu verstehen, als versetze das Gewissen Menschen ständig in Angst, etwas Falsches zu tun. Ein solches Angst- oder Schuldgewissen, mit dem der Mensch sich selbst unterdrückt, wird nach Friedrich Nietzsche und Sigmund Freud durch die Verinnerlichung autoritärer gesellschaftlicher Normen erzeugt. Es bewirkt das Gegenteil von Freiheit und Verantwortlichkeit. Darum ist entscheidend, daß sich das Gewissen, das der Menschlichkeit von Menschen zugute kommt, überhaupt nur aufgrund der Erfahrung eines grundlegenden Bejahtseins und Geliebtseins ausbildet.
Ein ungeliebter und liebesunfähiger Mensch steht der Ausbildung eines Gewissens selbst im Wege. Darin sind sich Theologie und Psychologie heute weitgehend einig.
Die evangelische Theologie aber versteht die Erfahrung der Liebe Gottes als den ständig neuen Wurzelgrund des Gewissens. Diese grundlegende Erfahrung macht Menschen fähig, auf die Verletzungen der Liebe zu reagieren. Spricht das Gewissen, indem es diese Verletzungen anzeigt, dann ruft es Menschen dazu auf, eine Ordnung der Liebe und der Bejahung zwischen den Menschen als Sache des eigenen Selbstseins, der eigenen Verantwortung und der eigenen Entscheidung zu begreifen. Im Gewissen ist jeder er selbst und von niemand anders zu vertreten. Aber der Handlungsdruck, der vom Gewissen ausgeht, hat doch die Tendenz, dem Gebot Gottes für alle Geltung zu verschaffen, das Jesus als die Summe des Gebotes Gottes verstanden hat: Gott und den Nächsten zu lieben wie sich selbst (vgl. Matthäus 22,37-39). Insofern hängen die Stimme des Gewissens und Gottes Gebot doch eng zusammen, so daß es in der Tat »weder sicher noch geraten ist, etwas gegen sein Gewissen zu tun«.
Quelle: Michael Meyer-Blanck/Walter Fürst (Hrsg.), Typisch katholisch – typisch evangelisch. Ein Leitfaden für die Ökumene im Alltag, Rheinbach: CMZ, 2003, S. 280-283.